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Träumen erwünscht
„Was tust du hier?“
Eigentlich war es eine Disco, irgendwie aber auch wieder nicht. Früher war es irgendeine Lagerhalle oder so, die dann irgendwann zu einer Disco umfunktioniert wurde. Viel zu hohe Decken für eine Disco.
Ich war noch im Eingangsbereich, kurz hinter der Kasse. Selbst hier ließ einem der Bass die Knie vibrieren. Irgendjemand hatte mich an den Schultern gepackt, während ich versuchte mich durch bebende Körper vorwärts zu schieben, und schrie mir ins Ohr. Aber es war viel zu laut um mein Ohr herum und von dem Satz kam nur unverständlicher Wortbrei bei mir an.
Ich drehte mich um. Ich kannte das Gesicht. Es hatte keinen Sinn zu schreien, er würde es eh nicht verstehen. Ich formte „was?“ deutlich mit meinen Lippen.
Er ließ meine Schultern los und umfasste meinen Kopf, so als wollte er mich küssen. Ganz nah mit seinem Gesicht an meinem. Er sprach deutlich, und ich verstand.
„Was zur Hölle noch mal tust du hier?“
Was ich hier tue? Ich will ein bisschen den Kopf freikriegen, ich will Was trinken, ein bisschen flirten. Ich will mir mal ein paar Stunden keine Sorgen machen und vergessen, warum ich eigentlich nicht hier sein sollte.
Draußen war es saukalt. Also hatte ich mich entsprechend angezogen. Hier drinnen war es aber richtig warm. Zu warm für ein schwere Lederjacke.
Hinter dem Tresen am Eingang stand ein Mädchen aus meiner Klasse. Genauer gesagt das Mädchen aus meiner Klasse. Ich ging zu ihr. Er blieb hinter mir. Sie umarmte mich, ihr Körper drückte sich sachte an meinen, mein Gesicht fiel in ihr langes Haar. Ich roch den Duft ihres Haares, ihren Duft. Ich fühlte ihre Arme um meine Schultern, ich fühlte meine Arme um ihre Taille. Sie haucht mir ein „hi“ ins Ohr, ich hauchte zurück.
Ich liebe Das.
Sie drückte mir einen Stempel auf den Handrücken. Ich gab ihr meine Jacke, dann zog ich sie noch einmal zu mir her.
„Wie lange musst du noch hinter der Kasse bleiben?“
Bei dieser Musiklautstärke konnte man sich, wenn überhaupt, nur dann unterhalten, wenn man den Mund direkt am Ohr des Gegenüber hatte. In die Augen konnte man sich dabei nicht sehen. Manchmal war das ganz praktisch, aber im Moment fand ich das ziemlich schade.
„Noch eine Stunde. Wo find’ ich dich dann?“
„An der oberen Bar.“
„Hörst du mir überhaupt zu?“ Er wurde sauer.
Ich schob mich langsam an schwitzenden Menschen vorbei in die Disco hinein.
„Jaja.“
„Ich mach keinen Scheiß Mann, was tust du hier?“
Jetzt reicht’s mir. Ich drehte mich zu ihm um.
„Was ist los mit dir? Das, genau das ist der beste Moment meinen Kopf freizukriegen, mich mal abzulenken.“
„Glaubst du das selbst? Kannst du einfach so tun als wäre nichts?“
„Soll ich mich in meinen Keller verkriechen und heulen?“
Eigentlich sollte ich genau das tun.
Er schüttelte den Kopf. Es sah nicht wütend aus, eher resignierend. Er wollte so etwas sagen wie „na dann eben nicht“ oder „mach doch was du willst“ aber er tat es nicht. Wir standen ein paar Sekunden da und starrten uns an. Dann winkte er ab und ging an mir vorbei in Richtung Bar.
Man kann’s auch übertreiben.
Hey, Lifemusik. Davon wusste ich gar nichts. Weit, weit vor mir, praktisch am anderen Ende des Gebäudes rannte ein Sänger um seine 3 Musiker und gab Geräusche von sich, die mich schwer an irgendein Lied erinnerten. Es lag mir auf der Zunge, ich sang leise den Text vor mich hin, aber ich kam nicht auf den Namen von dem Lied. Auch egal.
Links vor mir war die erste Bar. Gott, wie ich mich nach einem Drink sehnte. Eigentlich waren es nur ein paar Meter bis zu meinem Drink, aber sie waren mit viel zu vielen Menschen für eben jene, diese wenigen Meter voll gestopft.
Was soll’s.
Egal in welche Richtung ich hätte gehen wollen, dass Gedränge war nach allen Seiten gleich, ich war schon mittendrin. Also der Drink. Ich schob mich Richtung Bar.
Vor mir ein bekanntes Gesicht. Besser gesagt, ein bekannter Hinterkopf. Aber ich wusste zu wem dieser Hinterkopf, diese leuchtend rosa Frisur gehörte. Ich stieß sie sachte in die Seite. Eigentlich hatte ich eine andere Reaktion erwartet. Als sie mich sah, riss sie ungläubig die Augen auf und öffnete ihren Mund zu irgendeiner entrüsteten Anklage gegen mich. Aber sie sagte nichts. Oder ich hörte es nicht. Ihre weit aufgerissenen Augen, die zuerst eine gewisse Überraschung ausdrückten, wandelten sich, als ihr die Worte praktisch im Halse stecken blieben, zu zwei kleinen, besorgt funkelnden Sternen irgendwo am anderen Ende eines Universums aus zu lauter Musik. Urplötzlich schlang sie ihre Arme um mich, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen irgendwas Alkoholisches.
„Es tut mir so Leid, es tut mir ja so Leid für dich!“ Ich weiß nicht, wie laut sie es sagte, aber in meinem Ohr, dem sie mit ihrem Mund ganz nahe war, kam es als Flüstern an. Ich zielte auf ihr Ohr.
„Ich weiß das zu schätzen, aber heute Abend bin ich nicht hier um bedauern zu lassen.“
„Was?“
„Ich will einfach die paar Stunden mal nicht dran denken, ich will meinen Kopf freikriegen, ok?“
Sie sah mir kurz in die Augen und nickte, dann lächelte sie, aber es war aufgesetzt. Ich zog sie noch mal zu mir.
„Noch was: Wieso wissen eigentlich alle was los ist?“
„So wie das abgelaufen ist, müssen es doch alle wissen. Ich meine…“
„Was?“
„Wie konnte das passieren? Wieso… ich verstehe es nicht, und ich verstehe auch nicht wie du es schaffst so zu reagieren, ich meine… ich… an deiner Stelle…“
„Komm schon, tu mir den Gefallen. Ich will ganz einfach nicht darüber reden, nur mal heute Abend, nur die paar Stunden. Tun wir einfach so als wäre nichts.“
„Könntest du das denn?“
Ich musste mich heftig bemühen nicht genervt oder feindselig zu klingen. Sie konnte ja nichts dafür. Ich hätte auch nachgefragt.
„Nun, wie’s aussieht kann ich’s, oder? Wo sind die anderen?“
„Ich hab vorhin ein paar vorne bei der Bühne gesehen. Aber…“
„Was aber?“
„Die werden dich alle das Selbe fragen wie ich.“
Zum Kotzen. Naja, eigentlich machten sie sich alle nur Sorgen um mich, was mich auch beruhigte, aber ich konnte es einfach nicht mehr hören. Nicht heute Abend.
„Das werd’ ich schon schaffen. Tust du mir einen Gefallen?
„Ja?“
„Hol mir bitte was zu trinken.“
Sie lächelte mich an.
„Was darf’s denn sein?“
Irgendetwas an ihr, an ihrer Art war einfach atemberaubend. Sie war nicht die Frau in die man sich verliebte, was nicht negativ gemeint ist, sie war einfach ein Kumpel, mit jeder Faser ihres Körpers. Ich hatte noch nie gesehen, wie sie sich mit irgendjemand gestritten hatte. Egal worum es ging, man konnte immer zu ihr kommen, und sie hörte immer zu, solange es eben sein musste. Sie war die ehrlichste Person die ich kannte. Allein ihre Ausstrahlung wenn sie einen Raum betrat, konnte einem die Laune heben.
„Überrasch mich.“
Sie ließ ihr kindlich klingendes „ok“ hören und begann sich vorwärts zu schieben.
Ein wunderbarer Mensch, und für meinen Drink war auch gesorgt. Es würde aber wohl noch eine ganze Weile dauern, bis ich ihn bekommen würde.
Egal. Ich machte mich auf den Weg nach vorne, wo die anderen Leute aus meiner Klasse waren.
Die verschieden Bars, die in der Disco scheinbar systemlos verteilt waren, wurden von normalen Neonröhren ausgeleuchtet. Sie bildeten kleine, helle Inseln in den wilden Wogen des Lichtes der vielen Spots, die an der Decke verteilt waren. Zigarettenrauch verschleierte die Luft, der Strahl eines Spots war von seinem Ursprung bis hin zu der Fläche, auf der er auftraf zu sehen. Einige davon schienen miteinander zu tanzen, wie sie sich so verloren umeinander bewegten, andere jagten oder bekämpften sich und boten ein schnelles Wechselspiel von Farben dar, weit über dem Meer aus bebenden, schwitzenden Körpern, die ihnen scheinbar bedurften. Wie bizarr diese Szene doch wirken würde, würde man alles mit unbewegtem, weißem Licht ausleuchten.
Je näher man der Bühne kam, umso wilder wurde die Masse um mich. Ich wusste nicht, wie lange ich mich schon nach vorne schob. Ich erkannte jemanden aus meiner Klasse. Freund und Freundin. Sie tanzten ziemlich ausgelassen miteinander.
Er sah mich zuerst und erstarrte mitten in seiner Bewegung. Sie schaute ihn an, wohl völlig irritiert durch sein plötzliches Vereisen. Nach einem kurzen Moment völliger Bewegungslosigkeit, die durch ihre Vollkommenheit auf Alles überzugehen schien, folgte sie mit ihrem Blick Seinem, der an mir festklebte.
Ich rannte auf die Beiden zu, so gut es eben ging und machte mit meinen Händen beschwichtigende Gesten.
„Schon ok, schon ok.“
Es war völlig sinnlos. Als ich die beiden erreichte, wich sie sogar ein wenig zurück, als würde sie nicht glauben wollen, was sie gerade sah. Sein Mund klappte nach unten.
„Was…“
„Hey, beruhig euch!“
„Beruhigen?“ Sie war völlig außer sich, ihre Stimmer klang hysterisch. „Wieso… wieso bist du hier? Jetzt, in einer Disco? Wie…“
Die Hysterie war verflogen. Ihre Stimmer fiel in sich zusammen, pure Besorgnis sprach aus ihr.
„Weil ich…“ Ich musste eine Pause machen. Ich wusste nicht mehr was ich sagen wollte. Eigentlich das Selbe wie die beiden Male vorhin. Aber ich hatte den Faden verloren. Keine Ahnung warum. Ich war mir sicher als ich her kam, warum ich her kam. Jetzt stockte ich. Ich flehte mich selbst an, verfall nicht ins Grübeln, tu dir das nicht an. Nicht drüber nachdenken.
„Weil ich meinen Kopf freikriegen muss.“
„Deinen Kopf freikriegen?“
„Ja, ich muss mich ablenken. Mich in eine Ecke verkriechen und jammern kann ich immer noch. Ich will nur ein paar Stunden mal über nichts nachdenken.“
Er wollte den Mund aufmachen und irgendetwas sagen, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. Ich hatte keine Lust auf Diskussionen.
„Nur ein paar Stunden nicht darüber nachdenken, ok?“
Er stand nur da und starrte mich an, mit dem gleichen, ungläubigen Blick als ich gekommen war. Sie kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. Ich ließ die mitleidige Szene über mich ergehen.
„Ok. Nicht dran denken. Ok. Wenn aber irgendwas ist, ich meine… du weißt schon, dann komm zu uns, wir sind da. Ok?“
„Ja, ok. Danke. Aber machen wir nichts schlimmer als es ist.“
Von da an ging es bergauf. Zwar musste ich mich noch ein paar Mal wiederholen, aber als mein Drink kam wussten alle, die mich hier kannten, was los war und ich kam endlich zu meinen Abend. Ich kam mir vor, als würde ich gerade erst jetzt entdecken, wie gut dieses ganze Gesöff schmeckte, wie berauschend es sein konnte, wenn man zuließ, dass sein Körper von den Bassvibrationen mitgerissen wurde, wenn man sich den Wogen des Meeres ergab.
Ich tanzte mich zu oberen Bar, wo sie schon auf mich wartete. Sie schwitze, wie jeder in diesem Laden. Wir tranken was zusammen, dann ging’s zurück zur Tanzfläche.
Ich hätte nicht sagen können, wie weit wir zwei miteinander waren und wollte daher nichts Überstürztes tun. Ich wollte die Pietät wahren, einen gewissen Abstand zu ihrer Intimsphäre. Ihr gezielter Blick traf meinen, sie schlang ihre Arme um mich, weitaus heftiger und enger als bei der Begrüßung und ich wusste, wie weit wir waren. Ich musste über den kleinen Feigling in mir lachen, der mir versucht hatte einzureden, nicht zu weit zu gehen. Dabei war schon alles ‚weit’.
Ich spürte die Wärme ihrer Haut, die Elektrizität ihrer Bewegungen durchfloss mich, die Magie ihrer Blicke verzauberte mich, ich Duft erfüllte meine ganze Wahrnehmung.
Die Zeit, die Bewegung, das Universum, die Unendlichkeit war nur für uns beide da. Die Wellen um uns flossen nur für sie, um ihrer Vollkommenheit einen würdigen Rahmen zu schenken. Ich fühlte ihren bebenden Körper mit jeder Faser.
Irgendwann fand ich mich unter einem makellosen Sternenhimmel wieder, dessen viele kleine Bewohner mir zulächelten. Mein Atem gefror zu einer kleinen Wolke, stieg mit einer anderen kleinen Eiswolke tanzend in den Himmel hinauf. Irgendwo weit weg wummerte Musik gegen Wände.
Die Finger ihrer Hand berührten meine, spielten damit. Ihre Lippen kamen meinen ganz nah, ein unbeschreibliches Glühen durchfuhr mich. Ich drückte sie fester an mich. Und die Sterne schenkten zwei weit entfernten, und doch so nahen, tanzenden Herzen ihr warmes Licht.
Gerade war die Sonne aufgegangen. Ich stehe im Eingangsbereich, sie will noch jemanden suchen um sich zu verabschieden, als mein Handy in meiner Tasche vibriert. Merkwürdig, so früh morgens. Ich gehe nach draußen, die Kälte legt sich angenehm auf mein erhitztes Gesicht. Und da steht er.
Nein. Nicht jetzt. Nein, nicht.
In seiner Hand kalter Stahl. Auf mich gerichtet.
Nein, nicht jetzt!
Ein Feuerstrahl.
Und ich denke an dich.
Nein, noch nicht!