Trödler
Wie üblich erreichte ich mein Ziel zu spät. Der Zug war bereits abgefahren.
Ich war ein Trödler, ich hielt es mit der Zeit nicht so genau. Immer gab es etwas, das mich auf meinem Weg aufhielt und ich ließ mich gern aufhalten. Ich kam zu spät, so oft kam ich zu spät. Wie oft mußte ich mir den Vorwurf der Unpünktlichkeit vorwerfen lassen. Ich hatte auch keine hübschen Argumente zur Hand, die mein Verhalten in ein etwas milderes Licht gerückt hätten, ich wußte nicht, wie ich mich verteidigen konnte. Mir machte das ja nichts aus. Kam ich einmal nicht rechtzeitig an, so versuchte ich es eben ein anderes Mal. Fuhr mir ein Zug vor der Nase weg, nahm ich den nächsten und wenn ich auch den nicht bekam, wieder den nächsten. Wenn ein Geschäft schon geschlossen hatte und ich kein Brot mehr kaufen konnte, aß ich an einer Imbissbude eine Kleinigkeit. So verlief mein Leben in für mich geordneten Bahnen. Ja, ich empfand es als abwechslungsreich und viele unerwartete Ereignisse zwangen mich zu flexiblem Handeln. Aber das wurde nicht anerkannt.
Es sprach sich herum, daß ich ein Trödler war, unpünktlich, nicht verläßlich, man begann mich zu meiden. Ich wurde kaum noch eingeladen.
Dann lernte ich eine Frau kennen, die hübscheste Frau der Welt. Wir waren uns durch Zufall begegnet. Sie hatte, wie ich, den letzten Bus nicht mehr rechtzeitig erreicht. Wir kamen ins Gespräch und da es eine warme Sommernacht war begleitete ich sie zu Fuß bis zu ihrer Wohnung, die gar nicht mal so weit von meiner entfernt war. Wir unterhielten uns ausgezeichnet, sie mochte dasselbe Essen wie ich, las dieselben Bücher wie ich und hatte auch sonst einen ähnlichen Geschmack wie ich. Ich hörte ihr gerne zu, wenn sie redete, ihre Stimme klang hell wie ein frischer Frühlingsmorgen. Wenn sie lachte, durchfuhr mich ein Sternenblitz. Anscheinend gefiel ich ihr auch, denn sie sagte nicht nein, als ich sie fragte, ob wir uns wieder sehen könnten. So kamen wir uns näher und schnell hatte ich mich in sie verliebt. Ich stellte fest, daß auch sie es mit der Pünktlichkeit nicht so genau nahm. Es passierte oft, daß wir uns verfehlten, weil wir beide die verabredete Zeit nicht einhielten. Manchmal sahen wir uns mehrere Wochen lang nicht, verabredeten uns aber häufig. Niemand machte dem anderen einen Vorwurf. Es war eine herrliche Zeit.
Nun ist sie abgefahren. Sie hat eine neue Arbeit angenommen und muß dafür in einer anderen Stadt wohnen. Ich wollte mich von ihr verabschieden, sie wie gewohnt in die Arme nehmen und ihr einen langen Abschiedskuß geben. Aber ich bin zu spät gekommen. Ich bin ja ein Trödler. Ich sehe hier etwas, da etwas, ich bleibe unterwegs stehen, um eine Pause einzulegen, ich beobachte die vorüberziehenden Wolken, das Grün der Laubbäume, Menschen, die sich zufällig begegnen und Menschen, die wie Verfolgte durch die Straßen hasten.
Wie gern wäre ich diesmal pünktlich gewesen. Sie ist weg und für eine lange Zeit, vielleicht für immer, werden wir uns nicht sehen. Ich kann sie besuchen, natürlich. Aber da liegt ein weiter Weg vor mir und es gibt es viele Dinge, die mich aufhalten können.
Und ich lasse mich nur zu gern aufhalten.