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Trügerische Jugend
Betrug an der Jugend
Wie oft hatte Verena mit einem lächelnden Seufzer zu Harald gesagt, dass sie gerne einmal für ein
halbes Jahr zu Hause bleiben würde, um all die Sachen zu machen, für die sie sonst keine Zeit
hatte. Wenn dieser überhaupt mit mehr, als einem stirnrunzelnden Kopfschütteln reagierte, hörte sie
in der Regel einen Satz wie: „Das hältst du doch nicht durch, Reni.“ Doch sie glaubte ihm nicht; sie
wusste, dass sie niemals Langeweile haben würde. Es gab einfach viel zu viel Dinge zu tun und neu
zu entdecken. Es musste großartig sein, den Tag beschaulich mit einem guten Buch zu beginnen,
dann das bisschen Haushalt zu erledigen, um schließlich den Nachmittag vor der Leinwand zu
verbringen, im Garten herum zu puzzeln oder einen ihrer kreativen Einfälle in die Tat um zu setzen.
Abends würde sie dann heiter und ausgeruht die Ankunft ihres Mannes erwarten und mit ihm in
entspannter Atmosphäre den Rest des Tages genießen.
In ihrem Umfeld wurde Verena als starke Frau, als Powerfrau angesehen, denn auch außerhalb des
Berufes war sie, durch den großen Bekanntenkreis und die ehrenamtliche Arbeit in der kleinen
Gemeinde, immer in Aktion. Und auch auf der Arbeit war Verena angesehen und wurde stets mit
zusätzlichen Aufgaben bedacht. In den letzten Monaten hatte sie ganz alleine eine neue Abteilung
aufgebaut. Es war ein Projekt, wovon sie immer geträumt hatte. Konzeption, Raumaufteilung und
–einrichtung, Einstellung neuer Mitarbeiter, alles hatte in ihren Händen gelegen. Nach kürzester
Zeit lief die Abteilung mit großer Effizienz wie von selbst und sie war mehr als stolz.
Die Nachricht, dass ihre Stelle wegrationiert würde und man sie aus betriebsorganisatorischen
Dingen nicht weiter beschäftigen könne, traf sie wie ein Schlag aus heiterem Himmel. Die Abteilung
wurde ausgegliedert und samt den neuen Kollegen von einem Kooperationspartner übernommen.
Allerdings würde für die Leitung dort, einer der eigenen Leute eingesetzt werden und sie wisse ja
selbst, wie schlecht es der Firma finanziell ginge. Selbstverständlich bekäme sie noch Gehalt für
weitere 6 Monate, aber sie bräuchte nach dem Wochenende nicht wieder zu kommen. Es ständen
ja noch eine Unmenge Überstunden aus, die könne sie doch jetzt gut nehmen. Man würde es sehr
bedauern, aber…
Die nächsten Tage erlebte Verena wie in Trance. Die sprachlose Unsicherheit ihrer Kollegen und
Bekannten, die entmutigenden Erläuterungen bzgl. Vermittlungschancen über 45jähriger durch die
Sachbearbeiterin auf dem Arbeitsamt, all das drang nur wie durch dichte Nebelschwaden zu ihr
hindurch.
Harald versuchte sie aufzuheitern, so gut es eben nur ging. Er zählte ihr all die Dinge auf, die hatte
machen wollen, aber es schien ihr auf einmal alles nutzlos zu sein. Sie selbst kam sich nutzlos vor
und auf einmal…auch alt. Bis jetzt hatte sie keine Probleme mit ihrem Alter gehabt, aber das war
nun anders. Sie war aufs Abschiebegleis verfrachtet worden. Und - sie hatte niemanden zum reden.
Ihr Mann arbeitete fast 12 Stunden täglich und war abends nur müde. Die Bekannten hatten mit
ihren Kindern und Haushalt zu tun, meistens waren sie auch noch berufstätig und jedem schien es
auf einmal unangenehm zu sein, mit ihr zu tun zu haben.
So verbrachte sie die Tage damit im Internet zu surfen, gierig auf der Suche nach irgendetwas, was
ihre Leere ausfüllen könnte. Dabei stieß sie eines Tages auf eine Seite, von der man sich ein kleines
Messengerprogramm runterladen konnte. „Finde in nullkommanix Freunde zum Quatschen rund um die
Uhr.“ Das war genau das, was sie braucht. Sie las sich die Anleitung durch, lud das Programm runter
und loggte sich ein. Reni begann zahllose Stichwörter in die Suchmaschine einzugeben und las sich
alle Userbeschreibungen durch, die aufgelistet wurde.
Da auf einmal geschah es, wie gebannt, blieb sie an einem Foto hängen. Ob es der ernste Blick über
dem unschuldigen Lächeln war, sie wusste es nicht. Hastig überflog sie die dazu gehörigen Angaben:
„Hi, ich heiße Oliver, bin 18 Jahre alt (führerscheintauglich – yeah!), gehe in die 12. Klasse des
Wilhelm- Stauff- Gymnasiums in Mühlhausen und spiele im Schulorchester Trompete. Wenn du mehr
wissen willst, dann schreib´doch. Ich antwortete garantiert und auf korrekte Fragen gibt’s korrekte
Antworten.“ Verenas Handflächen wurden feucht. Sie konnte doch unmöglich…was würde… Tausend
Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Doch dann tat sie es einfach. Wie von selbst entsprangen
die Worte ihrer Tastatur „Hi Oliver, ich heiße Verena, bin 17, mache auch nächstes Jahr Abi und
finde Trompete voll fett. Was hörst du denn sonst noch für Mucke?“ Als sie auf SENDEN geklickt
hatte, hatte sie das gleiche Gefühl wie damals, als sie einmal schwarz Bus gefahren war. Jeden
Moment würde sie auffliegen und bis sich bis auf die Knochen blamieren. Doch da blinkte in ihrer
Taskleiste ein kleines, gelbes Rechteck auf, das wie eine Karteikarte aussah. Als sie mit der Maus
nervös draufklickte, sprang folgende Nachricht auf:
„Hallo Verena, danke für deine Nachricht. Spielst du auch ein Instrument? Ich höre eigentlich alles
querbeet, ziemlich häufig allerdings SKA und du? Wo wohnst du? Schick doch mal ein pic. Ciao“
In der nächsten Zeit recherchierte Verena jeden Tag mehrere Stunden. Sie hatte Oliver ein Bild ihrer
18jährigen Nichte aus Australien geschickt und es hatte ihm anscheinend gefallen.
„Siehst ja ganz gut aus.“, hatte er zurück geschrieben und dann Fragen über ihre Familie und Schule
gestellt. Nun las Reni alles über SKA, versuchte sich sicherheitshalber einen Überblick über die
angesagten Bands und Songs zu verschaffen, suchte Informationen über eine passende Schule, den
Lernstoff des 12. Schuljahres und loggte sich in Chats ein, in denen Teens sich unterhielten, um sich
mit dem Vokabular vertraut zu machen. Auf die wenigen Fetzen, die sie bei den Nachbarskindern und
im Fernsehen aufgeschnappt hatte, wollte sie sich nicht verlassen. Wenn Oliver in der Schule war,
sah sie sich Sendungen auf MTV und VIVA an. Und es funktionierte, er bemerkte nichts. Im
Gegenteil, oft war er derjenige, der sich schon vor der Schule meldete und manchmal texteten sie
bis tief in die Nacht.
Die Wochen vergingen. Harald guckte manchmal in ihr Arbeitszimmer, aber er fragte nicht. Er war
viel zu erleichtert, dass es Reni wieder besser ging. Sie fing sogar manchmal wieder an, vor sich
hin zu summen. Allerdings kamen ihm die Melodien merkwürdig fremd vor. Verena hingegen fühlte
sich tatsächlich wie auf Wolke sieben. Die meiste Zeit des Tages war sie tatsächlich wieder
17 Jahre alt und genoss es aus vollen Zügen.
Nur abends, kurz vor dem Einschlafen, plagten sie des Öfteren Skrupel. Sie hatten eingesetzt,
nachdem Oliver geschrieben hatte: „Du bist das krasseste Mädl, das ich kenne. Immer cool drauf
und nicht so zickig wie die andern. Ich glaub, ich hab dich voll gern.“ Sie hatte gespürt, dass
mehr hinter diesen Zeilen steckte. Oliver hatte auch erwähnt, dass er sich ohne Probleme mal
das Auto seiner Eltern übers Wochenende ausleihen könne, um jemanden zu besuchen. Verena
wusste nur zu gut, wer dieser „jemand“ war. Es war Zeit, die Sache zu beenden. Das Schwierige
war nur, sie wollte es nicht. Oliver war zum festen Bestandteil ihrer kleinen Welt geworden. Auch
sie hatte ihn „voll gern“. Er gab ihr alles, was sie brauchte. Sie wollte ihn so gern behalten.
Vielleicht könnte sie es noch eine Weile hinauszögern…nur noch eine klitzekleine Weile…es…
es war doch so schön, wieder jung zu sein.