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Transsylvanischer Tarock
Das rundliche Gesicht mit seinen hervorquellenden, leicht bläulich verfärbten Tränensäcken lieferte eine präzisere Diagnose als EKG, Leberwerte und Cholesterinspiegel. Dr. Staubfeind schüttelte demonstrativ den Kopf und bemühte sich um brutalst mögliche Bedeutsamkeit: "Wenn Sie so weitermachen, gebe ich Ihnen noch zwei Jahre!"
"Meinen's wirklich, Herr Doktor?", fragte Franz Xaver Girglbauer und glitt ächzend von der Behandlungsliege. Er stopfte das Hemd in die Hose und sah dem Kardiologen mit der Treuseeligkeit eines Dackels, der vor seinem leeren Futternapf steht, in die Augen. Der Arzt ergriff die fleischige Hand des Patienten und schüttelte diese zum Abschied.
"Ich meine es ernst: Ihr Herz versteht keinen Spaß!"
Die Prachtstraße war als optische Achse senkrecht zum Fluss angelegt, überspannte ihn mit einer Brücke und strebte direkt auf das Zentrum kurfürstlicher Macht zu. Zu beiden Seiten breiteten sich herrschaftliche Gebäude aus, die an Zeiten erinnerten, als das Volk eine Bierpreiserhöhung mit einer Revolution quittiert hatte. Wie immer, wenn er hier in die Landeshauptstadt kam, ärgerte sich Girglbauer über den irrsinnigen Verkehr und noch viel mehr über die Parkgebühren.
Doch im Gegensatz zu sonst ließ er diesmal die Architektur in ihrer Erhabenheit auf sich wirken. Vielleicht war es auch das Bedürfnis, nicht sofort an seinem Ziel anzukommen, das ihn ohne jede Hektik durch die belebten Gassen der Altstadt laufen ließ, bis er schließlich vor einer repräsentativen Glasfassade stand.
Hinter dieser empfing ihn echter norwegischer Granit, auf Hochglanz poliert, in Mengen, die ein Vermögen gekostet haben mussten. Girglbauer zog anerkennend die Luft zwischen den Zähnen ein und sah sich um.
"Womit können wir Ihnen dienen? Haben Sie einen Termin vereinbart?", fragte ihn ein halbverhungertes Geschöpf in perfektem Hochdeutsch. Es versteckte seinen Oberkörper in einer hochgeschlossenen Bluse, während ein hüfthoher Granitblock die untere Hälfte verdeckte. Girglbauer ging hinüber zur Anmeldung. Das Lächeln der Empfangsdame behielt seine professionelle Freundlichkeit und zeigte sich unbeeindruckt von Lodenjacke, Haferlschuhen und einem aus der Nähe deutlich wahrnehmbaren Schweißgeruch.
Girglbauer registrierte mit detektivischer Detailverliebtheit die unnatürlich langen Wimpern, eine perfekt geglättete Haut, dunkelviolett lackierte Fingernägel und ein eng anliegendes Röckchen. Doch die Zeit, da ihm ob eines solchen Anblicks das Blut in Wallung geraten wäre, lag Tausende von Schweinsbraten mit Knödeln zurück.
"Termin? Ja um 15:30. Habe die Ehre, Girglbauer, Franz Xaver Girglbauer."
Mit einem fast unmerklichen Nasenrümpfen, das ihr Gegenüber wohl bemerkte, aber ignorierte, verkroch sich die junge Frau in ihrem Terminkalender.
"Korrekt, 15:30. Bitte nehmen Sie doch noch einen Augenblick Platz. Sie können in der Zwischenzeit gerne einen Blick auf unseren Flyer werfen."
Sie drückte ihm einen dünnen Hochglanzprospekt in die Hand und deutete auf die chromblitzende Sitzgruppe, die sich in sicherem Abstand in der gegenüberliegenden Ecke des Empfangsbereiches befand. Girglbauer machte sich schwer atmend auf den Weg dorthin.
Ächzend ließ er sich ins Polster fallen, atmete tief durch und nahm dann den Prospekt zur Hand: Hochglanzpapier, Vierfarbdruck, viele Abbildungen. Er ließ die Bilder an sich vorbeiziehen, las Bruchstücke geschwollen klingender Textpassagen. Papier war geduldig, dachte er sich, auch wenn man in diesem Fall offensichtlich einiges dafür ausgegeben hatte. Geld, das irgendwoher kommen musste.
"Herr Girglbauer, bitte." Die Empfangsdame hatte die Sicherheit ihrer Anmeldung verlassen, um den Besucher einen Stock höher zu führen. Leise ächzend verfolgte Franz Xaver das flüchtende Rehlein, um in der ersten Etage, heftig schnaufend in einem halb abgedunkelten Raum anzukommen. Hier war Holz das stilgebende Element. Dunkles Holz, von weit her gebrachte Bäume, die anders rochen als die heimischen Fichten. Die Rezeptionistin hatte ihm Platz angeboten und mit einem befreiten Lächeln den Raum verlassen. Girglbauer harrte seinem Schicksal entgegen und ließ prüfend seine Hand über die Oberfläche des Tischchens gleiten. Mahagoni?
"Herr Girglbauer?" Franz Xaver blickte auf. Eine Frau hatte sich vor ihm materialisiert und der Klang der beiden Worte, die sie fragend an ihn gerichtet hatte, wies sie als von weit her kommend aus. Im Gegensatz zu dem Schatten ein Stockwerk tiefer, war sie aus Fleisch und Blut, trug ein barock verziertes, orangefarbenes Kleid, das von den Schultern herab bis fast zum Boden floss. Sie mochte um die Anfang fünfzig sein, war an beiden Armen mit schweren silbernen Armreifen behängt und besaß auf den ersten Blick das Selbstbewusstsein und die Oberweite einer langjährigen Kellnerin auf dem Oktoberfest.
"Willkommen bei Karmastro. Mein Name ist Aleksandra Tapasch. Was kann ich für Sie tun?"
Girglbauer, hievte sich symbolisch halb vom Stuhl hoch, streckte ihr seine Rechte hin und nickte freundlich. Aus Preisgründen beschloss er, direkt zur Sache zu kommen. "Also mein Hausarzt ... ich hab's mit dem Kreislauf ... oder eben nicht mehr. Jedenfalls meint er, es geht vielleicht noch zwei Jahre."
"Und Sie wollen von uns eine genauere Datierung?" Seiner Gesprächspartnerin war ein sichtliches Missfallen anzusehen, sie zog die Augenbrauen zusammen und die orangefarbenen Fransen ihres Kleides schienen erregt zu zittern. Girglbauer beobachtete, wie sich ihr nur halb verhüllter Busen hob und senkte, wobei er sich vorkam, als hätte er im Bierzelt gewagt, ein Alkoholfreies zu bestellen.
"Nein, Frau Aleksandra. Ich mach' mir halt Gedanken um die Zukunft. Die Kinder, die Enkelkinder und wer alles einmal erben soll ..."
Ein Leuchten stieg ihr ins Gesicht, das den ganzen Raum zu erfüllen schien und alle Dunkelheit des Holzes überstrahlte.
"Wenn das so ist, dann sind Sie bei uns genau richtig", flötete sie, setzte sich und beugte sich nach vorne. Aus den weit geöffneten, dunklen Augen glänzte Girglbauer die kumulierte Gastfreundschaft Transsylvaniens entgegen. Während er versuchte, mit seinen Blicken hinter den Rand des orangefarbenen Stoffes vorzudringen, hatte sie ein Pack Karten hervorgezaubert und angefangen diese zu mischen.
"Was haben wir denn hier? Das ist interessant. Ein talentierter junger Mann, vielleicht musisch begabt ..." Sie legte die Karten aus. Girglbauer beobachtete ihr Gesicht. Sie hatte braune Augen, große Pupillen. Die dunklen Locken trug sie offen, nur leicht gebändigt durch einen silbernen Haarreif. Girglbauer fiel ihr bedeutungsvoll gerundeter Mund auf, zart rosenfarben koloriert, wie um dem Eindruck des Verwelkens entgegenzuwirken. Auf der rechten Wange saß an prominenter Stelle ein Leberfleck. Was hatte sie gesagt? Ein talentierter junger Mann? Ja das könnte sein Enkel Max sein, der seit zwei Jahren Latein und Griechisch lernte, und gesungen wurde schließlich auch im Internat, drunten in Regensburg.
"Gibt es in Ihrem Leben eine weise Frau?" Girglbauer strich vorsichtig mit den Fingern über das Tischchen, das er mittlerweile lieb gewonnen hatte. Holz war eine ehrliche Sache, lebendiges Baumaterial, das er von frühster Kindheit an kannte. Der Geruch war einmalig, je nachdem, ob man Bäume fällte, Bretter schnitt, hobelte oder schliff. Er kannte alle Facetten, waren doch Wald, Sägewerk und Tischlerei das gewesen, was er von seinem Vater übernommen hatte.
"Eine sehr geistige, spirituelle Person ... mit Hang zum Übersinnlichen vielleicht? So etwas, wie eine Ratgeberin meine ich." Sie hatte auf die zuletzt gelegte Karte gedeutet und die Bedeutsamkeit in ihrer Stimmgebung sichtlich gesteigert. Spirituell? Eine innerliche Heiterkeit erfüllte Girglbauer während er die Reihe der Frauengestalten in seiner näheren Umgebung durchging: Theresia, Magdalena, Marie. Frau und Zanksucht waren zwei Dinge, die zusammenpassten, aber Frau und Weisheit? Und was war bitteschön Spiritualität?
Nichts von alledem ließ er sich anmerken, als verhandle er um den Preis von 20 Hektar Staatsforst, nahm sein Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck an und er meinte schließlich: "Übersinnlich? Ja, da könnt ich mir durchaus jemanden vorstellen ... aber bittschön, Frau Aleksandra, sagn's mir doch, was hat des alles zu bedeuten?"
Theresia Girglbauer hatte den Kuchen in das Backrohr geschoben und wischte sich die mehligen Hände an ihrer Schürze ab. Es war vollbracht, die Form in der transformierenden Dunkelheit des Gasherds verschwunden. Backen hatte für Theresia etwas Meditatives, ja beinahe Mystisches. Es bedeutete für sie, zur Ruhe kommen können. Immer wenn sie sich über etwas ärgerte, dann buk sie.
"Oma?"
Sie blickte in die weit geöffneten Augen des kleinen Blondschopfs, der durch die Terrassentür hereingeschlichen war und gelangweilt die Schaukel im Garten verlassen hatte. Das herrliche Sommerwetter und die Blüte der Rosen im perfekt gepflegten Garten interessierten einen Viereinhalbjährigen herzlich wenig.
"Kilian, was gibt's?"
"Wo ist denn der Opa?" Eine ahnende Traurigkeit, dass es heute keinen Besuch im Sägewerk mehr geben würde, war dem kleinen Dreikäsehoch anzusehen.
"In München, zum Kartenspielen", antwortete Theresia und spielte selbst mit dem Gedanken, nochmals Teig anzurühren.
"Mit wem denn?" Kilian ließ nicht locker, Kinder konnten grausam sein.
"Mit einem alten Spezl. Der aus dem Ministerium."
"Was ist ein Ministerium?"
Theresia seufzte: "Kilian, geh doch noch mal raus, schaukeln. Und wenn ich mir die Hände saubergemacht hab' und die Schürze ausgezogen, dann erzähl' ich dir eine Geschichte."
Girglbauer ließ sie reden. Mittlerweile empfand er den Klang ihrer Stimme als angenehm. Er hatte sich an das rollende „r“ gewöhnt, ebenso wie an die Härte, mit der manchmal Vokale und Konsonanten aufeinander prallten. Er nickte zustimmend, während sie ihr Schlussplädoyer hielt: Sein Leben ändern, Abnehmen, Zeit mit seinen Enkeln verbringen … Nur halb nahm er ihre Worte war, galt doch seine eigentlich Aufmerksamkeit ihrem Gesicht, den halb geschlossenen Augen mit deren verdeckte Hälfte sie in unbekannte Welten zu spähen schien. Eine Angestrengtheit war ihr anzusehen, die erst verschwand, als sie geendet hatte, die Augen geöffnet und ihn anlächelte.
"Sag'n Sie mal bittschön, Frau Aleksandra, glaub'n Sie da eigentlich selber d'ran? Also an das, mein' ich, was Sie da den Leuten erzählen?"
Girglbauer sah sie tief Luft holen. In ihren geweiteten Augen konnte er die Dunkelheit der transsylvanischen Wälder erahnen. Es waren wilde Wälder, voller Wölfe und besser wagte man sich des Nachts nicht vor die Türe, zumindest unbewaffnet.
"Aber natürlich, warum fragen Sie, Herr Girglbauer?" Mit diebischer Freude registrierte Girglbauer ihr fast unmerkliches Zurückweichen und das leichte Zusammenfallen des Schultergürtels. Verschwunden war die unangreifbare Sicherheit, mit der sie sein Leben ausgelegt hatte: die Vergangenheit, die Gegenwart und was in der knappen verbleibenden Zeit noch zu tun war.
"Ja wenn des so ist, dann funktioniert's auch anders herum!" Die Finger, mit denen er soeben noch liebevoll die dunkle Holzplatte gestreichelt hatte, griffen sich das beiseite gelegte Kartenpack. Noch bevor sie protestieren konnte, hatte er die Karten gemischt. Er fächerte mit leuchtenden Augen den Stapel auf und zog eine Karte heraus. Aufgedeckt schob er sie zur anderen Seite des Tisches hinüber.
Der Überraschungsangriff hatte nur wenige Sekunden gedauert. Während dessen hatte Aleksandra mit offenem Mund dagesessen, sprachlos. Für einen Sekundenbruchteil sah sie zu der aufgedeckten Karte, dann mit unverhohlenem Entsetzen wieder zu Girglbauer. Das Abbild eines Mannes lag auf dem Tisch, aus ihrer Sicht aufrecht stehend, mit dem kleinen Schönheitsfehler allerdings, dass ein Strick an seinem Fuß befestigt war, der wiederum zu einem Ast gespannt war. Der zugehörige Baum wuchs vom Himmel zum Boden.
"Den ham's aufg'hängt", meinte Girglbauer trocken.
"Und für wann soll ich Ihnen einen Nachfolgetermin eintragen?" Mit verständnislosem Blick musterte Girglbauer das bemitleidenswert unterernährte Geschöpf hinter der Anmeldung.
"Ach lassen's mal gut sein. Ich meld' mich dann, wenn mir das Schicksal Bescheid gibt", anwortete er grinsend.
Der Steinquader symbolisierte die Trennung zwischen dem Reich der Rezeptionistin und dem Kundenbereich. Girglbauer befühlte seine polierte Oberfläche, sie wirkte kalt. Wie konnte man an dieser Stelle nur Stein verbauen? Holz wäre viel passender, dunkles heimisches Holz, vielleicht Nussbaum. Er stützte sich mit den Händen auf und beugte sich nach vorne, wie um der Empfangsdame etwas ins Ohr zu flüstern. Diese wich mit schwer verhohlenem Schrecken zurück und suchte Sicherheit hinter ihrem Monitor.
"Ach noch was", fügte er gedämpft hinzu, und spähte kurz über die Schulter zu der Treppe hinüber, die zu Aleksandras Reich hinaufführte, "So ein blitzsauberes Madel wie Sie ... warum suchen Sie sich nicht eine anständige Arbeit?"
Es war Sommer. Biergartenzeit. Die Madeln zeigten Fleisch, zwar in transparenterer Verpackung als früher, aber trotzdem nett anzusehen. Girglbauer schlenderte durch die Altstadt. Nur keine Hektik, nicht zu sehr schnaufen müssen. Der Nachmittag war durchaus amüsant gewesen. Und sein Geld wert. Versonnen sah Girglbauer einem wippenden Blondschopf nach, der auf Inline Skates an ihm vorbeirollte. Ja, er hatte durchaus anregende Ideen erhalten, was die Zukunft seines Sägewerks und des Installationsbetriebs betraf, nicht zu vergessen die 35 Hektar Bauland und die Zimmerei. Auch für Aktiendepot und einige Immobilien gab es interessante Optionen.
Aber bevor er daran gehen würde, auch nur eine winzige Kleinigkeit in seinem Leben oder seinem Testament zu ändern, wollte er erst einmal seinen alten Freund Quirin treffen. Ein ordentlicher Schweinsbraten würde dazugehören, etwas zu trinken und dann müsste er ihm natürlich erzählen, was es an Neuigkeiten gab.
Bei dieser Gelegenheit würde er dann auch Quirin auf seine Verbindungen zum Polizeipräsidium ansprechen und herausbekommen, ob sich vielleicht jemand im Betrugsdezernat für Karmastro interessiere. Und wenn dem nicht so wäre, ließe sich da sicher nachhelfen, schließlich waren ja Prophezeiungen dazu da, in Erfüllung zu gehen.