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Trauerarbeit
In diesem Moment fühlte ich mich verlassener als jemals zuvor. Jemand hat mir mal erzählt, man solle nie aufgeben, egal was passiere, denn es lohne sich nicht. Nun stand ich hier, wiedermal, auf der dritten Treppenstufe und fragte mich, warum ich nicht weinte. Einige Stockwerke unter mir knallte jemand die Tür. Unwichtig. Heute war der erste Sonntag an dem die Sonne schien, seit ich mich erinnere. Nicht mal von Bedeutung. Es gibt nicht viel, das einen aufbauen könnte, wenn man es nicht zulassen will. Weglaufen kann man oft, aber die Vergangenheit holt einen ein-immer. Susie kam einige Zeit später und fand mich, auf der dritten Treppenstufe, im sechsten Stock, unfähig auch nur einen Schritt zu tun. „Warum fährst du nicht Fahrstuhl ,hi erst mal.“ Sie war gut drauf. Warum?
Sie hatte keinen Schimmer, wie es in mir drin aussah, keine Relation zu dem, was ich gerade wieder durchmachte. Sie umarmte mich ,natürlich, zur Begrüßung, doch für mich war es wie ein Abschied für immer. Sie war immer dafür gewesen, ich solle zum Psychologen gehen, meine Depressionen seien für mich nicht mehr tragbar. Ich teilte ihr mit, ich hätte einen tollen Psychologen in Stadtnähe gefunden, richtig nett. Sicher, sie freute sich für mich. Doch ich war nie bei einem Psychologen gewesen, der Plan stand nach wie vor fest und niemand würde etwas daran ändern können.
Dachte ich.
Susie war so etwas wie eine Freundin, ich erzählte ihr nur nicht alles. Sie war nämlich nicht besonders tolerant. So kam es mir jedenfalls immer vor. Außerdem hasste ich manchmal, dass sie dauernd so verdammt glücklich war und ich ständig ruhelos vor mich hin vegetierte. Der Tod meiner Mutter vor einem halben Jahr täte ihr Leid. Hab‘ ich ihr nie geglaubt, sie kannte meine Mutter nicht und deshalb war sie nicht berechtigt auch nur irgendeine Aussage über meine Mutter zu tätigen. Nachdem ich ihr dafür eine gegeben hatte, hatte sie nichts erwidert. Das zeigte mir dagegen, dass sie doch nicht so schlecht war, ich habe mich dann auch für die Ohrfeige entschuldigt.
Zur Schule ging ich schon lange nicht mehr. Lernen interessierte mich nicht. Ich war immerhin schon achtzehn, zu alt um die Schulbank zu drücken .Für meinen Teil hatte ich genug über die Grausamkeiten des Lebens erfahren. Meine Großeltern riefen fast täglich an , sie machten sich Sorgen. Ich würgte sie immer schnell wieder ab, mir ginge es blendend. Ihren Vorschlag bei ihnen zu wohnen, hatte ich dankend abgelehnt. Mit einer ekelerregenden ,aufgesetzt fröhlichen Stimme verkündete ich:„Ich schaff das schon alles, macht euch keine Gedanken." Was für ein Fake.
Da ich keiner Beschäftigung nachging und Sozialleistungen bezog, bombadierte mich das Arbeitsamt eines Tages mit einer Aufforderung, ich solle doch bitte ins Jobcenter gehen und eine Beratung in Anspruch nehmen. Ansonsten würden sie meinen ALG 2 Satz um 20 Prozent senken und irgendwann würden sie mir den Geldhahn zudrehen. Gezwungener Maßen machte ich mich am darauf folgenden Morgen auf, in die Höhle des Löwen, nämlich zum Jobcenter. Die olle Tussi dort war entsetzt, dass ich mit meinen 18 Jahren keine Ausbildung machte. Sie drängte mir einen Ein-Euro Job auf, Regale auffüllen im Supermarkt, zudem verwies sie auf die Notwendigkeit dieser Maßnahme. So ein Schwachsinn. Am liebsten hätte ich ihr zugerufen: „Meine Mutter ist vor einem halben Jahr gestorben, ich wohne alleine und Sie wollen mir sagen was notwendig ist, Sie haben ja gar keine Ahnung.“ Doch ich ließ es bleiben und bedankte mich nur höflich.
Ich war nicht dumm, eben nur antriebslos, nachdem alles zusammen gebrochen war, hatte ich die 11. Klasse abgebrochen und damit meine Chancen auf ein baldiges Abi in den Wind gesetzt. Manche Dinge im Leben gehen vor und ich konnte wirklich nicht mehr. Susie war in meine Parallelklasse gegangen und sie erzählte mir, dass einige Lehrer und Schüler öfters fragten wie es mir ging und ob ich wiederkäme.
Ich war nicht wiedergekommen, nicht einmal. Doch ich erinnerte mich genau an den letzten Tag vor den Herbstferien .Es war der Tag gewesen, an dem ich vom Tod meiner Mutter erfahren hatte. Klar, ich wusste es ging ihr nicht gut, sie hatte eine schwere Grippe, aber daran starb man ja nicht.
Dachte ich.
Ich hatte Erdkunde Unterricht bei meinem Lieblingslehrer, Herr Potzer, er machte öfters Späße mit uns und war der netteste und lustigste , sowie der ehrlichste Lehrer der Schule. Es waren die letzten beiden Stunden dieses Tages. Ich freute mich auf zuhause, auf das Mittagessen, auf meine Mum, ich war in Gedanken förmlich zuhause. Das war ja gerade das grausame. Plötzlich ging die Tür auf und die Sekretärin kam herein und sagte es wäre ein dringendes Gespräch für mich am Telefon.
Eine Minute später, ging ich ans Telefon und erfuhr von meiner schluchzenden Großmutter, meine Mutter sei vor kurzem verstorben. Ich stand unter Schock und knallte den Hörer auf. Ich hoffte, nein, ich betete, es sei ein Irrtum und meine Mutter sei gar nicht Tod sondern schlafe nur. Ich rannte aus dem Sekretariat. Trotzdem war ich wie in Trance. Ich holte meine Sachen aus dem Klassenraum und stürmte zum Bus. Ich musste nachhause zu meiner Mum und mich vergewissern, dass sie lebte, zwar krank war, aber mich dennoch mit einem „Hallo Nicki , mein Schatz“, begrüßen würde. Ich kam nach Hause, meine Finger zitterten, der Schlüssel, wollte einfach nicht in das Schloss.
Auf einmal ging die Tür auf und ich war so froh „Mama…“, schrie ich erleichtert, doch es war nicht meine Mutter, sondern meine weinende Oma, die mir die Tür aufmachte. Ich schrie erneut, diesmal vor Angst. Alles kam mir vor wie ein Albtraum. Ich wollte endlich aufwachen „Wo ist Mama, Oma, wo ……sag es mir.“ Ich schüttelte sie, vor Verzweiflung. Oma schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte ich immer wieder. Ich lief in die Wohnung „Mama“, rief ich. Ich nahm keinerlei Rücksicht auf unsere Möbel, stieß Stühle um. Mein erster Weg führte in ihr Schlafzimmer und dort fand ich sie nicht. „Mama, wo bist du?“ Tränen liefen mir die Wangen herunter, doch ich ließ sie laufen. Meine Großmutter stand immer noch an der offenen Tür. Ich rief aus voller Kraft „Mama.“ Doch es kam keine Antwort. Meine Verzweiflung nahm keine Ende. Ich steigerte mich hinein. Ich lief zu meiner Oma und brüllte „Jetzt sag‘ mir wo sie ist!“ Meine Großmutter sagte, sie sei im Krankenhaus , wir könnten dorthin ,sie ein letztes Mal sehen, wenn ich wolle. Sie wollte mich in den Arm nehmen, doch ich stieß sie weg. Die Realität übermannte mich. Ich begriff, ich würde nie wieder mit meiner Mutter sprechen können, sie nie wieder in den Arm nehmen, ich konnte mich nicht mal von ihr verabschieden. Ich sank zu Boden und etwas kam in meinen Verstand. Ich war nicht da gewesen, als sie starb, vermutlich war sie alleine gestorben und ich bin einfach in die Schule gegangen. Eine überwältigende Wut trat in mir auf. Ich war gegangen, ich hatte sie alleine gelassen, warum bin ich nicht da geblieben?Ich hatte ihr zuvor nicht gesagt, dass ich sie liebte. Warum? Danach ging ich in mein Zimmer und warf den Fernseher aus dem Fenster , dann warf ich alle Sachen von meinem Schreibtisch und zerstörte alles was mir in den Weg kam.
Dies waren einige der klarsten und abwesendsten Zustände gewesen, die ich jemals erlebt hatte. Die Beerdigung und das ganze Beileidsgeplenkel, ließ ich wieder in Trance über mich ergehen. Die Chance damit umzugehen, bestand darin, die Trauer nicht an sich heran zu lassen,es zu verdrängen. Der Todestag meiner Mutter war der einzige Tag gewesen an dem ich für sie , oder um sie, geweint hatte. Seitdem ging ich verbittert durchs Leben.
Ich wusste nicht,ob ich je wieder fröhlich sein konnte, aber es war auch schwer ständig darauf zu achten nicht zu lachen. Susie war die einzige die noch ein bisschen an mich herankam. Der Ein-Euro Job würde die Hölle werden und meine Zukunft sah auch nicht gerade rosig aus.
Ich saß auf der dritten Treppe im sechsten Stock, unfähig mich zu bewegen. Susie hatte mich soeben umarmt. Sie nahm mich an die Hand, wollte mich mit sich ziehen und sagte: „ Keine Widerrede, so geht es nicht weiter, ich hab‘ dich schon lange durchschaut, wir gehen jetzt zu einer psychologischen Praxis und du machst einen Termin aus.“ Ich wollte mich wehren, sie anschreien, die böse Fassade aufrecht erhalten. Stattdessen sagte ich „Danke.“