Traumbilder
Es war für meine Verhältnisse noch viel zu früh, als meine Mutter die Tür zu meinem Zimmer aufriss und mir mitteilte, ich hätte Besuch. Für einige Hundertstel Sekunden, in denen ich das Geschehen zunächst tatsächlich wahrnahm und diese Information unterbewusst registrierte, war ich entsetzt, dann murmelte ich etwas, drehte mich auf die andere Seite und wunderte mich, warum ich so seltsame Dinge träumte.
„Hey, du Schlafmütze! Los, aufstehen!”
Die Stimme meiner Mutter war auf einmal deutlich tiefer und klang auch nicht mehr so mürrisch, sondern heiter und gut gelaunt. Diese Stimme schimpfte mich nie, ich liebte es, ihr zu lauschen, dann vergaß ich immer die Zeit und alles andere um uns. Dann blieb die Welt immer ein bisschen stehen, während mein Herz umso schneller weiter pochte.
Ja, der Traum war vielleicht seltsam, aber wunderschön. Was konnte schon schöner sein, als von dieser Stimme zum Aufstehen aufgefordert zu werden? Schließlich bedeutete das, dass der dazugehörige Mensch das Erste sein würde, was man morgens sah. Ich hoffte, als nächstes davon zu träumen, wie ich in seinen Armen aufwachte und er mir zärtlich den Schlaf aus den Augen küsste. Grinsend kuschelte ich mich in meine Decke. Er rief meinen Namen.
„Hm-mmm”, gab ich glücklich von mir.
„Bist du wach?” fragte er direkt in meinem Ohr. Dann würde er eben zuerst meinen Hals küssen…
Da ich nicht reagierte, sondern einfach bewegungslos dalag, fing jemand an, mich zu schütteln. Nein, dachte ich mir, bitte nicht wecken, jetzt, wo es doch gerade so schön - Ich riss die Augen auf und drehte mich erschrocken zu ihm um. Kein Traum.
Freudenstrahlende blaue Augen sahen mich an. „Hi”, sagte er.
„Hi?”, sagte ich und blinzelte verwirrt.
„Tut mir Leid, dass ich dich wecke, aber es ist echt wichtig. Ich konnte nicht länger warten.” Sein Gesicht war dem meinen so nahe wie schon lange nicht mehr.
Ein zögerliches „Aha” war alles, was ich herausbrachte. Er war ziemlich aufgeregt. Die Sache musste wahnsinnig wichtig sein, immerhin kannte er mich nach all den Jahren inzwischen gut genug, um zu wissen, dass Schlafen meine liebste Lieblingsbeschäftigung war. Gut, eigentlich, meine zweitliebste, denn noch besser als Schlafen, war es, die Zeit mit ihm zu verbringen, wenn auch manchmal nur in Gedanken, oder eben Träumen... Aber das wusste er selbstverständlich nicht.
„Hast du jemanden umgebracht?”, fragte ich sarkastisch.
Solche Momente sind der absolute Horror für mich, denn solche Leute wie ich wünschen sich da immer heimlich, der Traum von gerade eben würde wahr werden; oder wäre zumindest noch nicht vorbei. Aber der vernünftige Teil von mir, der selbst in solchen Situationen nicht tot zu kriegen ist, macht mir natürlich klar, dass diese Träume absoluter Unsinn sind, nie wahr werden können und nur dazu gedacht sind, mir das Leben schwer zu machen. Dann ärgere ich mich, wie so oft im Leben, über mich selbst und reagiere gereizt und abweisend, obwohl ich das genaue Gegenteil davon empfinde.
„Sehe ich etwa so aus, als hätte ich gerade jemanden umgebracht?”, fragte er unsicher.
„Keine Ahnung”, brummte ich und schob ihn zur Seite. Was auch immer passiert war, es musste warten. „Ich muss ins Bad.”
„Aber - “
„Nix aber”
Ich schaute niedergeschlagen in den Spiegel. Wahrscheinlich hatte es gar keinen Sinn, es auch nur zu versuchen, aus mir ein ansehnliches menschliches Wesen zu machen. Ich war gerade gewaltsam geweckt worden, da war ich zu nichts zu gebrauchen. Ich wusch mir das Gesicht und kämmte meine Haare.
Als ich wieder in mein Zimmer kam, bot sich mir ein absolut surrealer Anblick. Er lag in meinem Bett. Gut, das an sich war nicht so ungewöhnlich, wie man jetzt denken könnte. Das Groteske an der ganzen Sache war vielmehr, dass er die Plüschgiraffe, die ich seit meinem siebten Lebensjahr habe, in seinen Händen hielt und mit dem ausgeleierten Hals des Tieres herumwedelte. Ich stand bewegungslos da und starrte ihn mit offenem Mund an.
Als er mich bemerkte, legte er das Stofftier beiseite, setzte sich aufrecht hin und sagte „Komm her.”
Er sprach diese beiden Worte so entschlossen und mit der selbstzufriedenen Ernsthaftigkeit eines Mannes, der gerade dabei war, einen Heiratsantrag zu machen, von dem er wusste, dass er unter keinen Umständen abgelehnt werden würde. Oder vielleicht klang auch ein Mafiaboss so, wenn er dem armen Luigi ein Angebot machte, welches dieser nicht ausschlagen konnte.
Ich schluckte. Wie in Trance wandelte ich zu ihm und setzte mich auf mein Bett. Er schaute mir tief in die Augen.
„Ich glaube, ich hab’s endlich kapiert.”, begann er langsam. Ich zog eine Augenbraue hoch. Das konnte ich nämlich ziemlich gut.
„Das, worüber du immer schreibst. In deinen Gedichten.”
Ach, du Scheiße! schoss es mir sofort durch den Kopf, und gleich danach trompetete es Haaaaalleluja! Halleluja! Halleluuuuuja! und dann wieder: Grundgütiger, was mache ich denn jetzt bloß? War er etwa tatsächlich dahinter gekommen, dass ich ein lyrisches Ich all das aussprechen ließ, was ich nicht wagte, ihm persönlich zu sagen? Dass ich es lediglich all das empfinden ließ, was ich selbst für ihn empfand?
Und war das jetzt gut, dass er es endlich wusste oder schlecht?
„Ich verstehe jetzt, was du meinst, worüber ich vorher nur geschmunzelt habe, weil es sich zwar schön anhörte, mir aber vorkam wie - sei mir nicht böse - mädchenhafte Schwärmerei.”, fuhr er fort.
Hä? Hatte ich da was falsch verstanden? Hatte ich überhaupt etwas verstanden? Oder hatte ich mir nur eingebildet zu verstehen?
„Ich...”, er lachte kurz auf. „Ich bin verliebt.”
Wow. Ich war vollkommen baff. Meinem Hirn war soeben der Stecker gezogen worden. Es war gar nicht mehr nötig, etwas zu verstehen. Wenn Träume wahr werden, braucht man sein Gehirn eh nicht mehr.
Ich schaute ihn einfach völlig wortlos an. War mir unklar darüber, ob ich vor Freude lachen oder weinen sollte.
Mein Schweigen deutete er wohl als Aufforderung für Erklärungen.
„Weißt du, ich meine nicht dieses Gefühl, wenn man sich in jemanden verknallt. Ich meine wirklich dieses tiefe Empfinden von Verliebt Sein.”
Ich konnte es nicht fassen; diese Worte aus seinem Mund zu hören, war wie den Horizont erreicht zu haben.
Ich brachte immer noch keinen Ton heraus. Ich begriff einfach nicht, was da geschah. Das konnte doch nicht wirklich passieren? Ich musste immer noch träumen. Ganz bestimmt.
Ich hätte nie gedacht, dass ein Traum so schön sein konnte!
„Gestern auf der Party, da war auch Simmie...”
Ich war vom Blitz getroffen. Dieser Name, nein, der gehörte nicht in meine Träume. Noch nicht einmal in meine Albträume. So grausam konnte nur die Realität sein.
Ich hörte ihm kaum noch zu. Ich bekam nur etwas mit von großer Versöhnung und blablabla....
„Du scheinst dich ja nicht gerade für mich zu freuen.”, bemerkte er irgendwann.
„Doch! Natürlich freue ich mich für dich! Ehrlich. Es ist nur ... so überraschend. Vor nicht einmal zwei Wochen hast du sie noch gehasst und wolltest nie wieder ein Wort mit ihr reden ...”, stotterte ich.
„Ja, ich weiß, aber wie heißt es doch so schön, man weiß etwas erst dann zu schätzen, wenn man es nicht mehr hat. Oder so ähnlich, glaube ich.” Er lächelte.
Und ich lächelte zurück.