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Traumdeutung
Seit einer gewissen Zeit hasste er seine Träume. Jeden Morgen wachte er schweißgebadet auf und konnte sich doch kaum erinnern. Es war sie. Immer wieder ein und die selbe junge Frau. Es brannte.
Marko riss sich den Schlafsack vom Körper. Er atmete schnell. Ein älteres Gesicht grinste ihn müde aus einem leeren Zimmer an.
"Wir fahren bald."
Der Parkettboden war hart. Verdammt hart. Und hätte er sich nicht irgendwann in der Nacht von seiner Matte gerollt, dann hätte er nicht so schreckliche Schmerzen an jedem Knochen in seinem Körper.
"Können Träume etwas bedeuten?", fragte er ganz beiläufig nach mehreren Stunden Fahrt. Sein Vater drehte sich nicht um. Er konzentrierte sich auf die Straße. Highway. Neues Leben. Endlich hatte er einen Job gefunden. Er nahm noch einen Schluck kalten Instant-Kaffee.
"Ein Traum ist der Spiegel der Seele. Was hast du denn geträumt?"
"Nichts."
Marko schaute wieder aus dem Fenster. Sand. Wie er ihn hasste. Im Radio dudelte Musik. Stimmungsmusik. Wen sollte das aufheitern? Interludium.
"Es ist 7 Uhr. Welle 1 wünscht einen wunderschönen guten Morgen."
Er hätte kotzen können.
"Ich bin so aufgeregt."
Seine Mutter meinte es tatsächlich ernst. Sie hatte sich schon seit Wochen auf das neue Haus gefreut. Alles viel größer, alles viel schöner. Eine wunderschöne Gegend. Sie hatte einen Kuchen gebacken.
Das Mädchen. Das Feuer. Sie hatte schwarzes Haar. Es war sie, die ihm nicht aus dem Kopf ging. Nie. Er träumte wenn er wach war. Und umgekehrt. Das Leben plätscherte. Wie ein Fluss. Ohne das Gefühl von Nässe. Man weiß um den Fluss und wie er sich anfühlt. Doch man fühlt nichts. Er schlug mit seiner Stirn gegen die Scheibe.
"Spinnst du?"
Seine Mutter lächelte noch immer. Sie öffnete das Beifahrerfenster. Sicherlich strömte kalte Luft ins Wageninnere. Kalte Morgenluft. Draußen lösten die Bäume den Sand ab. Waldluft im Sommer.
Sie lag vor ihm. Die Augen halb geöffnet. Und wieder dieses Feuer. Heiss. Sie war wunderschön.
"Aufwachen!"
Seine Mutter hielt den Wagen an. Sie ließ den Motor laufen.
"Man wartet hier nicht auf dich, hopp hopp."
Marko öffnete widerwillig die Tür. Das Wochenende in dieser Stadt war schon schlimm genug gewesen. Die Zöglinge dieser armseligen Spießbürger wollte er nicht erleben. Seine Mutter winkte ihm zum Abschied. Er bemühte ein Lächeln. Widerlicher Betonklotz. Langsam schritt er in den viereckigen Schlund, der mit Sicherheit den Eingang des Komplexes darstellen sollte.
"12 c". Dieses Schild hatte er gesucht und doch nicht finden wollen. Wie lange er zu spät war, war ihm egal. Er klopfte. Leise. Hoffentlich würde ihn niemand hören. Die Türe ging auf. Die vielen Fenster im Raum verliehen diesem eine unnatürliche Helligkeit. Erst langsam erkannte er inmitten der Konturen von Menschen und Köpfen Gesichter. Nein, er erkannte nur ein Gesicht. Inmitten der Kontur schwarzer Haare. Seit langer Zeit nahm er wieder den Rhytmus seines Herzens wahr. Schwer und deutlich.
"Kannst du auch sprechen?", grinste der gelackte Widerling.
"Du bist sicher Mar...". Er hörte ihn kaum.
Er starrte in dieses eine Gesicht. Sein Puls hallte in seinen Ohren wieder. Sie wendete sich ab, als ein Sturm von Gelächter sein Sichtfeld schlagartig weitete.
"Ja. Das bin ich." Marko schaute sich hilflos um.
"Setz dich zu ihr.", die Lehrerkarikatur schien nur noch aus grinsenden Zähnen zu bestehen. Er deutete auf den freien Platz neben dem schwarzhaarigen Mädchen.
"Nein," schüttelte Marko den Kopf, "ich möchte nicht."
"Was möchte der Herr dann? Möchte er vielleicht noch 10 Minuten hier stehen bleiben und erst zur nächsten Stunde geistig anwesend sein?"
Es lachte. Er fühlte die Hitze von loderndem Feuer. Es knisterte. Leise und unendlich laut.
"Jetzt setz' dich und spiel' nicht in der ersten Stunde schon den Clown!"
Zu oft war dieses Mädchen in seinen Armen gelegen. Regungslos. Sie schaute ihm kurz in die Augen. Einen kurzen Augenblick. Und es schien als verließ ihn die Angst. Sie entließ ihn von seiner Schuld. Diesen einen Augenblick. Er setzte sich. Und war ihr so nah und so fern wie nie zuvor.
"Ich heiße Mia."
"Marko..."
"Ich weiß." Er fühlte sich bescheuert. Ein grandioser Einstand. Er freute sich auf die nächsten Jahre seines beschissenen Lebens. Hier. An diesem Ort. Immer wieder musste er sie anschauen. Die einzige Hoffnung und doch Ursprung seiner tiefen inneren Verzweiflung.
"Lass deine Finger von Ihr!"
"Von wem?"
Marko schaute nicht auf.
"Du weißt wen ich meine. Das ist meine Freundin."
Turnschuhe, weiß. Sportlich. Mehr wollte Marko von dem überheblich sabbernden Etwas nicht sehen.
"Schau mich an, Kleiner."
Unscharf gestikulierte sich der übergroße Gartenzwerg vor Markos gesenktem Blick, als er ihn am Kinn packte. Scharf geschnittene Gesichtszüge. Sportler, ohne Zweifel.
"Du Irrer. Halte dich einfach von ihr fern. Und glotze sie nicht so an!"
Marko verdrehte die Augen. Schmierig und in tiefem gelb gehalten floss der Speichel von seiner Stirn abwärts über sein Gesicht. Erst als das Muskelpaket unter Jubelstürmen abgedreht war, wischte sich Marko die teerhaltige, dickflüssige Substanz mit seiner Hand ab und schnallzte es auf den Boden vor sich.
Teer zu Teer. Asche zu Asche. Es roch nach Benzin. Es war heiß. Sie lag einfach nur da.
"Sprich!", er brauchte eine Antwort.
Eine Hand riss ihn an seiner Schulter aus dem Schlaf.
"Da ist jemand für dich."
"Wo?"
"An der Tür. Hast du die Klingel nicht gehört."
Es war sie. In einem roten Mantel. Ihr mittellanges Haar, leicht gekräuselt wiegte sich im Wind.
"Du?"
Er spürte den Wind kaum, darum zog er auch keine Jacke an.
"Ich zeige dir die Stadt."
Wäre ihm das Wort 'Wieso' unmittelbar in den Sinn gekommen. Es hätte die Fragen treffend beschrieben, all die Fragen, die nur eine waren.
Die Straßenlaternen schalteten sich auf Kommando ein. Ein paar Hunde bellten. Ansonsten Stille. In Markos Kopf. Und so schlenderten sie ohne Worte durch die Straßen. Links, rechts, rechts, links. Weiter.
"Wo gehen wir hin?"
"Ich weiß nicht. Ich wollte mit dir reden."
"Worüber?"
Er wartete kurz. Sie antwortete nicht.
"Du denkst ich spinne, nicht?"
"Nein."
"Du musst denken, dass ich verrückt bin. Alle denken das."
Sie blieb stehen. Marko schaute sich um. Ein kleiner Park hatte sich um die beiden versammelt. Gras, Bäume, Sträucher, und sogar eine kleine Parkbank.
"Wo sind wir?"
"Das ist der Stadtpark. Du warst noch nicht hier, was?"
Sie setzte sich.
"Nein. Nur bei Nachbarn. Grillen. Kaffee."
Er ließ sich auf die Bank sinken.
"Viel gibt es hier nicht. Du hast recht."
Mit dem rechten Zeigefinger hob sie sanft die Haare vor ihrem Gesicht hinter ihr Ohr. Um ihn besser sehen zu können. Marko schaute dem Finger nach.
"Ich kenne dich.", brachte sie unvermittelt vor. "Ich kenne dich. Ich habe von dir geträumt."
Die Welt legte sich vor Markos Augen leicht schief. Da saß sie. Schwarz in Grau. Er schwieg.
"Jetzt denkst du sicher, dass ich spinne.", sie lächelte verlegen.
Er schwieg. Kannte sie das Ende? Sie wäre nicht hier, wenn...
"Ich hatte gehofft, dass es dir vielleicht ähnlich geht, so wie du mich..."
Auf seiner Zunge perlte der Geschmack von Blut.
"Es geht nicht..." nuschelte er beim Aufstehen.
Er schaute sich nicht um. Doch er sah sie vor sich. Jeden Augenblick.
Der Bus hielt zischend an. Sein Kopf neigte sich leicht nach vorne und fiel wieder zurück. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn seine Mutter ihn gefahren hätte. Er kannte die Melodie, die dieses widerwärtige Kind summte. Ihm wollte der Name nicht einfallen. Die Scheibe war leicht glitschig. Kondensationswasser. Einfachste Physik. Er stand auf. Der Bus war schon leer.
Ein Schlag und er ging zu Boden.
"Finger weg! Hatte ich es nicht gesagt?"
Er spuckte Blut aus. Tritte. Von mehr als einem Stiefel. Wie Grashüpfer sprangen sie durch die Luft. Und trafen ihn immer im Moment ihrer höchsten Geschwindigkeit. Viele einzelnen Schmerzen wurden zu einem. Einem großen. Einem allumfassenden Weltschmerz. Und er kristallierte sich in ihm.
"Der Bus ist da."
Nein. So sollte es enden. Auch wenn es das nicht würde. Es tat nicht weh. Nicht mehr.
"Hey du!"
Neben ihm lag sie. Und sie hatte einen Namen. Mia. Ein schöner Name. Schwarzes Haar. Es passt so gut zu rot. Und es tut so weh.
Seine Augen öffneten sich, wie sehr er sich auch dagegen wehrte. Und ein neues Bild präsentierte sich. Weniger farbenfroh. Das summende Kind nahm dank seiner Körperfülle fast den gesamten Ausschnitt in Besitz.
"Der Bus ist da."
"Leck mich am Arsch, ich will nicht."
Das Kind drehte sich ausdruckslos um und zuckte mit den Schultern. Marko ging nach links. Er hätte auch nach rechts gehen können. Es war ihm egal. Selbst das Gras wollte nicht grün sein. Er riss einen Zaunphahl aus und bestrafte es. Er schlug es. Es wollte nicht bluten. Keiner wollte das. Er rannte die Straße entlang. Es roch. Aber er wusste nicht wonach.
Es klingelte. Telefon. Er konnte bis sieben zählen.
"Warst du nicht in der Schule?"
"Nein."
Seine Mutter wartete einen Augenblick.
"Telefon für dich."
"Ich will nicht."
"Es ist ein Mädchen. Sie wollte dich sprechen."
Sie hielt ihm den Apparat hin. Er nahm ihn und schlug die Tür hinter ihr mit dem Fuß zu.
"Ja?"
"Geht es dir gut?"
"Ja."
"Lar... mein Freund wollte dich... vor der Schule..."
"Ich hatte nur keine Lust."
"Willst du heute Abend mit mir ausgehen?"
"Was ist mit deinem Pitbull?"
"Der ist auf einem Fußballturnier."
"Woher weißt du, dass ich ja sage?"
"Weil du wissen willst, wie es weitergeht."
"Weißt du es?"
Sie schwieg.
"Ich hol' dich ab. 21 Uhr."
Sie schwieg.
"Wo wohnst du?"
"Gegenüber."
Ein helles knacken. Die Leitung war tot. Marko feuerte das Telefon gegen die Wand. Im Fenster konnte er ganz klein ihr lächelndes Gesicht erkennen. Er zog den Vorhang zu.
Lässiger Rock. Eine lange Theke. Eine kleine Tanzfläche. Es war noch kaum jemand gekommen.
"Ein Bier."
"Du musst doch fahren", grinste sie ihn an. Und sah dabei unglaublich süß aus.
"Ein Bier."
"Dann nehm' ich auch eins."
Fast hätte er lachen müssen.
Die knapp bekleidete Blondine nickte: "Zwei Bier."
"Ich habe auch von dir geträumt."
"Ich weiß." Sie nickte ihm zu. Sie schauten sich in die Augen. Er wollte nicht reden. Ein Gefühl uralt und gleichzeitig unglaublich jung zu sein. Es erfüllte ihn. Die Musik wurde lauter mit jedem Gast, der in die immer stickiger werdende kleine Halle trat. Das baufällige Gemäuer wurde von schweren Beats in Schwingung versetzt. Schweiß. Rauch. Alles war perfekt.
"Was willst du noch mit ihm?"
"Ich wusste nicht, dass es dich wirklich gibt."
Sie tanzten.
"Where is my mind?"
Es gab kein Feuer. Keine Angst. In seinem Kopf bebte es. Kein Gedanke wollte sich mehr zuende denken. Alles begann hier und jetzt. Neu.
Ein schwerer Arm schlung sich um seine Schulter und ein noch schwerer Körper ließ sich daran nieder. Die Blondine stellte Marko ein Wasserglas auf die Theke. Er schaute sich um. Lars. Offensichtlich sturzbetrunken.
"Na? Hier zum Saufen?" Er lachte. Es hallte. Die Musik dröhnte.
"Weiss'u! Wir können gute Freunde werden! Wenn du nur meine Freun'in in Ruhe lässt." Er nahm einen großen Schluck von Markos Wasser, reichte es einem seiner Freunde. Sie hatten sich hinter den beiden versammelt und schwankten unkontrolliert im Takt. Plötzlich hatte er sein Glas wieder in der Hand.
"Bis bald." Mächtige Pranken machten sich an Markos Haar zu schaffen. Es schien ihnen Freude zu bereiten eine Frisur zu entstellen. Und dann waren sie weg. Wo war? Sie stand da. Auf der Tanzfläche. Schimmernd in tausend Farben. Er schob sie vor sich her. Hinaus.
"Er ist da."
Stockfinstere Nacht. Eine Menge Autos. Und auch das seiner Eltern.
"Wovor flüchten wir?"
"Er war da. Hätte er uns zusammen..."
"Wieso hast du Angst?"
Er schaute nach rechts. Sie war es. Er musste sie in Sicherheit bringen.
"Verstehst du den Sinn nicht? Ich weiß nun endlich..."
Sie atmete tief ein: "Wenn man keine Kälte in den Lungen spürt. Was ist dann?"
Er spürte sein Herz erneut in seinem Kopf pochen.
Sie berührte seine Hand mit ihren Fingern: "Wenn man Berühren kann. Aber nichts fühlt?"
Die Straße zog sich zusammen. Sie wurde immer enger.
Die Bäume sprangen auf die Straße. Er musste ihnen ausweichen.
"Bist du bis zum Ende gekommen? Wie endet es?"
"Ich habe keine Angst..."
In diesem Moment schlug das Auto hart gegen einen Baum. Stille.
"Es ist nichts passiert, oder?" Er stieg aus dem Wagen. Sein linkes Bein reagierte nicht auf seine Befehle. Er fiel auf den Boden. Zwei Scheinwerfer tanzten auf ihn zu. Neben ihnen blieben sie stehen. Stimmen. Der Geruch von Benzin.
"Na du Arschloch! Fickst hier meine Freundin! Meinst du ich weiß nicht was abgeht?"
Einer der Jungs schmiss den Kanister wieder in das noch laufende Auto am Straßenrand. Ein tritt traf Marko in seinen Magen. Er krümmte sich. Rein körperliche Reaktion. Kein Schmerz.
"Weißt du... leck mich am Arsch..." Lars zündete ein Streichholz an und legte es auf das Dach des Autowracks. Benzin und Feuer. Marko atmete tief ein. Nichts.
Schlag um Schlag verließen ihn seine Sinne. Er hörte Musik. Und sah Mia. Sie stand einfach nur da.
Sie legte ihren Kopf schief, nahm einen Ast vom Boden auf und kam näher. Ein Schrei. Rein mechanisch.
"Du Hure!" Lars zog sein Messer aus ihrer Brust. Panik.
"Was hast du getan?" Lars' Freunde packten ihn und zogen ihn in ihr Auto. Er lachte. Sie sackte auf die Knie. Zwei Rote Lampen tanzten davon. Marko schaute ihnen nach. Mia fiel neben ihn auf den Boden. Er schaute sie an. Sie war wunderschön.
"Ist das das Ende?"
"Nein." Sie schüttelte den Kopf und lächelte etwas.
"Nur das Ende eines Traumes." Sie zog ihn an sich. Warmes Blut zwischen ihren Lippen. Sie küssten sich. Alles war so real.