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Traumfrau
Sieben Uhr morgens, der Wecker klingelt. Ich brauche einige Momente, um das Klingeln zu identifizieren. Ich drehe mich nach links und schalte ihn aus. Was ist hier eigentlich los?
Ich lasse mich wieder auf den Rücken fallen und starre an die Decke. Meine Augen lassen sich noch nicht fokussieren und gehen nur bis zur Hälfte auf. Mein Gehirn ist noch nicht hochgefahren. Irgendetwas ist anders an diesem Morgen.
Zunächst stellt sich die Frage, warum ich den Wecker auf sieben Uhr gestellt habe. Soweit ich mich erinnere, steht heue nichts an, also warum sollte ich so früh aufstehen? Meine Gedanken sind noch völlig vernebelt. Gerade als ich meine Augen wieder schließen will, nehme ich eine Bewegung neben mir wahr. Ein Arm legt sich über meine nackte Brust, und wäre ich schon bei vollem Bewusstsein, würde ich vor Schreck zusammenzucken. Aber so braucht mein Gehirn erst einmal ein paar Sekunden, um die Informationen zu verarbeiten, die ihm meine Nervenenden gerade gesendet haben.
„Na, gut geschlafen?“, murmelt eine verträumte Stimme von der anderen Seite meines Bettes.
Ich kann noch immer keinen klaren Gedanken fassen, schaffe es aber immerhin ein „Hm!?“ zu äußern.
„Ich auch.“, höre ich und im nächsten Moment bekomme ich einen trockenen Kuss auf die Wange gedrückt. Ich sammle sämtliche Kräfte des noch jungen Tages und drehe meinen Kopf nach rechts. Und da lächelt sie mich an – meine Traumfrau. Die Frau meiner Träume. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wie oft habe ich in den letzten Jahren von genau diesem Moment geträumt? Neben IHR aufzuwachen. Und jetzt, da er gekommen ist, kann ich es nicht realisieren. Vielleicht habe ich diesen Traum so oft geträumt, dass er mit der Zeit immer realistischer wurde. Vielleicht habe ich meinen Traum perfektioniert.
„Das ist es.“, denke ich mir und schließe wieder meine Augen. „Wenigstens kein Alptraum“, geht es mir durch den Kopf und ich bin schon wieder dabei wegzunicken.
„Du, ich muss jetzt los… bringst du mich zur U-Bahn?“
Moment mal, das ist aber neu. So etwas kam in diesem Traum nicht vor. Ich öffne meine Augen und starre sie an. Sie lächelt wieder – oder immer noch. Ich strecke meine Hand aus und kneife sie leicht in die Backe.
„Au! Was machst du denn?“
Langsam wird mir klar, dass das kein Traum sein kann. Aber ich bekomme die Fakten einfach nicht in meinen Kopf. Was macht meine Traumfrau hier in meinem Bett? Leide ich unter Halluzinationen?
„Kannst Du mir mal meine Jeans geben?“
Wie ferngesteuert ertaste ich eine Hose auf dem Fußboden neben dem Bett und reiche sie nach rechts weiter. Ich beobachte sie, wie sie mit einiger Mühe im Liegen ihre Jeans anzieht. Dann sieht sie mich wieder an und sagt: „die CD war echt superschön!“
Und da trifft es mich wie der Blitz. Die CD! Aber ja!
Zum dritten Mal in dieser Woche stand ich vor dem gelben Postkasten und hielt mein Päckchen unentschlossen in den Händen. Darin eine selbstgebrannte CD und ein Zettel mit meinem Namen und meiner Handynummer. Sonst nichts.
„Was tue ich hier eigentlich? Ich habe sie seit fast zwei Jahren nicht gesehen und nichts von ihr gehört. Ich weiß noch nicht einmal, ob sie noch bei ihren Eltern wohnt. Und was verspreche ich mir eigentlich davon, ihr eine lausige CD mit schnulzigen Liebesliedern zu schicken?“
Fragen über Fragen.
„Andererseits, was habe ich denn zu verlieren? Wenn ich jetzt nichts unternehme, dann kann ich noch jahrelang weiterträumen. Und eines Tages werde ich sie dann treffen, und sie hat einen Ring am Finger und schiebt einen Kinderwagen vor sich her.“
Ich öffne den Briefkastenschlitz mit einer Hand und schiebe das Päckchen mit der anderen hinein, ohne es aber endgültig loszulassen.
Ich blicke umher, hin und her gerissen. Auf der anderen Straßenseite hängt ein riesiges Werbeplakat an einer Fassade. Es ist schwarz und ein geschwungener Haken ist in Weiß aufgedruckt. Darunter steht in Großbuchstaben JUST DO IT!
Und ich tue es. ich lasse das Päckchen in den Postkasten fallen. Ich habe drei Anläufe gebraucht, aber jetzt habe ich es getan.
Wir laufen im diesigen Morgen Richtung U-Bahn. Die wenigen Menschen, die uns auf der Straße entgegen kommen, sind in dicke Jacken und Mützen gehüllt. Wir haben seit einigen Minuten nicht gesprochen, und das kommt mir gelegen, da ich noch immer versuche, die letzten Stunden zu rekonstruieren. Sie nimmt meine Hand und drückt sie kurz. Wir sehen uns an und sie lächelt wieder so verträumt. Sie sieht gut aus. Und glücklich.
Ich müsste auch glücklich sein. Verdammt, ich müsste der glücklichste Mensch auf diesem Planeten sein, aber ich kann es einfach nicht fassen.
Drei Tage lang hatte ich nichts von ihr gehört, nachdem ich das Päckchen eingeworfen hatte. Ich hatte versucht, einfach mit meinem Leben weiterzumachen, hatte mich vom Alltag treiben lassen und mich bemüht, nicht an sie zu denken. Es gelang mir ausgesprochen gut. Ich sah fern, aß, rauchte, schrieb E-Mails, ging mit Freunden trinken und vergaß das Päckchen schon fast.
Nur wenn ich nachts im Bett lag und nicht schlafen konnte, dachte ich darüber nach. Was würde sie wohl denken, wenn sie das Paket öffnete? Ob sie es schon bekommen hatte? Vielleicht hatte es die Post verschlampt. So etwas soll ja vorkommen. Hätte ich doch ein paar Worte dazu schreiben sollen? Ob sie sich überhaupt noch an mich erinnert? Vielleicht hat sie ja einen Freund und ich mache mich lächerlich. Ich hörte die beiden schon über mich lachen.
An Schlaf war nicht zu denken. Also stand ich auf und ging ins Bad. Ich machte das Radio an und beugte mich über das Waschbecken, um mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht zu klatschen.
Dann betrachtete ich mein Gesicht im Spiegel. „Was mache ich Idiot eigentlich?“
But if you try sometimes
You just might find
You get what you need!”
“Wenigstens habe ich es versucht.”, sagte ich halb zu Mick Jagger im Radio und halb zu meinem Spiegelbild. Ich ging wieder ins Bett, und plötzlich überkam mich die Müdigkeit, die ich seit Tagen aufgeschoben hatte. Eine Minute später war ich eingeschlafen.
Als ich wieder aufwachte, war es bereits hell draußen. Ich wusste, dass ich von einem Geräusch geweckt worden war, konnte es aber zunächst nicht zuordnen.
Ich lauschte dem Echo in meinem Gehörgang und mir wurde schlagartig klar, dass es das SMS-Signal meines Handys gewesen sein musste. Ich war augenblicklich hellwach und tastete mit zitternden Fingern nach dem Telefon.
„Dankeschön für die nette Überraschung. Hat mich echt gefreut. Wie kann ich mich bei dir bedanken?“
Mein Gehirn öffnete sofort die Schleusen und pumpte literweise Adrenalin und Pheromone in die Blutbahnen.
Den Rest des Tages war ich ein einziges Nervenbündel. Ich suchte stundenlang nach einer guten Antwort auf ihre SMS. Es schien mir enorm wichtig, den richtigen Ton zu treffen.
Erst am Abend und nach drei Bier fand ich den Mut zurückzuschreiben. Ich schlug vor, gemeinsam etwas trinken zu gehen. Prompt kam ihre Antwort zurück, und es entwickelte sich ein Dialog, in dem sich herausstellte, dass sie nicht mehr bei ihren Eltern wohnte, sondern in meiner Stadt! Sie war zwei Monate zuvor hergezogen, als sie hier ein Jobangebot bekommen hatte.
Wir verabredeten uns für den nächsten Abend. Und wieder eine schlaflose Nacht.
Am nächsten Morgen stand ich mit dem ersten Vogelzwitschern auf und begann wie ein Irrer die Wohnung auf Vordermann zu bringen.
Ich schruppte den Boden, überzog das Bett neu, putzte sogar die Toilette und redete mir dabei die ganze Zeit ein, dass das nichts mit dem Treffen zu tun hätte. Hausputz war sowieso schon lange fällig, und irgendwie musste ich mich ja ablenken.
Und schließlich würde sie nicht beim ersten Date gleich mit mir nach Hause gehen! Oder?
Als ich dann mit einer ausgiebigen Dusche auch meinen Körper generalüberholt hatte, war es auch schon an der Zeit aufzubrechen.
Ich kippte noch schnell zwei Gläschen Wodka gegen die Nervosität und machte mich auf den Weg. Unterwegs überschlugen sich meine Gedanken. Ich wusste nicht, was ich zu erwarten hatte.
Als ich sie schließlich am großen Brunnen, unserem Treffpunkt, stehen sah, fiel ich fast in Ohnmacht. Ich hatte insgeheim befürchtet, dass die lange Zeit, in der ich sie nicht gesehen hatte, meiner Phantasie einen Streich gespielt haben könnte. Aber sie war sogar noch bezaubernder, als ich sie in Erinnerung hatte.
Wir begrüßten uns etwas verlegen und machten uns dann auf den Weg in die nächste Kneipe. Auch die Befürchtung, dass wir keine Gesprächsthemen finden würden, erwies sich als völlig unbegründet.
Es lief hervorragend, und bald nahmen wir kaum noch etwas um uns herum wahr.
Wir blickten uns immer wieder sekundenlang in die Augen, und das Kribbeln in der Magengegend wurde zunehmend stärker.
Wir erzählten uns, was wir in letzter Zeit erlebt hatten. Wir lachten viel, und ich hatte das Gefühl, seit Jahren mit ihr an diesem Tisch zu sitzen.
Ich nahm einen großen Schluck von meinem Bier, nahm all meinen Mut zusammen und fragte sie schließlich, ob sie vielleicht meine Wohnung sehen wollte. Sie sagte nichts, nahm selbst einen Schluck von ihrem Bier, sah mir tief in die Augen und nickte.
Ich übernahm die Rechnung und bevor ich mich versah, saßen wir auf meinem frisch überzogenen Bett, reichten eine Flasche Rotwein hin und her und hörten Musik.
Ich fragte, ob sie einen Joint rauchen wolle, und wieder nickte sie nur.
Zehn Minuten später lagen wir nebeneinander und starrten an die Decke.
Sie fing an, leise zu kichern, und ich drehte meinen Kopf zu ihr, um sie zu fragen, was sie denn so lustig fände. Auf diesen Augenblick hatte sie gewartet. Ehe ich es begreifen konnte, presste sie ihre Lippen auf meine, und es war endgültig um uns geschehen.
Ich laufe von der U-Bahn Station zurück zur Wohnung, und es fühlt sich an, als ginge ich auf Watte. Alle Sinneseindrücke sind um ein Vielfaches stärker als sonst, und ich genieße sogar den leichten Nieselregen auf meinem heißen Gesicht. Ich bin verliebt! Ich lebe!
Am liebsten würde ich meine Botschaft mit riesigen Buchstaben an jede Wand in der Stadt schreiben:
„Carpe Diem“ – Nutze den Tag.
Oder vielleicht:
„Träume nicht dein Leben – Lebe deinen Traum!“.
Oder noch viel besser:
„Verschickt mehr CDs!“