Traumsonne
Klarissa erwachte aus einem sehr intensiven Traum, in dem sie über eine scheinbar unendliche Wiese lief. Die Wiese fiel leicht und stetig ab und ein wenig abseits auf der rechten Seite von Klarissa schlängelte sich ein kleiner Bach das sanfte Gefälle hinab. Klarissa sog genüsslich den Duft der gelben Blumen, die hie und dort aus dem Boden sprossen, in sich hinein. Voller Lebensfreude in die Luft springend vernahm sie das glücklich klingende Summen der Bienen, die geschäftig dabeiwaren, von einer Blüte zur nächsten zu fliegen um den frischen Nektar aus diesen hinauszusaugen.
Wie fühlte sie sich doch großartig, als sei diese eine Welt nur für die erschaffen worden! Dann wurde sie wach.
Traurig. Hier gab es keine Wiesen. Sie erhob sich aus ihrem Bett und schlurfte zu dem kleinen, runden Spiegel, der direkt neben der silbernen Metalltür, die zu dem angrenzenden Badezimmer führte, hing.
Der Spiegel, gerade dabei sein übliches Begrüßungszeremionell einzuleiten, wurde von Klarissa wie immer mit einer abwinkenden Geste zum Schweigen gebracht. Fast tat er ihr leid, denn, konstruiert zum Reden, fiel es ihm bestimmt wahnsinnig schwer, ihren täglich ignoranter werdenden Gesten standzuhalten. Sei es drum, rausschaffen würde sie ihn, gleich heute Nachmittag. Sie mochte diese Spiegel einfach nicht leiden. Sie betrachtete sich und stellte fest, dass die Sonne, die ihr eben noch in vollen Zügen in das Gesicht schien, noch schemenhaft hier und dort aufzuleuchten schien. Ganz automatisch presste sie ihre Hand auf die linke, beinahe noch sonnenbestrahlte Wange, um den Glanz einzufangen und festzuhalten, doch als sie ihre Hand wieder fortnahm, war das schwache Strahlen bereits verschwunden.
Dass ihr Zimmer ein Fenster besaß, was noch nicht zugemauert war, wunderte sie in diesem Moment aufrichtig, denn sie konnte nicht verstehen, wie man den Anblick des Draussen ertragen konnte, ohne sich niedergeschlagen in stetig einander umschliessenden Räumen immer und immer weiter in das Hinein zu verflüchtigen.
Die Menschen mochten ihr Draussen selber nichtmehr. Vor ihrem Fenster stand ein Baum. Der war grau-schwarzer Färbung und besaß , wie sie nun wusste, von des Stadtrats Ministern eigens angeklebte Blätter, die einst in einem unnatürlich grellen grün leuchteten. Half nichts, das Grün, nun sind sie ganz zum Ärger ihres Schöpfers, Herrn Dr. Fliedichbloß, Vorsitzender der Firma beinahe natürliche Naturutensilien und co., wieder grau-schwarz. In drei Wochen vielleicht würde der Stadtrat die alten durch neue Plastikblätter ersetzen. Das taten sie wohl, während die Menschen arbeiteten.
Hinter dem Baum eine Silouette einer Art von Grau, die jeden Künstler zum Jubeln bringen würde. Ungewöhnlich grau, fast schon magisch, beinahe fanatisch fantastischer Färbung.
Haus an Haus, dazwischen die toten Stämme mit den Plastikkronen.
Klarissa musste sich sputen, denn sie hatte eine Verabredung mit einem jungen Mann, der in der 30. Strasse in Boras lebte.
Wie sie mit ihrem schwrot- farbenen Roller "Megelastik", jetzt mit Luftkissen- Federung zur verführerischen Flugattrappe, so durch die 523, 5 Strasse in Bora- West düste, hörte sie auf einmal einen seltsamen, ihr aber dennoch bekannten Laut. Sie konnte sich nicht erinnern, wo sie diesen Laut schon einmal gehört hatte.
Von seinem lieblichen, gesangsgleichen Klang war jedoch nicht viel geblieben. Nun hörte sie den so liebevoll angestimmten Ton deutlich und sie sah eine Wiese und große Bäume. Für einen Moment spürte sie den Duft von frischen Wiesenblumen durch ihre Nase ziehen, doch als sie ihn in seiner vollen Schönheit mit einem großen Atemzug in sich aufnehmen, in sich abspeichern wollte, war der Duft bereits verschwunden.
Der lächerlich blächernd klingende Gesang blieb. Sie schaute sich nach der Lautsprecheranlage um und entdeckte daraufhin in einer der grau-grünen Plastikkronen das Abbild eines kleinen Buntspechtes, dem die mühsamen Versuche eines artengleichen Gesangs eingepflanzt worden waren. Blächern.
So weit war es also gekommen, dachte sie sich. Die Welt brennt.
Wo sind die Tiere, wo sind die Pflanzen, von denen sie so viel in ihrem Allknow- Computersystem hatte nachlesen können? Brennt die Erde, stirbt sie?
Und für einen Moment sah sie sie erneut vor sich, zum Greifen nahe, die Welt, in der es natürliche Bäume gab und Blumen, die nach Frühling dufteten und Bienen, die geschäftig vor sich hersummten, das Lied der Sonne, der Natur, der natürlichen Geborgenheit.
Sie sah eine Krähe, schwarzer Stolz, im Sonnenlicht glänzen, während diese mustern ihren Kopf schieflegte und ihr direkt in die Augen blickte. Es roch nach frischen Regen, der Waldboden unter ihren Füßen federte leicht, angenehm.
Als sie des Abends nach Hause zurückkehrte, beschloss sie sofort schlafen zu gehen, um sich zurückzuträumen, fort, in die Welt, die ihr soviel zu geben schien, in die Welt, in der sie sich zu Hause fühlte.
Und als sie eingeschlafen war, stand sie an einem Fluss, der breiter war als die finsteren Kanäle, die wie unheilvolle Giganten durch die Stadt schlichen.
Kleine Wasserfälle pletscherten das stetige Gefälle hinab und sie traf einen ihr bekannten Jungen, der ihr ein Kanu zeigte, in das sie sich ohne zu zögern hineinschwangen.
Gemeinsam ging es dann die Wasserfälle hinab, im Traum, einer Welt, die so viel Möglichkeiten aufweist, so viel Ungeahntes birgt, in einer Welt, in der ein Mädchen aus einer technologisierten, hoffnungslosen Stadt mit einem Jungen, aus einer von Krieg und Armut geprägten Welt die Wasserfälle bezwingt.
Am nächsten Tag wachen beide mit einem freudigen Leuchten auf dem Gesicht auf, in ihren Betten in ihren Welten, gerade noch beschienen von den wärmenden Strahlen der Sonne.