Trautes Heim
Trautes Heim
Es gibt Wünsche im Leben eines jeden Menschen, deren Erfüllung mit gewissenhafter Gründlichkeit vorangetrieben werden, getreu dem Motto ohne Fleiß kein Preis. Zu diesen Wünschen gehört das eigene Haus. Die eigenen vier Wände, in denen sich die Hausherren samt ihrer Kinder endlich entfalten können. Eigentum ohne lärmempfindliche Wohnungsnachbarn, bar jeglicher Anwesenheit eines Vermieters, der penetrant auf die Einhaltung seiner selbstkreierten, auf Büttenpapier geschriebenen und in Gold gerahmten Hausordnung pocht, die unübersehbar im Hausflur prangt. Ein Dokument gleich Moses Steintafeln, das einen stets daran erinnert, welche Ge- und Verbote zu befolgen, bzw. einzuhalten sind. Hier zwar nicht gottgegeben, sondern lediglich vom Hauswirt formuliert, dies aber mit aller Gründlichkeit und in epischer Länge. In unserem Fall von Überkopfhöhe bis knapp unter die Kniescheibe.
Nach achtjährigem Mieterdasein, geübt im Umgang mit violett ondulierten, dackeltragenden, keifenden älteren Damen ,der Vervollkommnung des kunstvollen Stapelns von ausgelagertem Mobiliar und Spielzeug in einem etwa handtuchgroßen Keller und der Fähigkeit die fünf Etagen bis in unsere Dachwohnung, natürlich ohne Lift, in bravouröser Manier mit gesamter Kinderschar inklusive Einkäufen in einem Zug ohne längeren Aufenthalt zu bezwingen.
Ein Kleinkind auf dem linken Arm, in dessen Verlängerung eine Tragetasche mit maximaler Befüllung am Handgelenk baumelnd und mit dem Schwung jeden Schrittes gegen das Schienbein schlagend. In der anderen Hand drei weitere Tüten mit Backsteinfüllung, die Handtasche um den Hals gehängt. Gleichzeitig zwei weitere Sprösslinge nur mit der Kraft der Stimme die Treppen hoch an allen Haustüren vorbei dirigierend, ohne dass die lieben Kleinen mit ihren Fäusten die Violettbehaarte heraustrommeln oder auf Fußmatten liegende Zeitungen in ihre Molekularstruktur zerlegen. Insgesamt eine Leistung, in der wir es zu meisterlichen Fähigkeiten gebracht hatten, gleich eines Raubtierdompteurs, den man zwecks Erhöhung des Nervenkitzels seiner Peitsche beraubt und statt dessen gefesselt hatte.
Als der vierte Rentennachweis unterwegs war, unsere Nachbarn auf meinen schwangeren Bauch nur noch süßlich-bitter blickten und unser Wunsch nach anstoßfreiem Auf- und Abgehen innerhalb der eigenen Wohnung übermächtig wurde, offenbarte sich die Lösung des Problems in Form eines sehr großen, sehr alten Hauses mit ebenso großem Garten, in der läppischen Entfernung von 600 km vom damaligen Wohnort.
Spontan beschlossen wir unser Leben umzukrempeln und uns von der Stadt weg, hin dem beschaulichen Landleben zuzuwenden.
Die nötigen Sanierungsmaßnahmen schreckten uns nicht, da der Liebste vom Fach kam. Durch die Gewissheit der richtigen Entscheidung, fühlten wir uns gegen kommende Widrigkeiten sozusagen natürlich imprägniert und schritten zur Tat, unserem Wohnleben neuen Schwung zu geben.
Eine der ersten Folgen beinhaltete die räumliche und zeitliche Trennung des Liebsten vom Rest der Familie. Mit dem Auftrag, innerhalb eines halben Jahres aus der Neuerwerbung ein wohnliches Heim zu machen und den zukünftigen Broterwerb zu sichern, wurde er in die Diaspora gesandt. Alle zwei bis drei Wochen die Familie für ein Wochenende besuchend, mutierte er mehr und mehr zum Möbelfahrer, da sämtliche Freunde und Verwandte, mit dem Hinweis „Ihr müsst doch jetzt so viele Räume füllen.“ Speicher, Keller und Garagen vom eingelagerten Mobiliar räumten und nebenbei die Kosten des Sperrmülls einsparten.
Innerhalb kürzester Zeit waren wir Besitzer von vier Kleiderschränken babylonischen Ausmaßes nebst diverser Doppel- und Einzelbetten, drei Schrankwände aller Stilrichtungen, sowie zwei Couchgarnituren in augenbeleidigendem Design plus unzähliger Kleinmöbel, Gardinen und sonstiger Aussteuerware, die offensichtlich schon bessere Zeiten gesehen hatten.
Da zeitgleich unser neues Haus von etlichen Decken und Wänden befreit und die Anzahl der nutzbaren Räume täglich weniger wurde, lagerten wir die Wohnbedarfsgaben unsererseits nun in Speicher, Keller und Scheune ein. Ich verwarf den Gedanken in der Scheune eine schwunghaften Gebrauchtmöbelhandel aufzuziehen und heute etwa zehn Jahre später sind die meisten Stücke weitergeschenkt oder der Sperrmüllpresse anheim gegeben. Wenn sich bei einer der vielen Transporte Geschenkgutes noch etwas Platz auf der Ladefläche fand, nutzten wir die Gelegenheit auch eigene Sachen auf den Weg in die neue Heimat zu schicken. Unter anderem auch eine Sonnenbank, die wir stolz in den 80er Jahren erworben hatten, als es noch zum guten Ton gehörte, Sommers wie Winters gleichmäßig geröstet zu sein, bis auf die obligatorischen hellen Flecken auf den Schulterblättern versteht sich.
Es begab sich, dass der Liebste des nächtens mit einer weiteren Fuhre auf den Hof des neuen Heims rollte und plötzlich wie aus dem Boden gewachsen, ein halbes Dutzend Dorfeingeborene auftauchte. Von der Neugierde getrieben, was der neue Mitbewohner heute wieder in den scheinbar endlosen Räumlichkeiten verstauen würde, packten alle wortlos die Möbelstücke und verteilten sie nach Gutdünken im Haus, u.a. auch Ober- und Unterteil der klassischen Sandwich-Sonnenbank. Ein solches Objekt, hier noch nie gesehen, aber doch als Leuchtmittel erkennbar, provozierte dann auch die Frage „Was wird denn hiermit beleuchtet?“ Eine nicht unberechtigte Frage, denn einige Zeit später fand ich in der örtlichen Tageszeitung einen Bericht über die Verhaftung einer Bande, die in einem Haus, ähnlich dem unseren einen schwunghaften Cannabisanbau betrieb, mangels Tageslicht mit etlichen UV-Röhren beleuchtet.
Vor dem Einzug in ein eigenes Haus haben höhere Mächte Mühen und Unbill gesetzt. Bei uns begannen sie mit den vorhandenen wohnlichen Einrichtungen.
Mit dem Kauf zu Beginn des Winters war an umfangreiche Baumaßnahmen noch nicht zu denken, aber wir hatten uns in den Kopf gesetzt einen Teil provisorisch einzurichten und Silvester im eigenen Heim zu feiern. In zwei leidlich nutzbaren Zimmern errichteten wir eine Art Wohnküche und einen Schlafraum. Strom wurde uns von der Gemeinde mittels eines Verlängerungskabels verfügbar gemacht, was innerhalb kürzester Zeit dazu führte, dass der Liebste und ich den Wattbedarf aller genutzten Elektrogeräte und deren mögliche Kombinationen auswendig wussten, unsere Kinder jedoch nicht und wir des öfteren im Dunkeln saßen.
Geheizt wurde mit zwei hässlichen Kachelöfen, man durfte nicht allzu lange das Haus verlassen, wollte man nicht in einen Kühlschrank zurückkehren. Eine Vorteil war dennoch nicht zu leugnen, das Wärmefach eignete sich wunderbar um die schweren Winterschuhe aufzuwärmen bevor man aus dem Haus ging.
Schwieriger war es die Bedürfnisse der Körperpflege und der geregelten Verdauung zu erfüllen. Zu unseren beiden Zimmern gehörte ein kleiner Nebenraum der über ein winziges Waschbecken und einen Wasserhahn verfügte, leider gab es nur einen Kaltwasseranschluss, welcher einen bei Benutzung schockgefrieren ließ. Auch nach der Installation eines fünf-Liter Heißwassergerätes wurde die gründliche Reinigung nicht unbedingt einfacher, dafür hatten wir jetzt regelmäßig Verbrennungen.
Echte Überwindung bedeutete der Gang zur Toilette, zwar gab es im ganzen Haus, das lange als Ferienlager genutzt wurde, etwa dreißig Kloschüsseln und zahlenmäßig ebenso viele Waschbecken, nutzbar war aber nur ein einsames Klo. Es war nicht einmal weit entfernt, sondern stand in einem Raum direkt neben unserer Wohnküche. Es handelte sich um einen alten Wintergarten, der, wie bei Wintergärten so üblich, rundum verglast war. Die exponierte Lage, wurde dadurch verschärft, dass das Grundstück noch nicht umzäunt war und sich die Dorfbewohner, zwecks Abkürzung einen Trampelpfad quer durch den Garten am Wintergarten vorbei geschlagen hatten. Gleichzeitig war dieses Freisichtklo nicht beheizbar, was bei Temperaturen bis 20 Grad unter Null die Sitzungen auf das allernotwendigste beschränkte. Ich beneidete die Kinder um ihr Töpfchen.
Eine erste Maßnahme betraf die Grenzziehung. Wir sind eine gesellige Familie, aber der Liebste und ich wollten nicht ständig mit einem Sack über dem Kopf den Klogang antreten und überhaupt, wo kämen wir hin, wenn jeder da lang ginge, wo er wollte. Ein dauerhafter Zaun erschien uns überflüssig, wir wählten eine stabile, bunte Weidezaunlitze, die nicht gleich jeder Windstoß zerreißen würde und mittels einiger Holzstecken gespannt wurde. Es war ein durchgreifender Erfolg, der zwar mit manch missbilligendem Blick kommentiert, aber durchweg akzeptiert wurde. Die schamfreie Verdauung war gesichert.
Nur einer wollte es genauer wissen. Am Morgen nach der Errichtung unserer persönlichen Bannmeile, also genauer gesagt sehr früh, als es noch sehr dunkel war, wurden wir von einem merkwürdigen Geräusch geweckt. Wir hörten ein kreischendes Aufheulen gefolgt von einem satten Krachen, das durch den hohen Schnee leicht gedämpft wurde. Danach ein Quietschen begleitet von leisem Stöhnen. Schlaftrunken wankten wir zum Fenster und spähten in die Dunkelheit. Langsam zeichneten sich die Umrisse eines seltsamen Stillebens vor unseren Augen ab. Der Garten war übersät von Papier, als hätte ein Flugzeug eine Fracht mit Flugblättern auf einmal abgeworfen. War dies Ausdruck des Ärgers der Eingeborenen, die so unvermutet ihres Weges beraubt, die Blätter vielleicht mit einer Botschaft an uns bedruckt hatten, die uns aufforderte den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen? Eine magere Gestalt rappelte sich aus einer Schneewehe auf und nun erkannten wir auch ein Mofa, das unweit neben seinem Besitzer im Schnee lag, die Reifen zeigten in die Luft und quietschten noch immer leise vor sich hin, in den Speichen flatterten einige Fetzten der Weidezaunlitze. Am Horizont erschien ein Streifen rosa Tageslichtes und in seinem zarten Glanz verwandelten sich die Flugblätter in die örtliche Tageszeitung. Der Zeitungsbote hat diesen Weg nie mehr benutzt.
Das Frühjahr kam und mit ihm diverse Baufirmen. Um die Kosten im erträglichen Rahmen zu halten engagierte der Liebste einige Hilfskräfte. Einer von ihnen war Harry. Harry hatte fast zwanzig Jahre im Kuhstall gearbeitet und sein Vokabular lag nur knapp über dem der ehemals betreuten Rindviecher. Seine Augen waren sehr schwach und trotz einer Brille, deren Gläser Flaschenböden nicht unähnlich waren, blinzelte er viel und durfte nie einen Führerschein machen. Aber Harry war sehr groß und sehr stark, seine Schlagkraft war sozusagen legendär. Eine verbürgte Geschichte berichtete von einem angriffslustigen Schafbock, den Harry mit einem Faustschlag vor die Stirn ins Land der Träume beförderte. Die Folge waren mehrere gebrochene Mittelhandknochen, aber auch ein lammfrommer Bock.
Harry war auf der Baustelle für das Grobe zuständig, wie Thor schwang er den Vorschlaghammer und ich schwöre mit eigenen Augen gesehen zu haben, dass er vier Zentner schwere Betonstürze schulterte wie unsereins einen Besenstiel. Nur einmal hat mich sein Anblick etwas verwirrt. Regelmäßig, wenn der Liebste zu seinen Wochenendbesuchen in die alte Heimat kam, brachte er auch eine Fülle von Fotos mit, um den Baufortschritt zu dokumentieren. Auf einem dieser Bilder, konnte man die Balken einer Zwischendecke erkennen, die entkernt als Gerippe einer neuen Füllung harrten. Die ganze Aufnahme war durch offensichtlich starke Staubentwicklung mit einer Art Nebelschleier verhüllt. Dennoch konnte man einen großen, eckigen Schatten auf den Balken stehen sehen.
Verwirrt fragte ich den Liebsten, warum er den Schrank dort hatte stehen lassen. Er warf einen Blick auf das Bild und erklärte lapidar: „Das ist doch der Harry.“
Im Oktober war es endlich soweit, unser viertes Baby war wenige Wochen zuvor geboren, die Wohnung gekündigt und der Umzugswagen unterwegs. Die Bauarbeiten waren noch längst nicht abgeschlossen, aber die wichtigsten Räume fertig, fast.
Die Fenster in Küche, Wohnzimmer und zwei Kinderzimmern fehlten, sollten aber eine Woche später geliefert werden. Drei Wochen später kamen die Terassentüren, leider waren sie einige Zentimeter zu kurz geraten. Der Meister kratzte sich gedankenvoll den Scheitel, nahm erneut die Maße und brachte zwei weitere Wochen später die neuen Türen. Diesmal waren sie zu groß. Mittlerweile war es Anfang November und wir wurden etwas unruhig, da wir nun schon einige Zeit das Dorf mitheizten. Beim dritten Versuch passten sie, in der Hektik hatte man lediglich die Sprossen vergessen, aber es wurde schlagartig wärmer im Haus.
Den ganzen Winter plante ich den Garten, ich kaufte in diversen Buchhandlungen sämtliche Fachliteratur auf, zeichnete und verwarf und erstellte Einkaufslisten. Entsprechendes Werkzeug wurde ebenfalls gelistet, ganz oben stand der Rasenmäher, nicht irgendeiner, nein, ein englischer Walzenmäher sollte es sein, einer mit dem man so schöne Schachbrettmuster schneiden kann. Siegessicher, weil gut informiert, betrat ich den ausgesuchten Fachhandel und verlangte einen Motorwalzenmäher, ausreichend für 2000 qm Rasenfläche.
Der Händler fragte nur knapp, wo denn die Mähfläche genau liege. Etwas irritiert nannte ich ihm die Ortschaft, waren Bodengüte und Mikroklima etwa auch geräteentscheidend?
Der Händler lächelte fein, er kenne die Gegend, er wohne in der Nähe, ob ich denn schon den Löwenzahn erzogen und die Maulwürfe dressiert habe, da ein Walzenmäher lediglich einen Rasen von der Güte eines Hochflorteppichs schneiden könne.
Ich habe mich dann für einen Rasentrecker entschieden, dem die Schlaglöcher nichts ausmachen und der auch Maulwurfshügel einebnet.
Wir wohnen in unserem Haus jetzt im zehnten Jahr, ein fünftes Kind bewohnt die weiten Räumlichkeiten, die immer noch nicht komplett fertiggestellt sind und manches Mal sehne ich mich nach einer Mietwohnung, wo ich nur den Vermieter anrufen muß, wenn die Klospülung nicht funktioniert oder ein Fenster klemmt, aber nur manchmal.
Zur Zeit bauen wir eine Einliegerwohnung aus, es haben sich sogar schon potentielle Mieter beworben. Deswegen sitze ich gerade an meinem Schreibtisch und entwerfe eine Hausordnung, nur für den Fall der Unstimmigkeit, damit alle Beteiligten wissen, woran sie sich halten können. Ich glaube sie wird gelingen, leider passt sie in keinen handelsüblichen Rahmen. Macht nichts, kann man ja anfertigen lassen, ich glaub in Gold sähe er sehr hübsch aus.