Tre Giorni
Die Uhr tickte laut. Sie brachte Unruhe in das Zimmer, erschütterte es jede Sekunde wieder mit einer kleinen Explosion, wenn der rote Sekundenzeiger erneut vorrückte. Er war länger und dünner als die beiden schwarzen Zeiger für Minuten und Stunden. Er sah schärfer aus, gefährlicher, bedeutsamer.
Das Leben besteht nicht aus Minuten oder Stunden. Man kann sich am Ende des eigenen Lebens nur noch an Bruchstücke, an ganz besondere und wichtige Momente erinnern. Und die dauern keine Stunden oder Minuten, sondern nur Sekunden. Es sind Augenblicke, die man vielleicht versäumt hätte, wenn man in diesem einen Moment, in dieser Sekunde geblinzelt hätte. Es sind kleine Explosionen in unserem Kopf, die uns zu dem machen, was wir sind, und die uns immer bewegen.
Unsere Erinnerungen bestehen aus Sekunden.
Und jede Sekunde, die der rote Zeiger überbrückt, könnte eine dieser Besonderen sein. Aber für die Uhr ist jede Sekunde gleich. Sie bewegt ihre Zeiger immer im gleichen Takt. Ohne sich beeindrucken zu lassen und ohne den Sekunden die Möglichkeit zu geben, ihre eigene Bedeutung für die Menschen zu verstehen.
Die Uhr ist ein Metronom.
Sie gibt uns Rückhalt, wie ein Metronom einem Musiker den Rücken stärkt. Egal wie oft man aus dem Takt kommt, immer wieder kann man zu den auf der Uhr immer gleich langen Sekunden zurückkehren.
Die Uhr ist eine großartige Aufführung. Sie bleibt mit ihren Minuten und Stunden und Sekunden immer gleich und kommt nie aus dem Rhythmus.
Doch der Sekundenzeiger lässt mit jeder Bewegung die Bühne erschaudern und lenkt die Blicke auf sich, wie ein überaus talentierter, aber auch überaus selbstverliebter Solist. Der Sekundenzeiger füllt die Bühne mit jeder Bewegung.
Wenn die Vorstellung beginnt, hört man zuerst nur die leisen, gleichmäßigen Bewegungen, aber mit jedem Schlag wird die perfekte Inszenierung des Stückes deutlicher, mit jedem Moment wird uns klarer, was der Zeiger darstellt und mit jeder Sekunde, die er füllt, werden unsere Gedanken leerer.
Damit eine Sekunde zu etwas Besonderem wird, muss sie unser Herz bewegen, nicht unser Gehirn.
Genauso ist es auch bei der Oper. Man kann eine wirklich gute Aufführung von all den anderen missglückten leicht unterscheiden. Sie muss in unserem Herzen ankommen und dort auch einen Platz finden. Der Gesang des Tenors im letzten Akt muss noch immer in uns nachklingen, wenn wir schon längst in unseren Betten liegen. Der Rhythmus der Lieder muss uns immer wieder einholen, ob im Auto oder beim Einkaufen, und uns mitwippen lassen.
Wenn die Oper in uns lebt, dann ist sie gut.
Die Gleise kreischten laut, doch die Bahn schien unbeeindruckt weiter zu fahren. Kaum merklich wurde sie langsamer. Es passte nicht zusammen, wie bei einem schlecht synchronisierten Film, wenn man die Worte bereits hört, bevor der Schauspieler seinen Mund öffnet. Die Bremsgeräusche waren, in Relation zu dem, was sie bewirkten, viel zu laut.
Aber trotz der falschen Laute kam der Zug zum Stehen. Es dauerte nicht lange, bis sich die Türen öffneten und eine riesige Menschenmasse verzweifelt versuchte auszusteigen. Es war eine seltsame Angewohnheit der Menschen, immer die gleichen Fehler wieder zu machen. Die meisten fuhren Tag täglich mit dem gleichen Zug und immer um die gleiche Uhrzeit, aber dennoch schafften sie es selbst nach Jahren nicht, ohne Drängeln und Schreien hinauszukommen. Beim Einsteigen war es wieder das gleiche Spiel, keiner konnte warten. Jeder musste als erstes in den Zug.
Beifall brandete auf und die Vorhänge schlossen sich.
Ihr Herz hämmerte gegen die Brust, jeder Atemzug schmerzte, aber das war sie gewöhnt. Der letzte Ton war lang und hoch und bei jeder Probe hatte sie sich danach ausgelaugt gefühlt. Es war der richtige Ton um den letzten Akt zu beenden. Er machte nicht nur das Stück fertig, sondern auch die Sängerin.
Sie holte einmal tief Luft und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Die Vorstellung heute war großartig gelaufen. Alles hatte gestimmt. Das war selten bei einer Erstaufführung, alles war noch neu und ungewohnt. Die Hände hatten mehr als sonst vor dem ersten Lied gezittert. Das Herz hatte schneller als sonst vor dem ersten Ton geschlagen. Die Zuschauer waren kritischer als sonst bei jeder anderen Vorstellung
Die Erstaufführung war entscheidend für den Erfolg der Oper. Wenn sie gelang, stand dem Erfolg kaum noch etwas im Wege.
Noch immer war das Klatschen des Publikums zu hören, es umgab sie und machte die stickige Luft hinter der Bühne erträglich. Für den Applaus am Ende war sie bereit vieles zu ertragen. Sie ignorierte den Staub, der in ihrer Nase kitzelte. Sie vergaß das juckende und unbequeme Kleid, in dem sie seit drei Stunden steckte. Sie beachtete ihren Durst nicht.
Und alles nur für diesen einen Moment.
Sie schlug wieder die Augen auf und richtete ihren Blick geradeaus auf den Vorhang. Gleich würde er sich wieder heben und die Sicht auf das Publikum freigeben.
Ihr Herz pochte noch immer, nun aber wegen der Freude. Sie hatte es geschafft und der Jubel dort draußen galt ganz allein ihr.
Endlich war sie in der Welt der Oper angekommen.
Der Zug beschleunigte, als er aus dem Bahnhof ausfuhr. Draußen rauschten zahllose Häuser vorbei. Es dämmerte langsam. Die heranziehende Dunkelheit legte der Stadt einen Schleier über. Die Farben wurden sich immer ähnlicher, die Ecken und Kanten runder und die Schatten größer, bis irgendwann alles zu einem tiefen Schwarz verschmolz. In der Nacht sind alle Katzen grau, heißt es. Und alle Menschen gleich.
Man könnte es beinahe glauben, wenn nicht um kurz nach 21 Uhr die Straßenbeleuchtung entflammt werden würde. Sobald die Lampen ihr Licht auf die Straßen, Gassen und Wege hinabfallen lassen, ist der Zauber wieder verflogen.
Und die Katzen sind nicht mehr grau.
Es fing gerade an zu regnen, als sie durch den Hinterausgang das Theater verließ. Es hatte noch lange gedauert, bis alles geregelt war.
Sie hatte erwartet, dass die Vorstellung mit dem letzten Lied beendet sein würde. Vielleicht noch ein zwei Zugaben, aber dann wäre sie fertig.
So schnell war es dann aber nicht gewesen. Der Applaus hatte gar nicht mehr aufgehört, die Zuschauer verschwendeten keinen Gedanken daran, sich aus ihren Sitzen zu erheben. Und so waren es deutlich mehr als zwei Lieder gewesen, die sie erwartet hatten, nachdem der Vorhang sich erneut erhoben hatte.
Aber selbst nachdem die Aufführung endgültig beendet war und auch die letzten Zuschauer denn Saal verlassen hatten, war das Ende ihres Arbeitstages noch nicht in Sicht.
Es war ihr wie ein Tanz vorgekommen, den sie in dem Eingangsbereich vollführt hatte. Hier hatte sie eine Hand schütteln und da ein paar Fragen beantworten müssen. Alte Frauen wollten mit ihr reden, über die Geschichte der Oper oder die Geschichte des Opernhauses, über die Arien, die ihr zu Ruhm verhelfen sollten oder über die sagenhaften Kleider. Zuschauer wollten ihr gratulieren und selbst ein Filmteam wollte zu einem Beitrag über die Inszenierung wissen, wie sie ausgerechnet zu diesem Theater gekommen sei.
Es war ein Walzer gewesen, langsam und gemächlich, ohne das Ziel, irgendwann einmal zu enden.
Als auch die letzten Leute gegangen waren, war sie am Ende. Ihr Magen war leer, ihr Hals rau und trocken und ihre Beine schmerzten nach Stunden auf hohen Absätzen furchtbar. Nicht zuletzt spürte sie auch ihre Mundwinkel, die noch immer leicht hochgezogen waren. Das Lächeln, das am Ende des letzten Aktes von selbst auf ihr Gesicht gewandert war, war steif. Ihr Mund schmerzte.
Als Kunststudent lernt man viel über die Welt. Man lernt was Schönheit und Harmonie bedeuten, und dass das eine nichts mit dem anderen zu tun haben muss. Man lernt, was Farben bedeuten, was sie uns sagen. Man lernt, dass alles Kunst sein kann, egal wo man es antrifft, dass alles im Auge des Betrachters liegt. Man lernt, dass alles und nichts Kunst ist.
Und man lernt kritisch zu sein.
Der Zug stoppte. Auch wenn man in ihm saß, passten Geräusch und Bewegung beim Bremsen nicht zusammen.
Seine Schritte auf den Pflastersteinen hallten gedämpfter als sonst, genauso wie die der anderen Leute, die zusammen mit ihm ausgestiegen waren.
Nach dem Regen gestern waren die Straßen immer noch etwas feucht. Alle Geräusche schienen, genauso wie seine Schritte, viel gedrückter als sonst. Es klang nach einem Sommertag vor vielen Jahren, als er sich als kleiner Junge Watte in die Ohren gestopft hatte.
Von dem Boden stieg Wärme auf. Die Luft war klar.
Es war ein heftiger Regen gestern Nacht, aber er hatte all die Hitze und den Dreck der letzten Tage abgewaschen. Die Stadt wirkte sauber und frisch, geradezu einladend. Viele Familien und Freunde hatten heute Nachmittag etwas unternommen. Das Parkbad und die kleinen Seen und Parks waren alle überfüllt gewesen. Es war ein schöner Tag gewesen.
Die frische Luft tat ihr unsagbar gut. Sie kühlte ihre Lungen von innen, während der hinabfallende Regen den Körper von außen erfrischte.
Sie schaute auf die Uhr, das Taxi sollte bald kommen. 15 Minuten würde es dauern, hatte der Mann am Telefon gesagt.
Noch einmal dachte sie an den lauten, nicht enden wollenden Applaus. Es war ein traumhaftes Gefühl gewesen. Sie liebte es. Und für diese Momente hatte sich alles gelohnt, die harten Proben, die schmerzhaften Schuhe und auch das lange Reden nach der Aufführung.
Es war tausendmal besser gewesen, als sie es sich je erträumt hatte.
Eilig ging er die Treppe hinauf. Sie hatte nicht geöffnet, als er geklingelt hatte, aber das hatte ihn nur wenig gewundert. Gestern war die Uraufführung der Oper gewesen, vermutlich schlief sie also noch. Die letzten Wochen waren sehr anstrengend für sie gewesen. Oft begannen die Proben bereits am frühen Morgen und gingen dann bis tief in die Nacht hinein. Da war es also nicht weiter verwunderlich, dass sie nach so viel Arbeit und Anspannung, nach so wenig Schlaf einmal einen Tag durchschlief. Für so einen Fall hatte er schließlich einen Schlüssel.
Der große Blumenstrauß in seiner Hand war sperrig und behinderte ihn ein wenig. Vorsichtig hielt er ihn vor sich. Der Strauß war teuer gewesen, viel zu teuer für einen Studenten, aber als Glückwunsch für die erfolgreiche Erstaufführung der Oper genau richtig. Die Kritiker hatten sich glatt überschlagen vor Begeisterung. Von einem aufgehenden Stern am Opernhimmel war die Rede gewesen und von einer zweiten Anna Netrebko. Am besten hatte ihm allerdings die Überschrift der Süddeutschen Zeitung gefallen. „Ein Engel für Nürnberg.“ Und insgeheim hatte er sich gedacht, dass es sein Engel war.
Sein Atem ging unregelmäßig, als er die letzten Stufen zu ihrer Wohnungstür hinter sich brachte. Es waren wirklich viele Treppen bis zu ihrer Wohnungstür. Er verschnaufte kurz, dann drehte er den Schlüssel im Schloss und drückte die Tür auf.
Leise durchquerte er den engen Flur und das kleine Wohnzimmer und trat in das dunkle Schlafzimmer ein.
Die Jalousien waren alle heruntergelassen und die Luft roch beinahe abgestanden.
Nach und nach zog er die Rollos hoch und öffnete ein paar Fenster.
„Gutes Wetter heute, meinst du nicht?“
Lächelnd drehte er sich um und ging in die Hocke, sodass sein Kopf auf der gleichen Höhe wie ihrer war.
„Alina, langsam wird es Zeit aufzustehen.“
Sie hatte das Gefühl, die Fahrt in dem Taxi dauerte ewig. Immer wieder nickte sie ein, um kurz darauf wieder benommen aufzuwachen. Immer wieder rutschte ihr Kopf, den sie auf den abgestützen Arm lehnte, von der Hand. Ihr Kopf erschien ihr riesig und schwer, wie eine Bowlingkugel, die vollkommen sinnlos auf dem Hals sitzt. Ihre Knie schmerzten und ihr rechter Fuß war eingeschlafen. Sie wollte endlich ins Bett.
Immer wieder versuchte sie ihre Augenlieder zu heben um zu sehen, wo das Taxi inzwischen war, doch sie schaffte es nicht. Alles blieb schwarz. Und wieder schlief sie ein.
„Willst du denn nicht die Kritiken lesen?“
Sie reagierte nicht. Ihr Gesicht blieb genauso ruhig und friedlich wie zuvor. Sie musste wirklich tief schlafen.
Leise stand er auf, ging in die Küche und setzte Teewasser auf. Tee tat ihr sicher gut, wenn sie aufwachte. Er hatte es in den letzten oft Wochen erlebt, nach jeder Probe hatte sie viel Durst. Und wer wusste, wie viel sie gestern noch getrunken hatte?
Vorsichtig nahm er die Tasse Tee und kehrte in das Schlafzimmer zurück.
„Na wach schon auf, mein Engel!“ Er rüttelte an ihrem Arm, doch sie wachte noch immer nicht auf.
Er zog die Hand zurück. Ihr Arm war viel zu kalt.
Sie schwankte durch die Wohnung. Ihr Kopf war kaum noch in der Lage einen neuen Gedanken zu fassen. Ins Bett, nur noch ins Bett wollte sie. Die weichen Kissen, die wärmende Decke.
Die Tasche ließ sie einfach fallen und ging weiter in das Schlafzimmer. Sie war so müde.
Das Umrisse des Bettes in der dunklen Wohnung machten sie so glücklich wie noch nie. Endlich konnte sie schlafen. Sie ließ sich in die Matratze plumpsen und zog die Decke über sich. Endlich konnte sie schlafen.
Als sie die Augen schloss, sah sie noch einmal die tobende Menge vor sich und hörte den Applaus, der sie sanft umschloss.
Unsere Leben besteht aus einzelnen Momenten, die uns prägen und die für uns alles bedeuten. Es gibt schöne, die uns immer glücklich machen werden und weniger schöne, die wir vergessen möchten.
Unser Leben besteht aus besonderen Augenblicken, die wir vielleicht verpasst hätten, wenn wir gerade geblinzelt hätten.
Unser Leben besteht aus Sekunden, aus lauter kleinen Explosionen. Aber während diese Sekunden unser Leben verändern, läuft die Uhr weiter. Wie ein Metronom.