Was ist neu

Treppe ins Wissen über den kleinen Unterschied

Seniors
Beitritt
01.09.2005
Beiträge
1.170
Zuletzt bearbeitet:

Treppe ins Wissen über den kleinen Unterschied

Christian hatte die Semesterabschlusspartys vom ersten Studienjahr an gehasst. Es war jedes Mal voll, laut, feucht und asozial in einem Maße, dass die Sportfeste seines Heimatdorfes mit ihren Saufritualen und den Schlägereien zu später Stunde dagegen einen intellektuellen Stimulus sondergleichen zu bieten schienen. All der Stumpfsinn, von dem er gehofft hatte, er würde in der Provinz hinter ihm zurückbleiben, war ihm in seine Studienstadt Berlin gefolgt. Hatte er zunächst gedacht. Dann hatte er irgendwann gemerkt, dass die Idiotie die ganze Zeit hier auf ihn gewartet hatte.
Es war nicht so, dass die Provinz oder ein Mangel an Bildung automatisch die Negation des Verstandes gebaren, das hatte er mittlerweile herausbekommen. Auch unter Studenten und Solchen, auf deren Netzhaut sich ein Leben lang die grellen Lichter der Großstadt gespiegelt hatten, gab es nämlich Leute, die es nach fünf bis zehn Bier für gnadenlos witzig hielten, mit zwei Rollen Klopapier die Toilette zu fluten.
Jörg und Paul hatten wie immer einen Mordsspaß. Wie sie so dasaßen und mit Kronkorken ziellos in die Menge unter sich schossen, hätte Christian sich am liebsten in den Arsch getreten, dass sie ihn wieder einmal zur Teilnahme an diesem kollektiven Rückfall ins Paläozoikum überredet hatten. Wenigstens war es hier auf der Treppe eher ruhig, so dass man den peinlichen, besoffenen Geschöpfen unten in der Haupthalle zugucken konnte ohne selbst hineingezogen zu werden in diese vielleicht dunkelste Stunde der Evolution seit der Erfindung der Nachmittags-Talkshow.
„Darf ich mal vorbei?“ fragte ein kleines, dickes Mädchen mit Brille und Dreadlocks und drängelte sich durch den Spalt zwischen Christian und dem Treppengeländer, ohne eine Antwort abzuwarten. Christian drehte sich um und sah ihr hinterher, bis sich die gläserne Schwingtür am Ende der Treppe wieder hinter ihr geschlossen hatte. Er hielt den Flaschenhals seines Bieres an die Lippen, ohne zu trinken, und fragte seine Begleiter: „Ist euch auch schon aufgefallen, dass da viel mehr Leute hochgehen, als zurückkommen? Ich meine...“
„Hm, jau!“ antworte Paul hastig und sabberte Bier auf sein Polohemd. Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Drei-Tage-Bart, so als wäre ihm dieses kleine Hoppala in seinem derzeitigen Zustand nicht scheißegal.
„Eigentlich ist von den Tusen, die da hoch sind, sogar nicht eine einzige wiedergekommen. Und nur Tusen, ich hab’ genau drauf geachtet.“
„Tja, was werden die wohl da oben machen...“ sagte Jörg in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass vor seinem geistigen Auge gerade ein Pornofilm ablief. Paul fiel in das leicht debile Kichern ein, Christian blieb ernst. Es bot sich eine willkommene Gelegenheit, für einige Minuten auf die Gesellschaft seiner berauschten Begleiter zu verzichten.
„Nein, im Ernst, ich glaub, ich geh’ mal nachsehen.“
„Warte, ich komm mit...“ stöhnte Jörg und erhob sich quälend langsam mit der Agilität einer rheumakranken Schildkröte, fiel aber zurück auf seinen Arsch, noch bevor Christian ‚Och nö’ zuende gedacht hatte.
„Geht nich’, Alter, zu voll.“
„Mach keinen Scheiß“, raunte Christian, als er die Treppe hinaufging. Er passierte die gläserne Schwingtür am Ende der Stufen, ohne sich umzudrehen.
Die leeren Gänge der Fakultät entlangzugehen, vorbei an Seminarräumen, deren Türen offen standen, an deren Tischen aber niemand saß, hatte etwas Unheimliches. Zunächst musste Christian bei dem Gedanken, wie sehr diese Situation aus einem x-beliebigen achtziger Jahre Horrorfilm zu stammen schien, lächeln, doch als er den Partylärm so weit hinter sich gelassen hatte, dass man fast nichts mehr hörte außer dem Summen der Neonröhren an der Decke, war ihm eher mulmig zumute. Als er gerade dabei war, zu vergessen, warum er überhaupt in diesen entlegenen Winkel der Universität gekommen war, hörte er weibliche Stimmen lachen. ‚Ach ja’, dachte er. ‚Genau, die Mädels.’
Er folgte den Stimmen, die er hörte, und erreichte schließlich ihren Ursprung. Eine offen stehende Tür gab ihm Deckung, während er das Geschehen innerhalb des Raumes in dem riesigen Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges beobachten konnte. Er rieb sich ungläubig die Augen, wie ein kleiner Junge unter dem Weihnachtsbaum, denn was er dort sah, konnte nicht wahr sein, und er begriff umgehend, dass er es niemals jemandem erzählen können würde.
Ein Mädchen, ihrem spießigen schwarzen Hosenanzug nach zu urteilen eine BWL-Studentin, lag auf einem der Tische, breitbeinig und mit angezogenen Knien, während die anderen um sie herum standen und rhythmisch klatschten, wobei ein jedes Klatschen von einem euphorischen „Hey!“ begleitet wurde.
„Ey, haltet mal’s Maul!“ quiekte die Umjubelte fröhlich. Der Sprechgesang wurde etwas leiser, das Klatschen der Hände zaghafter.
„Nein echt, haltet mal’s Maul jetzt, der Nächste geht richtig ab, das hab’ ich in den Eierstöcken!“ Christian sah, dass das Mädchen auf dem Tisch sich etwas vor den Hintern hielt. Bei genauerem Hinsehen handelte es sich bei dem Objekt um ein Feuerzeug.
„AhhAAH!“ stöhnte der Mittelpunkt der seltsamen Runde. Christian erkannte das Geräusch eines Feuersteines in Aktion, gefolgt von dem leisen „Fump“, das Signal, dass die Funken das Gas entzündeten. Dann erklang ein krachender, mindestens zwei Sekunden andauernder Furz, dem ein weiteres „Fump“ folgte, lauter als das erste. Das ausgestoßene Darmmethan hatte sich an der Flamme des Feuerzeuges entzündet. Eine gewaltige Stichflamme blendete Christian. Dann beleidigte albernes Gegacker seine Ohren.
Das also taten Frauen, wenn sie unter sich waren. Wenn sie die berüchtigten Frauenfilmabende machten, mit Bridget Jones und dann irgendwas mit Johnny Depp. Wenn sie sich heute mal bei einer Freundin trafen, aber sorry, nur für Mädels. Wenn sie zum Klo gingen, stets im Duett, so als seien ihre Blasen alleine nutzlos wie ein einzelner Schuh.
Das Mädchen auf dem Tisch verzog, offenbar unter Schmerzen, das Gesicht, und der begeisterte Applaus ihres Publikums ebbte langsam ab. Als es still war, fragte eine der Zuschauerrinnen, die Christian als die Dränglerin von vorhin mit der Brille und den Dreadlocks erkannte: „Ist alles o.k.?“
„Ich glaub schon“, antworte die Anal-Akrobatin und lächelte. „Der ist mir ein bisschen hoch in die Innereien gezogen. Wurde verdammt heiß für einen Moment. Au...“
Als Christian zum Fenster sah, indem sich das bizarre Geschehen spiegelte, bemerkte er, dass eines der Mädchen nicht voller Sorge die offenbar verletzte Furzerin betrachtete. Zwar war auch der Blick dieser Abweichlerin irgendwie besorgt, aber es war eine andere Art der Sorge. Nicht der Blick einer Mutter, deren Kind an Grippe erkrankt war, wie bei den anderen. Eher der einer Tigerin, die einen Großwildjäger dabei beobachtete, wie er sich ihren Jungen näherte. Die Tigerin starrte ihn an. Christian rannte los.
„Da ist ’n Kerl, da draußen war die ganze Zeit ’n Kerl, HINTERHEAAAR!“ schrie jemand, und Christian spürte, wie Angst versuchte, seine Muskeln zu lähmen. Zum „Tapp Tapp Tapp“ seiner eigenen Schritte auf dem Flur gesellte sich furchteinflößend das Stampfen von, wie es ihm schien, unzähligen Schuhen. Viele davon mit Absätzen. Bis zur der Tür, durch die er in diesen Albtraum getreten war, waren es noch mindestens zweihundert Meter. Christian rannte, ohne sich umzudrehen. Er hörte ihre Stimmen, die wütenden Schreie, und sie kamen näher: „Packt ihn!“ „Er darf die Halle nicht erreichen!“ „Haltet ihn festverdammtichwillseineAAAIIER!!!“
Die Tür. Er riss daran und spürte, wie etwas in seiner Schulter ebenfalls riss, quid pro quo. Aus dem Augenwinkel sah er jemanden heranrasen, einen Kometen aus Fleisch und Blut, dann stand er wieder auf der Treppe. Er lief sie hinab. Jörg war eingeschlafen und lehnte mit dem Kopf am Geländer. Ein Speichelfaden seilte sich aus seinem Mund ab und tropfte nachdenklich langsam auf sein T-Shirt. Paul hatte in jeder Hand ein Bier. Er sah zu Christian hoch und musste offensichtlich kurz überlegen, wer da vor ihm stand.
„Ach, hi.“
„Hi.“ keuchte Christian. Seine Lungen brannten.
„Und?“ fragte Paul.
„Häh?“
„Ja was geht da oben ab, man?“
Christian setzte sich neben Paul auf die Treppe und nahm ihm eines der Biere aus den Händen, wobei er gegen eine entschlossene aber kraftlose Gegenwehr ankämpfen musste. Er leerte die fast volle Flasche mit einem einzigen, gewaltigen Schluck und rülpste.
„Nichts.“ antwortete er. „Gar nichts geht da oben.“

 

Bitte Gnade vor Recht ergehen lassen, ist mein erster Versuch hier bei den Ulknudeln... :huldig:

Gruß,

Jan-Christoph

 

Hi Proof,

der Einstieg deiner Geschichte ist voller toller Formulierungen, witzig, schwungvoll - der Titel ist geil und verheißungsvoll.
Ab dem Mittelteil baut der Text dann aber sehr ab. Und vor allem das Ende: wolltest du die Geschichte so schnell fertig bringen oder warum ist der Schluss so unspektakulär? Da fehlt etwas...

Aber der Stil hat mich schon begeistert.

Details:

Das ausgestoßene Darmmethan hatte sich an der Flamme des Feuerzeuges entzündet
Hier musste ich lachen - Darmmethan??

„Hi.“ keuchte Christian. Seine Lungen brannten.
"Hi", keuchte Christian. Der Punkt verschwindet, dafür musst du aber ein Komma machen. Das kommt weiter unten nochmal.

In diesem Sinne
Ulknudel c

 

Hallo und vielen Dank fürs Lesen, chazar!

Warum baut der Text in der Mitte ab? Das muss ich genauer wissen, weil mir ist es nicht aufgefallen, sonst hätte ich die Geschichte ja nicht in der Form rausgehauen. Meinst du vielleicht, weil der Humor von Jetzt auf Gleich unter die Gürtellinie rutscht?

Das Ende, mmmmh... Weiß nicht. Ergab sich halt so. Was hättest du dir denn gewünscht? :confused:

Liebe Grüße,

Jan-Christoph

 

Also, ich finde, dass es am der Furz-anzünden-Stelle massiv abbaut. Treppe ins Wissen über den kleinen Unterschied - da rechnet man damit, dass es etwas wirklich, wirklich Beeindruckendes ist. Und nicht etwas so banales.
Du magst sagen: genau das ist ja der Witz.
Ich sage: das ist mir zu wenig. Ist aber Geschmacksache. Hat mit enttäuschten Erwartungen zu tun.

Und der Schluss: die Frauen verfolgen ihn (um ihr Geheimnis zu wahren), aber er entkommt ihnen - ohne Probleme. Und sie tun nichts (gar nichts), um ihn aufzuhalten. Warum eigentlich? Können sie nicht wieder zurück über die Treppe in den unteren Stock?
Das ist etwas unausgegoren.

Alles klar jetzt?

Grüße
c

 

Moin Proof,

Ich fand ziemlich witzig. Der Anfang hat ein paar sehr schöne Formulierungen und lustige Stellen. Als Chistian dann durch die Tür geht, baust du eine schöne Erwartungshaltung beim Leser auf, die dann angesichts des Pupswettbewerbs verpufft. Das hat mir, im Gegensatz zu chazar, ziemlich gut gefallen. Gerade weil es so banal ist. Geschmackssache.
Die Flucht allerdings finde ich ebenfalls wie mein Vorredner zu hektisch, sein Entkommen unbefriedigend. Er wird an der Schulter gehalten, öffnet die Tür und alles ist vorbei. Warum lassen ihn die Frauen in Ruhe, nachdem er durch die Tür war? Warum kommen sie ihm nicht nach? Aus Angst, jemand könnte auf ihr Ritual aufmerksam werden?

Ansonsten fand ich den Text aber ziemlich unterhaltsam.

 

Danke für die Reaktionen, chazar und gnoebel!

Warum kommen sie ihm nicht nach? Aus Angst, jemand könnte auf ihr Ritual aufmerksam werden?

Ja, so ungefähr hatte ich mir das vorgestellt. Na ja, wenn ich ehrlich bin, hatte ich vor meinem geistigen Auge nur die Vision von Mädchen/Frauen, die halt ein typisches "Jungs unter sich-" Verhalten an den Tag legen, und dachte, der Knalleffekt alleine würde für eine ganze Geschichte ausreichen. Mein Humor ist manchmal etwas vorpubertär. Ich find' auch Jackass super.

...

Uff, jetzt ist es raus. :D

Jedenfalls habe ich alles andere nur so um diesen Furzwettbewerb herumkonstruiert. Na ja, mal verliert man und mal gewinnen die Anderen.

Grüße,

Jan-Christoph

 

Ja, so ungefähr hatte ich mir das vorgestellt.
mach das im Text deutlich und ich bin glücklich :D
Na ja, mal verliert man und mal gewinnen die Anderen.
Wer redet vom Verlieren? Ich fand die Geschichte witzig.

 

Auch unter Studenten und Solchen
solchen
"Darf ich mal vorbei?" fragte ein kleines, dickes Mädchen mit Brille
"Darf ich mal vorbei?", fragte ein kleines, dickes Mädchen mit Brille
"Hm, jau!" antworte Paul hastig
Komma
"Eigentlich ist von den Tusen, die da hoch sind, sogar nicht eine einzige wiedergekommen. Und nur Tusen, ich hab' genau drauf geachtet."
Tussen
"Tja, was werden die wohl da oben machen..." sagte Jörg in einem Tonfall
Komma
Bis zur der Tür
zu
Er lief sie hinab.
hört sich komisch an, hab aber auchg rad keine Alternative
"Hi." keuchte Christian.
"Hi", keuchte Christian.
Hi Proof,
also, sind noch Wiederholungsfehler drin.
Zur Geschichte(ich hoffe mal, dass sie in Humor steht ...): Ja, doch, recht unterhaltsam. Nichts zum Lachen, eher was zum nach dem Lesen sich gut unterhalten fühlen. :)
Endlich weiß ich auch, was die Weiba da immer so machen, wenn sie alleine sind ;)
Fürze anzünden ... ein Klassiker, aber dennoch gut rübergebracht.
Bruder Tserk

 

Humor? Wieso Humor? :D Nee, passt schon.

Danke für die wie immer sehr ausführliche Bearbeitung.

Nichts zum Lachen,

Schade, war schon als Schenkelklopfer gedacht.

"Eigentlich ist von den Tusen, die da hoch sind, sogar nicht eine einzige wiedergekommen. Und nur Tusen, ich hab' genau drauf geachtet."
Tussen

Nochmal nee. Es handelt sich hier um Regionalslang bzw. Soziolekt. :bounce:

Ich weiß nicht, warum ich den Smiley dahin gepackt hab'. Ich wollte ihn nur einfach mal benutzt haben.

Gruß,

Jan-Christoph

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom