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Trick or treat?
Der Tag war lang genug gewesen. Warum hatten die Kunden gerade an Halloween immer irgendwelche Sonderwünsche, die Zeit kosten, die mich wieder und wieder in den Backraum trieben oder an das Regal mit den Süßigkeiten, den Verkleidungen, den Masken? Ich besaß so ein kleines Geschäft, ganz einträglich, denn auch wenn unser Dorf gerade mal 1243 Einwohner zählte, war der Weg in die nächste Stadt doch knapp 30km entfernt. Und Halloween war das mal wieder wie verhext, selbst gerade, als ich den Laden abschließen wollte, nur noch eine Umdrehung vom Feierabend entfernt, klopfte es plötzlich. Durch das Glas sah ich das Gesicht eines jungen Mannes, freundliche Augen und ein sympathisches Lächeln.
"Guten Abend, haben Sie noch geöffnet?"
Na, wo die Tür schon offen war, konnte ich schlecht Nein sagen, also: "Ja, wenn es schnell geht."
Der Mann griff in seine Tasche. Sekundenlang fiel mein Blick auf eine Schaufel, die immer neben dem Verkaufstresen stand. Wenn er nun eine Pistole ziehen würde... ich wäre gerüstet.
Schließlich zog er eine kleine Schatulle hervor, darin eine Uhr, auf rotem Samt. Das Zifferblatt war ein grünlich leuchtender, bei Dunkelheit sicher phosphoreszierender Totenkopf, die Zeiger waren wie Fingerknochen, in rot, sich langsam vorwärts bewegend. Fasziniert starrte ich sie an, hielt die Schatulle inzwischen fest umklammert, dann blickte ich auf. Doch der Mann war in der Dunkelheit verschwunden.
Verwirrt verließ ich das Geschäft, verriegelte die Tür und ging in Richtung Straße. Es war still, aber in den Fenstern brannten Lichter und leuchtende Kürbisse. Laternen waren erloschen, fahles Mondlicht nur ab und zu, denn der Himmel war wolkenverhangen, nachtschwarz. Alles glänzte, es hatte geregnet. Und dann waren da diese Schritte. Erst schneller näherkommend, dann verlangsamend, wenn ich anhielt um zu lauschen, verstummten sie auch. Ob das der Mann war? Durch die Kälte hatte ich das alles fast schon wieder vergessen, und ich wollte das auch einfach nur vergessen, schnell nach Hause, ein paar Bier und die Welt sah wieder anders aus.
Meine Schritte wurden immer schneller, ich achtete nicht auf Geräusche, nicht auf Quietschen, die letzten Meter rannte ich und stand schließlich keuchend vor meiner Wohnung. Kein Licht. Dabei müsste jemand da sein, die Kinder, meine Frau... Vielleicht war das alles ihre Art von Scherz? Natürlich, nur die Tür öffnen und die Überraschungsparty begann!
Ich öffnete die Tür, doch im Haus war niemand mehr. Ich durchsuchte das Haus nach einer Nachricht, oder irgendwas, schließlich wählte ich ihre Handynummer - Mailbox. Vielleicht waren sie nur noch kurz was besorgen gefahren? Ich rief bei der Schwester meiner Frau an, aber auch dort meldete sich niemand, ich fühlte mich allein und isoliert von der Welt. Panik machte sich breit, ich lief die Treppe ins Erdgeschoss - ja, sicher, vielleicht waren sie nur los, um mich vom Laden abzuholen und bei Nachbarn hängengeblieben? Ich rannte raus, nur um in völliger Dunkelheit zu stehen. Ich schloss die Augen kurz - gut, das war nur ein Trugbild, die Lichter waren wieder da, auch Geräusche. Die Schritte kamen näher, vielleicht auch das nur Einbildung - was konnte man noch glauben, in dieser Nacht?
Wie spät es inzwischen sein mochte? Eine - wenn auch merkwürdige - Uhr hatte ich ja nun. Ich nahm die Schatulle aus der Tasche, öffnete sie und sah...
Das Ziffernblatt hatte sich geändert, es war das Gesicht meiner Frau. An den Enden der Zeiger die Gesichter meiner beiden Töchter. Wie in Trance setzte ich mich auf den regennassen Asphalt, ich fühlte mich wie auf den Kopf geschlagen. Benommen. Gerade so nahm ich noch die Schritte wahr, die mich nun endlich erreichten, es war der Mann aus dem Laden.
"Vielen Dank", sagte er, "ich wusste, dass Sie mir helfen können."
Damit verschwand er zum zweiten Mal im Dunkel der Nacht.
*
Wie alt die Stadt war!
Nun Stadt mochte übertrieben sein, Städtchen vielleicht, größere Ansammlung von Häusern. Dorf. Nach dem erneuten Zusammentreffen mit dem jungen Mann war ich wie in Trance die ganze Nacht durchgewandert. Schlafen konnte ich nicht, so durchsuchte ich den nahegelegenen Wald, die umliegenden Grundstücke, schlug einen bellenden Hund mit einem Stock in die Flucht und erreichte schließlich die Straße, in der mein Geschäft lag. Weil ich keinen Schlüssel dabei hatte, brach ich die Tür kurzerhand auf, malte mir aus, wie ich einen Schadensfall für die Versicherung daraus machte, trank ein bisschen was aus der Whiskeyflasche, die ich zuerst greifen konnte und nach all der Verzweiflung, der Trauer, der Angst erreichte ich einen Zustand der Gleichgültigkeit.
Dieser half mir aber zum ersten Mal an diesem Abend einen einigermaßen klaren Kopf zu bekommen. Ich musste zur Polizei, schnell!
Seltsamerweise wusste jeder, dass man bei einer Vermisstenanzeige 24 Stunden warten musste, ehe man eine Meldung machen konnte. Natürlich hielt sich genauso fast jeder nicht daran, denn 24 Stunden Ungewissheit sind schon lang, wenn geliebte Menschen spurlos verschwunden waren. Genau so ging ich also auf das nächste Revier, unsere kleine Dienststelle gegenüber der Kirche, genau so erfuhr ich von den 24 Stunden, dass das alles nicht wahr sein durfte war klar, und genau so musste ich ein Verwarnungsgeld entrichten. Im Nachinein würde ich vielleicht auch seltsam reagieren, wenn ein mit Schlamm verschmierter, nach Whiskey stinkender Typ mein Geschäft betreten und herumpöbeln würde – für diesen Zweck hatte ich ja die Schaufel hinter dem Tresen stehen. Zugegeben, eine verschwundene Familie ist vielleicht auch eher Grund zur Sorge als nicht vorhandenes Bier.
Ich ging nach Hause. Die Lichter Halloweens waren schon lange erloschen, wie die Straßenlaternen, bei einigen Frühaufstehern gingen die Lichter an. Meine Uhr zeigte Viertel nach Vier, als ich endlich angekommen war, ich ließ mich in den Sessel fallen und hielt die geöffnete Schatulle in der Hand. Das Gesicht meiner Frau verriet Zuversicht, die Kinder schienen zu schlafen. Die Tatsache, dass die Uhr eine Art Eigenleben entwickelte, verwunderte mich nicht mal mehr, ich hatte fast damit gerechnet und es war zumindest ein Zeichen für mich, dass sie nicht tot waren. Sondern nur wo anders. Mit diesen Gedanken fielen mir die Augen zu, ich wehrte mich krampfhaft, bis ein Brennen immer stärker wurde. Dann gab ich nach und erwartete den Morgen.
Doch der Morgen kam nicht. Als ich erwachte, war es immer noch Dunkel – oder hatte ich über einen Tag geschlafen? In Büchern würden die Helden nun duschen gehen, sich erfrischen, Kaffee trinken und die Sache in geheuchelter Panik logisch angehen. Ich war kein Held, ich war nicht logisch, zum Duschen hatte ich keinen Nerv. Kaffee trank ich zumindest, schwarz, stark, bitter. Den ersten Schluck spuckte ich aus, den Rest kippte ich weg. Im Radio erfuhr ich zumindest, dass ich nicht mehrere Tage geschlafen hatte, denn es war der Morgen nach Halloween, kurz vor Fünf. Wie sehr sich Zeit dehnen kann – hatte ich nicht Stunden geschlafen?
In Gedanken ging ich Bücher und Filme durch, über Zeitreisen, Detektivgeschichten, in denen ich jetzt rausfinden müsste, wer die Uhr gebaut hatte, um so Rückschlüsse auf den jungen Mann zu finden. In Gedanken wanderte ich wieder los, durch die Nacht – zumindest den Laden wollte ich nun notdürftig wieder verriegeln. Es war ruhig, doch die ersten Laternen gingen an, keine Spur von Morgengrauen, stattdessen regnete es.
Wie alt die Stadt war!
Nun Stadt mochte übertrieben sein, Städtchen vielleicht, größere Ansammlung von Häusern. Dorf. Das Zusammentreffen mit dem Mann erschien mir so ewig her, genauso wie der ganze letzte Tag, die ganze letzte Woche. Mein gleichgültiges Leben. Jeden Morgen machte ich mich auf in mein Geschäft, wartete dort auf Kunden, und hatte gar nicht bemerkt, wie sehr sich Dinge ändern konnten, wie sehr man sich selbst ändern konnte, wenn man in immer den selben Bahnen immer das selbe tat, und sein Leben dennoch für aufregend und nicht-linear hielt. Und so war auch die Stadt nicht schön, wenn man mal hinsah, Gärten verrotteten, Dachziegel fehlten, alles vom Regen verfärbt, Moos, verfallene Häuser. All das fiel mir trotz der Dunkelheit auf, das Leben in einer Geisterstadt, Kinder zogen davon, die Alten starben. Leere. Nässe. Schwärze.
Zum ersten mal in meinem Leben fühlte ich mich allein. Unzufrieden.
Vielleicht war war das auch zum ersten mal ganz genau so.
Als ich an der Kirche vorbeikam, blieb ich fassungslos stehen. Der Turm war zu einer Seite weggesackt und lehnte halb, nein, stützte sich auf den Rest der Kirche. Ich blieb stehen, um zu lauschen, es war so unglaublich still in diesem Moment. Nur mein Atmen, mein Herzpochen. Schritte aus Entfernung. Zwanghaft löste ich mich aus meinem Erstarren, ging weiter die immer länger werdende Straße entlang. Als würde eine zusätzlich Schwerkraft wirken, war jeder Schritt eine Qual, wöährend ich kaum vorwärtskam rasten die Häuser an mir vorbei, bis ich erkannte, dass es lediglich verschiedene Zeiten waren, die selben Menschen, die ich als Kinder kannte, die die Stadt verließen, Freunde, Bekannte, Mitbewohner in meinem Alter, die auf die Achtzig zugingen, komplette Leben, die in Sekunden an mir vorbeizogen, mich überforderten, bis ich mich Zwang die Augen zu schließen, zu rennen, der Boden unter mir schien weich, alles um mich verschwamm, verschwamm, bis sich eine Hand auf meine Schulter legte.
„Geht es Ihnen nicht gut?“ fragte der Mann, der mir die Uhr geschenkt hatte. Er lächelte freundlich, sein Blick aber schien besorgt.
„Es geht schon“, keuchte ich hervor.
„Gut, Sie sehen aus, als hätten Sie gerade den Tod gesehen.“
Ich wäre froh, wenn es nur der Tod gewesen wäre, antwortete aber: „So ungefähr.“
Dann ließ der sanfte Druck seiner Hand nach, es verschwamm wieder alles. Als ich zu mir kam war es immer noch dunkel, ich lag allein auf dem Boden in meinem Geschäft, eine Decke über mir, unter mir ein paar Zeitschriften und Zeitungen. Licht brannte, so sah ich die Schlagzeilen: Zweiter Weltkrieg, Tschernobyl, Lendl gewann US Open, der Papst gestorben. Nixon zurückgetreten. All diese Zahlen und Fakten schwirrten mir durch den Kopf, zogen an mir vorbei, dazu Ergebnisse unseres Sportvereines, der Tod meiner Großeltern, Hochzeit, Geburt unserer zweiten Tochter, Familienfeste, Weihnachten. Halloween.
Im Schaufenster meines Geschäfts leuchtete ein Kürbis. Grinste mich an. Mit letzter Kraft, stand ich auf, nahm die Schaufel und schlug zu. Wenn sich meine Welt auch auf den Kopf gestellt hatte, dieser Kürbis würde mich nie wieder anlachen.
Und er tat es doch.
Nur Minuten später, als ich aus dem kleinen angrenzenden Lagerraum zurück kam und wieder den Laden betrat. Die Schaufel stand in der Ecke, wie unberührt. In dem Moment da sich alles drehte und meine Knie kurz davor waren, nachzugeben, schaute ich auf die Uhr, diese Nacht musste doch irgendwann vorbei sein!
Meine Frau schien zu schlafen, die Kinder ebenso. Ich küsste sanft die Uhr und flüsterte ein „Gute Nacht.“ Die Zeiger standen auf zwölf und vier. Zeit dehnte sich und verging.
Nun lief sie rückwärts.
*
Als ich erwachte war Tag und der Gesang von Vögeln weckte mich. Wie benommen schüttelte ich den Kopf, rieb meine Augen und versuchte mir klar zu werden, wo ich war. Und, so blöd es auch klang: wann. Im Radio kam „Time“ von Pink Floyd, ich merkte, nein, spürte selbst, dass das etwas dick aufgetragen war und ich war mir sicher, dass dies alles ein Traum sein musste, dass ich noch schlief und mir gleich wieder die Halloweennacht ins Gesicht strahlen würde – oder der Morgen danach.
Ich kannte das Haus nicht, in dem ich mich befand. Für Parkett hatte ich nie etwas über, die Tapete wirkte wie aus den 70ern. Entweder ich hatte den Verstand verloren, oder die Zeit war noch weiter zurückgerast. Diesen Gedanken verwarf ich jedoch sofort wieder, als ich den recht modernen Fernseher sah. Langsam erfasste ich, dass dies alles Realität war.
Ich erwachte also nach schier endloser Nacht in einem Haus, das ich nicht kannte, die Sonne schien hell herein, blendete mich und als ich die Tür öffnete, entdeckte ich den Frühling. Ein großer Teil der Stadt wirkte wie neu, Bäume wuchsen aus manchen Häusern, andere waren abgerissen worden und erneuert – oder sie verfielen nach und nach. Bis ich den alten Kirchturm entdeckte und erkannte, dass dies gar nicht meine Heimat war, sondern das noch viel kleinere Nachbardorf, das vor einigen Jahren zum Großteil einem Tornado zum Opfer gefallen war.
Wie lange war ich nicht hier gewesen!
Ich ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen und ging los. Geld für ein Taxi hatte ich nicht, ich wollte endlich nach Hause, diesen Albtraum hinter mir lassen. Ich rannte, spürte ein Brennen in meinen Augen, meine Füße schmerzten bei jedem Schritt. Unterwegs sah ich auf die Uhr, und während ich rannte, bewegten sich auch die Zeiger sehr schnell, die Gesichter meiner Familie waren kaum mehr zu erkennen. Auch nicht, als ich eine Pause machte um zu verschnaufen.
Denn da stand die Zeit fast still.
Heiß war es geworden, die Sonne bereits am untergehen, und als ich endlich meine Stadt sah, die auch von weitem mehr wie ein Dorf wirkte, war es Herbst, dunkel – und überall leuchtete es. Kinder zogen herum, spielten ihr „Trick or Treat“ und zogen von Haus zu Haus. Ich war wie benommen, doch versuchte so gut es ging all das zu ignorieren. Ich musste einen klaren Kopf behalten, um das alles zu Ende zu bringen. Mein Herz pochte wie wild, aber sobald ich den Ort erreichte, hörten meine Schmerzen auf, ich keuchte nicht mehr nach Luft und der sanft einsetzende Regen war sehr angenehm. Auf gewisse Weise fühlte ich mich jünger. Meinen Laden erkannte ich schon von weitem, die Tür war geschlossen. Es war ja auch spät. Und den Schlüssel hatte ich natürlich in meiner Tasche.
Wie dumm von mir!
Zu meiner Verwunderung brannte Licht, das durch das Glas hindurchschimmerte. Ich wusste nicht mehr was ich tat und wie mir geschah, ich griff in meine Tasche nach dem Schlüssel, doch da war nichts, nur die Schatulle mit der Uhr und alle Zeiger standen übereinander. Sie wiesen auf die Tür.
Ich schüttelte den Kopf, versuchte zu Lächeln und klopfte vorsichtig. Durch das Glas sah ich das Gesicht eines Mannes, freundliche Augen und ein sympathisches Lächeln.
"Guten Abend, haben Sie noch geöffnet?"
Die Frage war in diesem Moment geradezu grotesk, schließlich war es ja mein Geschäft, aber das alles war einfach zu unwirklich. Ich wollte schreien, doch ich zwang mich ruhig zu bleiben. Wortlos übergab ich die Schatulle mit der Uhr an den Besitzer des Ladens, nachdem er mir geöffnet hatte. Als er sie betrachtete, hielt ich es nicht mehr aus und rannte los, schlug mit aller Kraft die Tür hinter mir zu, weg, immer nur weg, einfach weg, in das Dunkel der Nacht. Denn der Mann im Geschäft, das war ich.
Und das Leben, in das ich nie mehr zurückwollte.