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Trotzdem
Ich bin achtundzwanzig und träume vom Supersportler aus meiner Jahrgangsstufe, dass er mit seinem Spitzenverdienerjob nicht mehr zufrieden ist und stattdessen ein Zweitstudium irgendwo im pädagogischen Bereich beginnt. Die Wahrheit sieht anders aus. Der Protagonist dieses Traums sahnt erfolgreich im zweiten Jahr bei einem Dax 30-Unternehmen ab und verdient sich dumm und dämlich damit, dass er malt, mit einem Filzstift, eine horizontale Linie über einer Zahl. Wie ein Kind. An Weihnachten, wenn all die Bildungs- und Kulturangebotsflüchtlinge rituell zurück in die Kleinstadt kommen, um sich zu vergewissern, dass der Wegzug in die Metropolis tatsächlich die beste Entscheidung ihres Lebens war, habe ich ihn gesehen. Es geht ihm fantastisch und er hat auch nichts von innerer Leere gefaselt, worauf ich mich ja insgeheim ein bisschen gefreut hatte.
Ich bin achtundzwanzig und meine Freunde bewerben sich mit ihrem Germanistik-Abschluss in der Öffentlichkeitsarbeit – pardon, den Media Relations - von Philip Morris. Genau, die lassen in Lateinamerika von fleißigen Kinderhänden Tabakblätter pflücken und töten damit jedes Jahr so viele Menschen, dass es dem Führungskader der El Kaida beim Gedanken an all die unschuldigen Opfer kalt den Rücken runterläuft. Meine Freunde gucken dir nicht in die Augen, wenn sie sagen, dass niemand zum Rauchen gezwungen würde. Mein Freunde haben nur zwei Jahre zuvor noch gesagt, dass mit dem Argument auch ein Heroin-Dealer seine Profession verteidigen könnte. Heute wissen meine Freunde, dass das etwas ganz anderes ist, und dass sie das vor zwei Jahren noch nicht so gesehen haben, weil vor zwei Jahren eben vor zwei Jahren war und jetzt jetzt ist.
Meine Freunde haben oft einen gereizten Unterton in der Stimme, wenn sie jemand in die Verlegenheit bringt, den Unterschied zwischen jetzt und vor zwei Jahren erklären zu müssen.
Ich bin achtundzwanzig und die Ratten verlassen das sinkende Schiff.
Julia sagt, wenn ich absolut nicht wolle, bräuchte ich ja nicht hinzugehen. Aber so ein Jahrgangsstufentreff sei doch witzig, zu sehen, was aus den Leuten geworden sei, wer sich gut gehalten habe und wer jetzt schon wie vierzig aussehe, wer zum Sitzen mittlerweile zwei Stühle benötige und wer eine Glatze bekommen habe. Julia redet gern und viel über Äußerlichkeiten.
Mir sind die fetten Ärsche und kahlen Platten reichlich egal.
„Zehn Jahre. Die meisten sind doch jetzt völlig andere Menschen. Ich habe keine Ahnung, über was ich mit den Leuten da reden soll“, sage ich. Weil die alle vorangekommen sind und mein Leben sich seit dem Abitur so gut wie nicht verändert hat. Denke ich. Sage ich aber nicht.
„Völlig andere Menschen, das ist doch das Witzige daran“, sagt Julia. „Als ich Jahrhangsstufentreff hatte, fuhr der Kiffer mit den Dreadlocks von einst im tiefschwarzen Benz vor, und die Schönheitskönigin, die in der sechsten Klasse schon zentimeterdickes Make-up getragen hatte, musste um zehn Uhr gehen. Ihr Mann, der selbst nicht mit war, hatte ihr eine spätere Stunde untersagt, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass Jesus Christus das gutheißen würde. Und sie fand den Gedanken nach drei Jahren Ehe auch abwegig.“
Jesus. Manchmal glaube ich, man könnte sich einen Penis ins Gesicht tätowieren und in der Bibel irgendeine Stelle finden, nach der einem diese Verunstaltung allein den Weg ins Himmelreich ebnet. „Ich muss jetzt in den Laden“, sage ich.
„Überleg’s dir noch mal.“ Julia küsst mich auf die Schläfe. „Ich würde gern sehen, von wem du so die Hausaufgaben abgeschrieben hast. Du hattest doch bestimmt auch mal eine Freundin, die auf deine Schule ging, oder?“
Hatte ich. Hat in Amsterdam „International Environmental“-irgendwas studiert und schubst jetzt hauptberuflich in Südafrika Schildkröten ins Wasser. Hat im Gegensatz zu mir was aus ihrem Leben gemacht. Denke ich. Sage ich aber schon wieder nicht.
Im Laden sitzen Kevin und Matthias und schauen sich das neue „Zero“-Video an. Sie hängen jeden Samstag morgen hier rum, bevor sie in den Skatepark fahren. Früher waren sie auch unter der Woche öfter mal da, nachmittags und morgens, aber da kamen einfach mal zwei Polizisten rein und fragten ganz unverbindlich, ob denn heute keine Schule sei.
„Oh fuck!“, schreit Kevin. „Das war der fetteste Frontside-Smith, den ich je gesehen habe. Und dann auch noch rausgeflippt!“
„Sogar varial rausgeflippt“, ergänzt Matthias.
Skateboarder-Jargon. Für die Ohren Außenstehender nicht viel sinnstiftender als ein Vortrag über Kernphysik an der Uni Bangkok. Der Vater, für dessen Sohn ich gerade ein Board zusammenschraube, kneift misstrauisch die Augen zusammen.
Ich sehe in seinem Blick, dass er sich fragt, ob Rollerblades oder eine Spielkonsole nicht doch die bessere Alternative gewesen wären. Sein Sohn hingegen beobachtet ehrfürchtig die vermutlich vier bis fünf Jahre älteren Jungen, bewundert ihre Schuhe mit den verschiedenfarbigen Schnürsenkeln, ihre in den Kniekehlen hängenden Cargohosen, die T-Shirts mit dem „Thrasher“ und dem „Independent“-Logo darauf. Bald, scheint er zu denken. Bald werde ich dazugehören.
Kevin tritt zu mir an die Theke und beobachtet, wie ich die Achsen unter das Brett schraube.
„Das neue Matt Mumford.“ Er nickt zustimmend, ohne den Jungen anzusehen. „Geiles Deck. Hab ich auch fast zwei Monate lang geshreddet.“
Der junge Padawan glotzt Kevin an. Für einen Moment habe ich Angst, dass er aus lauter Dankbarkeit für diesen Ritterschlag gleich anfängt zu weinen. Der Vater legt schützend die Hand auf die Schulter seines Sohnes. Kevin stinkt nach der Freitagnacht eines Siebzehnjährigen, nach Gras und Bier.
„Hast du gehört, dass Coroner’s Flag bei Sony unterschrieben haben?“, fragt Kevin mich. „Ist das nicht zum Kotzen? Als nächstes machen wahrscheinlich Propagandhi Werbung für Daimler Chrysler.“
Punkrock. Ein schwieriges Metier. Wie willst du deinen Fans, die größtenteils noch nie im Leben Miete gezahlt haben, erklären, dass deine Versicherung Bares sehen will?
„Die sind ja nun keine sechzehn mehr“, sage ich, ohne von meiner Arbeit aufzusehen. „Der Sänger hat schon Familie. Durch den Deal kann er die jetzt mit seiner Musik versorgen und muss nicht an irgendeinem Fließband arbeiten. Woanders würde er nämlich mit seinem tätowierten Hals keinen Job kriegen.“
Solche Sachen sage ich öfter, seit ich die fünfundzwanzig voll gemacht habe. Die Kids im Laden sehen mich dann immer an, als hätte ich gerade meinen Kopf um hundertachtzig Grad gedreht wie Linda Blair in Der Exorzist. Meine Baujahre stöhnen normalerweise zustimmend auf wie die alten, weisen Männer, die sie für die Skateboardszene mit Ende zwanzig sind.
„Ich weiß nicht, trotzdem ...“, sagt Kevin.
„Trotzdem was?“, frage ich und erschrecke selbst über die Aggression in meiner Stimme. Matthias schaut unsicher zu mir rüber, der Vater grinst, vermutlich köstlich unterhalten von der Erkenntnis, dass das Wort ‚Generationenkonflikt’ doch nicht ausschließlich für ihn und seine Nachkommen erfunden worden ist.
„Ich mein’ ja nur“, sagt Kevin vorsichtig. „Sie hätten doch auch zu Epitaph Records gehen können. Die sind auch groß, aber wenigstens gehört’s dem Bad Religion-Sänger-“
„Ach so“, zische ich, „und der guckt wahrscheinlich auf seine Kontoauszüge und denkt ‚Oh nein, ich bin Millionär, mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?’, oder was?“
„Lass’ ma’ gehen“, sagt Matthias zu Kevin. „Ich spüre negative Schwingungen.“
„Bist du nachher im Max?“, fragt Kevin.
„Nein“, antworte ich.
Bevor er die Ladentür hinter sich zumacht, dreht Kevin sich noch einmal zu mir um. „Jo, J.C.?“
„Was?“
„Komm’ mal wieder runter, Mann.“
„Ich kann da nicht hingehen“, sage ich. Julia sieht vom Fernseher zu mir, vielleicht ein bisschen glücklich, dass sie durch meinen Einwurf nicht länger so tun muss, als würde sie die Historizität des bedeutendsten Kampfes der Kung Fu-Filmgeschichte, dem zwischen Bruce Lee und Chuck Norris am Ende von Die Todeskralle schlägt wieder zu, zu schätzen wissen.
„Ist o.k.“, sagt sie. „Aber warum denn jetzt nicht?“
„Weil ich erst vor zwei Semestern die Zwischenprüfung hinter mich gebracht habe. Weil ich bis vor einem Jahr noch in meinem Kinderzimmer gewohnt habe. Weil ich-“
„Oh Gott, ich fang gleich an zu weinen. Du hast einen eigenen Laden, du Spinner! Deshalb zieht sich dein Studium.“
„Ich habe einen eigenen Laden. Die größte Furzidee meines Lebens. Als ich in der Schulzeit in der Videothek gejobbt habe, hatte ich am Ende des Monats mehr Geld zur Verfügung.“
„Als du den Skateshop aufgemacht hast, ging’s dir nicht um’s Geld.“
Van Gogh hat sich in einem vorrübergehenden Zustand geistiger Umnachtung ein Ohr abgeschnitten. Ich habe einen Laden aufgemacht.
Chuck ist am Bein verletzt. Er kann kaum noch stehen. Bruce sieht auf das vermutlich gebrochene Bein, blickt Chuck dann fest in die Augen und schüttelt den Kopf. Er gibt Chuck eine Chance. Und was macht der Idiot? Greift an! Weil ich den Film seit sechs Jahren ungefähr alle drei Monate schaue, weiß ich, dass Bruce Chuck töten wird. Natürlich in Notwehr, er ist ja der Gute. „Trotzdem“, höre ich Kevins Stimme in meinem Kopf. Warum lässt er das Bein nicht einfach eingipsen, genest, trainiert, und fordert Bruce anderthalb Jahre später zur Revanche? Er muss doch nur für einen kurzen Augenblick mit der Schmach leben, zuzugeben, dass er nicht die härteste Sau seit Attila dem Hunnen ist. Wäre das ein, Entschuldigung, Beinbruch? Das Leben geht doch weiter. Trotzdem. Schwachkopf.
„Da werden Leute sein, die waren vor zehn Jahren genau so weit wie ich. Und jetzt tragen sie weiße Kittel und ... gipsen gebrochene Beine ein. Gregor Warnke arbeitet seit drei Jahren für McKinsey. Der fährt wahrscheinlich im Maibach vor. Und ich parke daneben in demselben Polo, mit dem ich auch zu den Abiturklausuren gefahren bin. Und ich-“
„Dein Herz hing immer am Skateboardfahren. Jetzt hast du einen Skateshop. Und ich bin einmal mit dir zusammengekommen, weil dir nichts so scheißegal war wie Autos.“
Die dunkle Seite, denke ich. Stark sie ist. Das also hat Yoda gemeint. Den Moment im Leben, in dem einem Autos plötzlich nicht mehr egal sind.
Julia zieht beide Beine auf die Couch und legt ihre Arme fest um meinen Hals. Das Piercing in ihrer Unterlippe kratzt an meiner Wange, als sie sagt: „Nach ein bisschen Sex geht es dir bestimmt besser.“
Ich sage „Ja, vielleicht“ und meine „Mit Sicherheit nicht“.
Chuck ist tot. Bruce deckt ihn mit seiner Jacke zu. Todfeinde oder nicht, echte Kämpfer respektieren einander. Trotzdem.