Trotzem
Mitten in der Nacht, irgendwo im Selbigertal, einer der urwüchsigsten Landschaften des Schlundgaus. Es herrscht hier Wildheit und Unheimlichkeit. Wer glaubt schon an wahre Gruselgeschichten die man sich so erzählt, trotzdem, man meidet diese Gegend. Aufgeklärt hin oder her, Experiment und Kontrolle erklären nicht alles, das Selbigertal ist und bleibt ein verwunschenes Nebeltal. Eng, abgründig, finster, feucht, moorig und modrig und sein dunkeltiefer Wald kann nicht bewirtschaftet werden und bleibt geheimnisumwittert. Und nutzlos (vielleicht gerade deshalb so schrecklich). Und hier in später Nachtstille, nur dann und wann jammert ein Eulenkind, hat sich Sebastian auf dem wuchtigen Stamm einer gestürtzten Tanne hingesetzt. Er ist kaum sichtbar, geradezu eingegraben zwischen knorrigen umherliegenden Kieferästen, krummen Eichenzweigen, sperrigem Dornengestrüpp, weitbuschigem Gesträuch und wirr sich windenden Waldreben. Sein Blick gleitet den Stämmen empor zu den sturmzerzausten Baumkronen. „Kiefer, Eichen, Tannen, Lärchen, Buchen – dieser Mischwald ist aber krass gemischt“ spricht er laut. "Hier sitze ich, schaue die Spuren der Stürme an und sehe darinn mein sturmzerzaustes Gemütsleben, zerzaust von Wankelmut und Verwirrung.“ Er schweigt wieder und das Flüstern im Blätterwerk verstummt. Sebastian wird still und wirkt beruhigt, ist ganz in Gedanken, ist bewegungslos, ist geräuschlos, und so steht auch der Forst. Ernsthaft und verschwiegen.
Sebastian erhebt sich, bleibt aber stehen, wankt ein wenig, wer kann schon auf diesem unbegehbaren Walduntergrund stramm im Gleichgewicht bleiben ! Ein dürrer gerader Ast, der vom gestürtzten Stamm in die Höhe flieht trägt dichter Efeu, Sebastian greift zum Ast, „dem Optimist fällt die Pracht, dem Pessimist die Kurzlebigkeit der Rose auf“ und reisst gleichzeitig mit dieser Aussage Efeu ab. Da betrachtet er nun dieses dunkle Knäuel Immergrün in seiner Hand. „Bin ich denn etwas ? Bin ich überhaupt jemand ? Wozu bin ich da ? Wer braucht mich schon ! Aber ich armseliger Wicht brauche euch, ob ich will oder nicht, wie dieser grüne Rankenbusch da. Der kann alleine weder frei stehen noch wachsen, braucht Haltegrund um zu haften und um weiterzuranken. Oh ich Taugenichts, Habenichts, Tunichtsgut !“ Er setzt sich wieder hin, noch immer den Efeu haltend.Wirft ihn bald seufzend von sich. „Schau da oben“ beginnt er von neuem, mit wem spricht er bloss ? Es ist erstaunlich. „Da oben, all diese Äste, Zweige, Nadeln und Blätter, diese Zapfen und Samen, diese Rindenstücke und Flechten, alles baumelt da herunter, ist hängend, herabhängend, herunterragend, tieftragend, fallend – auch mein Sitzplazt hier ist nichts anderes als ein gestürtztes Lebewesen und liegt auf den Rücken – sinkend, abfallend, ach, einfach traurig, tiefdumpf, vom Leben liegengelassen und alles sinkt dem Tod entgegen. Was ich bin weiss ich nicht und das was ich sein könnte habe ich kaputt gemacht.“ Beträchtlich lauter als bisher spricht, ruft nun der Sebastian in die Waldesnacht hinaus „Ich bin nicht besser als die anderen...“ ob resigniert oder als vernünftige Einsicht, es steht nicht fest, „...nicht besser als die anderen, aber anders. Und doch - ich will so sein. Denn das Anderssein ist für mich Schmerz, aber eben auch Schutz.“ Er hält inne und ruft, dazu verächtlich auf dem abgerissenen Efeubündel herumtretend, „Jaa, ich weiss, verlassen müsste ich mal diesen Schutz !“
Wie gelangte er eigentlich hier her ? Wieso landete er ausgerechnet hier in dieser weglosen, wetterdurchtobten Wildnis, wo die Naturelemente wüten, wo das Weltgefüge sich erst im Werden befindet ? Wieso verkriecht er sich in dieses abseitige Tal, das man 'Nirgendheim' zu nennen pflegt. Zuweilen wurde der Veruch unternommen, Waldpfade anzulegen, die wurden aber allesamt wieder überwuchert und sie hätten sowieso nirgends hingeführt und wieviele Menschen sollen hier das letzte mal gesehen worden sein ! Und die Pfade die man anzulegen versucht, so geht das Gerücht, werden nicht nur überwachsen, nein, sie sollen von selbst kreuz und quer zu liegen kommen, sich verknoten und verschwinden, sich vereinigen und sich immerdar und auf merkwürdige Weise wieder verzweigen. „Und ungestalt ist es hier drinnen. Das da drinnen – nein – ich selber bin ein Labyrinth. Ich selber. Meine Gedanken, mein Leben. Ja aber ist das schlecht ? Innerlich ein Labyrinth, kann ja auch heissen ich bin, innerlich, zumindest innerlich, ein Vielfältiger.“ Sebastian scheint sich durch diese Einsicht etwas Trost gespendet zu haben, sein Gesicht heitert ein wenig auf, aber ach, schon beschimpft er sich wieder „Was soll diese innere Vielfalt. Nein es ist eben keine innere, sondern eine labyrinthische Vielfalt, die sich deshalb nicht nach aussen entfalten kann. Vielleicht finde ich in dem Labyrinth meine Lebensmitte, oder das Labyrinth bildet den Durchgang zu etwas grossem da draussen. Oh himmlische Heerscharen was sind denn das wieder für Sprüche ! Lebensmitte, etwas grosses – ich irre doch nur hin und her an Ort und Stelle !
Wohl will die Witterung umschlagen. Wind kommt auf, schwellt an, die Stämme beginnen zu wanken, ächzend und knarrend, Äste knacken, es rauscht und jault zwischen den Zweigen, nervöses Rascheln im Unterholz, trockenes Falllaub erhebt sich in die Höhe, prasselt wieder zu Boden, Sebastian erhebt sich, setzt sich wieder hin, verbirgt sein Gesicht in den Händen, dann schüttelt er den Kopf und wischt sich mit dem Handrücken über Stirn und Augen und nocheinmal über die Augen. Weint
er ?
„Ah was solls, was bringts. Hab's doch gesagt, habs doch gesagt. Ich gehe !“ Gesagt getan, er erhebt sich, zieht den Reissverschluss seiner Jacke zu, tastet mit seinen Füssen einen Weg über quere Wurzeln und schlüpfrige Moose, aber er steht wieder still und wischt sich nocheinmal über das Gesicht, der Wind bläst weniger kräftig, dafür unregelmässiger. Eine vorläufige Windstille setzt ein. In der Nähe hört man das Reissen eines Astes und darauf seinen dumpfen Aufschlag, und nun ist volkommene Ruhe. Totenstille. Weit weg ist wieder ein Eulenruf zu vernehmen. Friedlos ist es, und mit einem fernen unscharfen Rauschen, aus allen Richtungen scheint es zu kommen, kündigt sich die nächste Böe an. Sebastian hat inzwischen Kehrt gemach und sitzt, in sich zusammengefallen, auf dem umgestürtzten Baumstamm und zuckt am ganzen Leib. Ja, er weint.
Und dann passiert nichts mehr. Kein Wind. Im Walde geschieht nichts, nur, es wir heller weil sich die Wolken verziehen, dem Sebastian geschieht auch nichts. Nichts gutes aber auch nichts schlechtes. Der Mond, schon über das letzte Viertel hinaus, gibt genug Licht ins Selbigertal herunter um eine gewisse Behaglichkeit aufkommen zulassen. Sebastian sieht nicht glücklich, aber beruhigt aus. Er höhrt auf Geräusche, schnuppert die frische Luft der Wildnis, schaut, wie anbetend, nach dem Sichelmond. Vielleicht betet er tatsächlich. Vielleicht betet darum, nicht bedrängt zu werden, um das Wissen und das Vergessen, und um Frieden. Wieder aber wird er ernst und stöhnt und beugt sich nieder und spricht mit zitternder Stimme des Weinwilligen „...eben...darum...und ich lasse mich nicht herabrationalisieren !“ Aber schwingte da nicht soeben auch ein wenig Trotz in der Stimme ? Es wird düsterer, eine Wolke hat sich vor das Nachtgestirn geschoben, eine vorübergehende Trübung der Naturfrische, schon glänzt der Mond wieder und ein paar Sterne senden zierliche silbrige Blitze durchs Geäst. Sebastian aber ist müde, sein Blick dumpf. Zusammengesackt und vernichtet ist er. Ganz zögerlich beginnt die Dämmerung, ein leichter Nebel steigt, ein Rest des Mondlichts und das allererste Sonnenlicht beginnen das Nachtdunkel anzufechten. Ins aschgraue Gegenlicht des aufdämmernden Morgens ragen die pechschwarzen Baumstämme. Herbst. Am Boden liegt bleiches Holz, zerbröckelnd, amorph. Zerfall und trübe Launen. Düstere Schatten schleichen. Ein Hauch von Blau, wo sind die Grenzen ? Wozu das Ganze ? Hubert starrt vor sich hin, steht auf und resümiert eine vorangehende innere Diskussion, „...und das ist nun mal meine Einstellung und ich lasse sie auch durch Tatsachen nicht abändern.“
Und unten, in der Mitte vom Selbigertal, eilt ein Bach abwärts. Der will fortleben, will dereinst in das Grosse einmünden. Heisst er Selbigerbach ? Was kümmert's ihn ! Es lässt seine Turbulenzen glucksen und die Strudel rauschen. Seine Wellen sind flüchtig, hundertfaltig, silberklar, dann seidigglänzend, dann schillernd. Grosse Tropfen als oszillierende Kugeln wollen himmelan, dann zerstieben sie, die Atmosphäre beneztend. Die Wasser strömen davon oder runden sich zu Wirbeln, ruhen in Mulden, stürzen über Felssimse, prallen auf Steinblöcke und schnellen in die Höhe, sie treiben die Kiesel, tragen das rostfarbene Laub und raffen sturmzersplittertes Geäst. Es sickert und es bricht hervor, fächert sich in dutzende Beete und hier, an dieser einen Stelle, ist alles Wasser in einem tiefen, aber schmalen Graben vereint. Sebastian, inzwischen auf dem Heimweg, aufgeweckt und hochmotiviert, hopst über die schmale Stelle, denn da drüben lässt sich besser gehen.