Tsegi
Eine Hand umfasste mit festem Griff ihren Oberarm. Es dauerte einen Augenblick, bis Umlet begriff, dass dies kein Teil ihres Traumes war, sondern Wirklichkeit. Sie schlug die Augen auf und blickte in die tanzenden Flammen einer Fackel. Die Hitze schlug ihr ins Gesicht und das helle Licht explodierte hinter ihren Augen. Es schmerzte und automatisch wandte sie ihren Kopf ab und sah sich verwirrt um. Ein Ruck ging durch ihren Körper, als die Hand an ihrem Arm sie von ihrer Strohmatratze riss und nach oben zog. Ihre Gedanken jagten mit erschreckender Geschwindigkeit durch ihr Bewusstsein, über das der Schlaf immer noch regierte. Umlet schien es eine Ewigkeit, bis das Land der Träume hinter ihr zurückblieb und sie langsam erkennen konnte was vor sich ging. Um sie herum standen einige Männer mit weißer Farbe im Gesicht. Es waren rituelle Zeichnungen, gemalte Masken, die nur getragen wurden, wenn ein Mitglied ihres Stammes dem Reich der Toten überlassen wurde.
Einer der Männer schrie an ihr vorbei. Umlet erkannte ihn als Priester, denn in seinem Gürtel, der den kurzen, ledernen Lendenschurz mit dem Oberteil aus rauem, unbehandelten Fell verband, steckte ein goldener Dolch, welcher lediglich für rituelle Handlungen verwendet wurde. „Holt jetzt die Kinder“, hatte er geschrieen. Und erst jetzt nahmen die Worte in Umlets Kopf eine klare Bedeutung an. Sie begriff und begann sich zu wehren. Ihr nackter Körper zuckte wie eine Schlange in den Händen der Männer, die nun alle nach ihr griffen. Sie trat und schlug um sich, doch ihr Widerstand verpuffte einfach. Während sie aus ihrer Kammer herausgetragen wurde, hörte Umlet ihre schreienden Kinder. Ihre hellen Stimmen klangen wie Glockengeläut unter dem dunklen Gebrüll der Männer, die sie fortbrachten.
Adrenalin schoss ihr durch den Körper und ihre Sinne glichen dünnen Schnüren, die in wenigen Sekunden einfach reißen würden. Umlet erkannte, dass sie den oberen Teil des Pueblos bereits verlassen hatten und am Rand einer Schwelle standen. Unter ihr breiteten sich weitere Kammern aus, in denen überall Fackeln und Feuer brannten. Sie sah auch die Leiter, die den oberen mit dem unteren Teil verband und in ihrem Kopf entfaltete sich der Plan, dass sie die Zeit auf den Sprossen nutzen würde, um nachzudenken, oder sogar einen Fluchtversuch zu unternehmen, doch noch vor Vollendung ihrer Überlegungen regristrierte sie, dass man ihr diese Zeit nicht geben würde, denn am Fuß der Leiter standen weitere bemalte Männer, deren Augen gefährlich zu funkeln schienen. Sie spürte, wie sie mehrfach hin und hergeschaukelt wurde und dann breitete sich ein merkwürdiges und zugleich wohliges Gefühl in ihrer Magengegend aus. Die Männer hatten sie über die Schwelle geworfen und unaufhaltsam fiel sie auf die untere Ebene zu.
...
Der altersschwache Jeep holperte wie ein schlingerndes Schiff über den groben Felsboden und Johannson krallte sich so stark am Überrollbügel fest, dass sämtliches Blut aus seinen Fingern entwichen war. Zu beiden Seiten des Wagens, der eine große, im Abendlicht schimmernde, Staubwolke hinter sich zurückließ, ragten die roten Wände des Canyon auf. Etwa zweihundert Meter strebten sie dem Himmel entgegen und bildeten ein wahres Labyrinth mitten in den trockenen Gebieten von Arizona. Immer wieder hatte der Inspektor das Gefühl, dass der Jeep gleich umkippen würde, doch der Fahrer drückte weiterhin ohne Unterlass das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
„Sagen Sie mal. Meinen Sie nicht, dass sie mal was langsamer fahren könnten?“ Johannsons Stimme ging fast im Gebrüll des Motors unter.
„Wir haben schon spät und denken Sie dran, dass wir noch ne Weile zu Fuß laufen müssen. Oder haben Sie Lust erst in der Nacht anzukommen? Sie sinds ja selbst schuld. Hätten ja morgens kommen können“, lachte der Fahrer ihm entgegen. Ihm schien diese Höllenfahrt einen riesigen Spaß zu machen.
„Tja, bis vor ein paar Stunden hab ich nicht gedacht, dass ich mich hier herumdrücken muss.“
„Genießen Sie lieber die Landschaft. Schauen Sie mal. Sehen Sie diesen großen Felsen dort in der Mitte?“
Johannson blickte über die Windschutzscheibe hinweg und der Wind schlug ihm pfeifend ins Gesicht. Etwa dreihundert Meter vor ihnen erhob sich ein großes, schlankes Gebilde, dass zwischen den massiven Wänden den Eindruck einer Stecknadel vermittelte. Es erinnerte ihn an einige Westernfilme, die er immer so gerne gesehen hatte.
„Das ist Spiders Rock. Zweihundert und vierzig Meter hoch. In der Mythologie der Diné ist die Kuppe der Wohnort der Spinnenfrau. Sie wird noch heute von einigen Stämmen verehrt, weil sie es war, die den Menschen das Spinnen beibrachte.“
„Diné?“
„Ein Indianerstamm, oder besser noch, eine Indianersprache, aus der sich auch die Anasazi herleiten. Und bevor sie fragen. Die Anasazi ist das Volk, mit dem wir uns hier beschäftigen.“
Der Fahrer war ein dunkelhäutiger Mann, mittleren Alters, der von seiner äußeren Erscheinung her eher ungebildet wirkte, doch in Wirklichkeit war er einer der Männer, die dieses Projekt inmitten des Canyon de Chelly voran gebracht hatten.
„Was genau mach-,“ der Jeep machten einen großen Satz und die Worte blieben Johannson im Hals stecken. Es fühlte sich an, als schlügen die Buchstaben gegen seinen Rachen. Spiders Rock blieb jetzt hinter ihnen zurück und die zahlreiche Büsche an den Hängen des Canyon bestimmten das Bild.
„Was genau machen sie eigentlich hier?“
„Nun. Eigentlich untersuchten wir einige der Pueblos, die in den Fels gehauen wurden. Das sind Siedlungen der alten Indianer, die schon immer hier gelebt haben. Sie bauten ihre Häuser, oder Kammern in den Fels hinein und erst wenn der Platz zu wenig wurde, bauten sie auch Häuser aus Holz und Lehm, später aber auch aus Stein, an die Felshänge. Wir hatten eine weitere Spalte im Fels entdeckt, eine sogenannte Tsegi, die in einen Art Hohlraum führte, oder besser gesagt, in eine wahrhaft riesige Tsegi. Von oben ist dieser große Platz nicht zu erreichen, da die Wände nach oben hin spitz zulaufen. Dort fanden wir ein Pueblo, das uns einige Rätsel aufgab und dort fanden wir auch eine Art Höhle, die man so zuvor noch nie gefunden hatte. Keine Höhle, eigentlich ein Kiva. Ein ritueller, sagen wir mal, Betraum, der Indianer, mit einem Loch im Boden, welches den Weg zu ihren Ahnen und Geistern symbolisierte. Aber alles weitere kann ihnen sicherlich der Doktor erklären. Aber sagen wir mal so, die Entdeckung bringt ne Menge Ruhm mit sich und genau deshalb, musste sie so schnell herkommen, Inspektor. Solange wir den toten Arbeiter bei uns haben und sein Ableben nicht geklärt haben, können wir mit unseren Untersuchungen nicht fortfahren.“
Der Jeep wurde langsamer und hielt vor einer kleinen, kaum wahrnehmbaren Felsspalte. Johannson konnte in der Stille hören, wie der aufgewirbelte Staub langsam zu Boden rieselte. Er löste seine schmerzende Hand vom Überrollbügel und blickte in die blendende Sonne, wobei er die würzige Luft tief in seine Lungen sog. Es waren Sträucher, mit kleinen, blauen Blüten, die diesen Duft verbreiteten.
„Sagen sie mal? Muss man den Doktor eigentlich kennen? Ist er irgendein Fachmann, oder so?“
Der Fahrer drehte sich zu Johannson um und lächelte ihn süffisant an. „Sie,“ betonte er, „ist die Fachfrau überhaupt und sie“, er betonte nochmals, „will, dass Sie, Inspektor, dass hier alles so schnell wie möglich klären. Ein toter, ermordeter Arbeiter, kommt nicht unbedingt gut. Und unser Chef, derjenige, der das alles hier finanziert, wird es kaum dulden, wenn die Forschungen auf Eis liegen.“
„Ahh, der Finanzier. Schön, dass es mal wieder um Geld geht. Das erleichtert meine Arbeit natürlich total. Das gibt mir den Freiraum, den ich brauche.“ Die Ironie in der Stimme Johannsons war nicht zu überhören. „Vielleicht fangen Sie dann mal langsam an, mir was über den Toten zu erzählen und warum Sie schon wissen, dass er ermordet wurde.“
Der Fahrer packte einen großen Rucksack auf seinen Rücken, reichte Johannson seine Tasche an und ging in die Felsspalte hinein, wobei er über seine Schulter hinweg dem Inspektor antwortete.
„Nun, weil der Gute einen Stechbeitel im Rücken hat, wie ihn nur Archäologen verwenden.“
...
Hände und Arme beendeten den scheinbar unendlichen Fall Umlets. Sie hatte ihre Augen fest geschlossen und konnte sich nur vorstellen, was um sie herum passierte. Sie hatte Angst einen Blick zu wagen, denn wahrscheinlich waren es nun noch mehr Männer, die sich um sie scharten und wahrscheinlich würde sie weiter oben ihre Kinder entdecken, deren Schreie sie immer noch hörte. Sie wurde fort getragen und bald spürte sie erneut, wie ihr Körper vor und zurück geschaukelt wurde. Dann folgte wieder ein Fall und wieder Hände, die sie auffingen. Nach und nach, wurde sie so aus den oberen Stockwerken des Pueblos nach unten gebracht, bis sie schließlich aus der Siedlung hinausgetragen wurde. Als Umlet ihre Angst verdrängte und ihre Augen öffnete, sah sie um sich herum die aufgebrachte Menge. Alle Männer der Siedlung schienen mit ihren bemalten Gesichtern auf sie zu starren. Sie sahen sie an wie ein Tier, oder wie einen Verräter. Die Frauen, welche sie begleiteten, hatten ihre Köpfe gesenkt und blickten beschämt zu Boden. Immer wieder wand sich Umlet in den starken Armen, die sie trugen, aber nicht um sich zu wehren, sondern um zu sehen, was mit ihr passierte, denn sie wusste, dass sie den Männern ausgeliefert war. Widerstand war in der Situation, in der sie sich befand, zwecklos. Ihre Augen folgten, über die brennenden Fackeln und erzürnten Gesichter hinweg, dem Weg durch den Canyon. Die roten Wände leuchteten im flackernden Feuerschein gespenstisch und der würzige Geruch der Büsche brannte in ihrer Nase, denn all ihre Sinne waren bis zum Zerreißen gespannt.
Es dauerte eine Weile, bis der Zug aus Menschen sich verlangsamte und auseinander drängte. Umlet wurde herabgelassen und die Männer reihten sich hinter ihr ein, aber eine Hand, hatte ihren Oberarm noch immer fest umschlossen. Es war der Priester, dessen Muskeln vor Schweiß leicht glänzten. Seine andere Hand lag auf dem goldenen Dolch und mit einem Blick zu diesem und auf Umlet, machte er ihr klar, wie sinnlos jeder Versuch einer Flucht war. Einer der Männer kauerte sich zusammen und verschwand in der Felsspalte, die direkt zum heiligen Berg, dem Kiva des Wassergeistes, führte. Umlets Vermutung wurde zur Gewissheit. Sie wurde dorthin gebracht, wo sie das letzte Jahr über gebetet hatte, wo sie als Vermittlerin zwischen ihrem Stamm und dem Geist des Wasser fungiert hatte.
Ein kräftiger Stoß in den Rücken, drängte Umlet vorwärts und auch sie verschwand in dem dunklen Riss. Gebückt und von dem Priester zur Eile getrieben, folgte sie dem Pfad. Den Mann vor sich, konnte sie nur noch schemenhaft erkennen, denn er war ihr schon weit voraus. Immer wieder kreuzten kleinere Pfade ihren Weg. Wege, die eigentlich nur als weitere Risse in den Steilwänden zu bezeichnen waren, aber sie waren so zahlreich, dass sie den Eindruck eines riesigen Labyrinthes vermittelten. Darin sah sie ihre Chance und als die kleine Fackel des Mannes, der vor ihr ging, hinter einer Biegung verschwand, nutzte sie genau diese. Umlet riss sich aus der Umklammerung des Priesters und versetzte ihm einen Tritt zwischen die Beine. Sofort drehte sie sich wieder um und lief so schnell sie konnte davon. Hinter sich hörte sie einen hellen Schmerzenschrei und dann das laute Gebrüll aufgebrachter Männer, die versuchten über den Zusammengekauerten zu klettern. Als Umlet eine beinahe völlige Dunkelheit umgab, drückte sie sich in eine der Felsspalten und quetschte sich so tief hinein, wie sie es konnte. Das an dieser Stelle teilweise scharfe Gestein schnitt sich brennend in ihre Haut und drang tief in ihr Fleisch. Sie spürte, wie warmes Blut an ihr herunterrann, aber dennoch drückte sie ihren nackten, schlanken Körper immer tiefer hinein, bis sie sich nicht mehr rühren konnte. Ihre Muskeln und Knochen hatten sich förmlich verkeilt und sie hatte Schwierigkeiten, Luft zu bekommen, aber das war ein Problem, dass ihr in diesem Augenblick keine Sorgen machte. Sie sah den Fackelschein, wie er an ihrem Versteck vorüberzog und sie hörte die Männer, wie sie laut fluchten und nach ihr suchten, aber niemand von ihnen kam auf die Idee, in einen der engen Risse zu schauen. Bald waren ihre Häscher fort und ihr Geschrei war nur noch ein Echo zwischen den hohen Wänden.
Sobald sie sich zu bewegen versuchte, schickten die verletzten Stellen Wellen von Schmerzen durch ihren geschundenen Körper, aber Umlet wusste, dass sie nun so schnell wie möglich aus ihrem Versteck herausmusste. Weg von den Männern. Weg von ihrem Schicksal. Immer wieder stemmte sie sich mit den Füßen gegen die Wände, um sich herauszudrücken, aber es hatte den Anschein, dass sich ihr eigentlich so zierlicher Körper nur noch mehr verkantete.
Umlet war heiß und aus allen Poren drang ihr der Schweiß, welcher sich mit dem warmen Blut vermischte. Ihre Muskeln zuckten unkontrolliert und die aufkommende Panik bemächtigte sich immer mehr ihres Bewusstseins, bis ihr Körper schließlich erschlaffte. Die Furcht verflog mit einem Mal und machte einer tiefen Verzweiflung Platz, die allen Mut und alle Hoffnung aus ihren Gedanken vertrieb. Umlet sackte in der Felsspalte zusammen und...hatte sie sich bewegt? Sie versuchte die eben gemachte Bewegung nachzuvollziehen und ließ sich noch einmal schlaff hängen. Umlet rutschte ein Stück nach unten, dort, wo die Spalte breiter war. Sie drückte nun ein wenig nach und nach wenigen Sekunden konnte sie bereits wieder besser atmen. Die Spalte bot nun soviel Platz, dass sie sich langsam nach vorne arbeiten konnte, wobei sie versuchte, den Schmerz und die immer wieder neuen Schnitte nicht zu bemerken. Ihr ganzer Körper schien zu wachsen, als sie es schaffte das Versteck zu verlassen und das Gefühl der Befreiung brachte ihren Mut zurück. „Du kannst es schaffen“, flüsterte sie mantragleich vor sich hin, als von der anderen Seite, dort wo der Eingang zum heiligen Berg lag, ein Schrei zu ihr herüberdrang. Sie erkannte die Stimme, auch wenn sie von Angst verzerrt war. Es war der Schrei eines ihrer Kinder.
Umlet blickte die Spalte herunter, dort wo sie hergekommen war. Dann fiel ihr Blick den Weg hinauf, ihren Kindern entgegen. Was hatte sie für eine Chance, sie zu retten? Es war ihr ja fast nicht einmal gelungen sich selbst zu retten. Warum sollte sie ihr Leben auch für sie riskieren? Umlet hatte sich nie als Mutter gefühlt. Es war nie ihr Wunsch gewesen, einem Menschen das Leben zu schenken, aber das Schicksal hatte es anders gewollt. Fünf Mädchen hatte sie zur Welt gebracht. Gezeugt in Nächten der Verwirrung, denn nicht an eine dieser Nächte konnte sie sich erinnern. Fünf Kinder, fünf verschiedene Väter. Das wusste sie und nun wusste es wahrscheinlich auch der Stamm, denn das war der Grund, warum man sie hierher gebracht hatte. Aber es waren ihre Kinder und tief in ihr regte sich ein Gefühl, eine Stimme, die ihr sagte, was zu tun sei. Es war kein Plan, aber eine Erinnerung an die Verbundenheit. Und so rannte Umlet den Weg entlang, dem Berg entgegen.
...
Johannson und der Fahrer, dessen Name er immer noch nicht kannte, schlängelten sich durch die große Felsspalte, die zu ihrem Ende hin immer breiter wurde. Nur das erste Stück hatten sie gebückt hinter sich bringen müssen. Immer wieder schnitten andere Pfade ihren Weg. Pfade, die Johannsons Abenteuerlust weckten. Seine Augen streiften wieder und wieder in die unbekannten Tiefen hinein.
„Bleiben sie hier, Inspektor“, rief ihm der Fahrer von vorne zu, der seine rastlosen Blicke bemerkt haben musste, „das sind nichts anderes als alte Risse im Gestein, welche die Zeit in kleine Höhlengänge verformt hat. Vor guten zweitausend Jahren waren sie so eng, dass kaum ein Mensch da hindurchpasste. Sie werden also nichts darin finden.“
Ohne ihm zu antworten ging der Inspektor weiter. Vor ihnen beschrieb der Weg eine kleine Kurve und als sie diese durchschritten, sah Johannson, wie die Spalte weiter heranwuchs und abrupt endete. Hinter dem Pfad, den sie nun ungefähr zwanzig Minuten entlanggewandert waren, offenbarte sich eine in dieser Umgebung fast gigantisch anmutende Fläche. Sie war fast so groß, wie ein Fußballfeld, aber nach oben hin waren kaum mehr als drei Meter Platz, denn ab dort liefen die Wände spitz zusammen und bildeten bis zur Oberfläche des Canyons eine Art kleinen Kanal. Schwach konnte Johansson erkennen, dass es weiter dunkelte, denn der kleine Himmelsausschnitt, der von hier aus zu sehen war, zeigte bereits Sterne. Auch die Luft war spürbar kühler geworden, womit auch der würzige Geruch der Büsche abnahm, die auch auf diesem Feld wuchsen. Längs der rechten Wand waren braune Zelte aufgeschlagen, die mit schweren Herringen im Boden verankert waren. Überall liefen Männer in staubiger Kleidung herum und jeder von ihnen trug einen beschäftigten Gesichtsausdruck zur Schau.
„Ok, mein Lieber. Machen wir es kurz und zeigen sie mir die Leiche. Ich möchte gerne heute noch hier weg und sie wollen das ja auch.“
„Sie liegt da drüben in dem kleineren Zelt. Sehen sie sich sie selbst an. Ich hab jetzt was zu erledigen. Nur glaub ich nicht, dass sie heute noch hier weg kommen. Es wird dunkel und ich hab keine Lust den ganzen Weg in der Nacht noch einmal hinter mich zu bringen. Aber vielleicht findet sich ja jemand anders. Auf jeden Fall schick ich den Doktor gleich mal zu Ihnen. Ich sag ihr, Sie wären schon bei der Leiche.“ Mit diesen Worten verschwand der Fahrer in einem der ersten Zelte und ließ Johannson zurück, der im Geiste den jungen Mann schon ein eine der unzähligen Schubladen gesteckt hatte, die er sich zurecht gelegt hatte, um Menschen schnell und effizient beurteilen zu können. Auf jeden Fall würde er ihm einige Unannehmlichkeiten bereiten, allein schon wegen dieser mehr als unfreundlichen Behandlung. Johannson fischte eine selbstgedrehte Zigarette aus seiner Hemdstasche und machte sich auf dem Weg zu dem kleinen Zelt, dessen Plane leicht im Zugwind des Spaltes über seinem Kopf flatterte.
Die Sonne verschwand nun schnell und Johannson schlüpfte in seine Jacke, die er bis zu diesem Zeitpunkt um seine Taille gebunden hatte. Er stellte den Kragen hoch und öffnete den Reißverschluss des Zeltes. Ein etwas abgestandener Geruch schlug ihm entgegen, der aber noch keine Zeichen von Verwesung erkennen ließ. Der Tot des Mannes konnte noch nicht allzu weit zurückliegen.
Johannson ließ sich auf seine Knie nieder und kroch hinein. Er zog die braune Wolldecke zurück, die den Leichnam bedeckte und zuckte erschrocken zurück. Das Gesicht des Mannes war trübweiß und unter der weich aussehenden Haut schimmerte ein helles blau, das man nur erkennen konnte, wenn man genau hinsah. Die Lider waren eingefallen und Johannson konnte sich denken, dass darunter keine Augen zu finden waren. Er musste schwer schlucken, zog die Decke aber trotzdem ein weiteres Stück zurück. Die Kleidung des Toten war unversehrt, bis auf einen handbreiten Riss unterhalb der Achselhöhlen, aber das Fleisch darunter musste genauso aussehen, wie sein Gesicht, denn Arme und Beine des Mannes zeigten die gleichen Symptome. Vorsichtig drückte der Inspektor seinen rechten Zeigefinger auf die trübe Haut. Was für ihn zuerst schwammig und aufgedunsen ausgesehen hatte, erwies sich nun als hart und unnachgiebig.
Er tastete sich weiter an dem Körper entlang, bis er zu dem Riss im shirt des Mannes kam. Mit zwei Fingern dehnte er den Stoff und blickte auf die nackte Haut. Unterhalb der Rippen gab es einen Einstich, der wahrscheinlich von dem Stechbeitel herrührte, den der Fahrer erwähnt hatte. Aber es war kein Blut zu sehen und die Wunde schien wie zugewachsen.
„Guten Abend, Inspektor. Gleich vorweg. Ich glaube nicht, dass die Verletzung den Mann umgebracht hat.“ Eine helle, aber angenehme Frauenstimme hatte Johannson aus seinen Gedanken gerissen, aber er drehte sich nicht zu der Quelle um, sondern beäugte noch einmal die Einstichstelle.
„Und warum glauben Sie das?“
„Nun, Inspektor. Fassen Sie ihn mal an. Wissen Sie, was geschehen muss, damit sich Haut und Fleisch so anfühlt? Und warum ist da kein Blut zu sehen?“
„Hören Sie. Es ist ja nett, dass Sie mir Ihr Wissen hier so darlegen, aber dürfte ich erst einmal fragen, wer Sie sind?“ Johannson drehte sich umständlich um und riss verwundert seine Augen auf. Vor dem Zelt stand eine Frau in kurzen, abgerissenen Hosen und die Beine, die daraus hervorragten, schienen nicht enden zu wollen. Johannsons Blick wanderte die makellosen Beine herauf, über ein eng anliegendes, grünes Top hinweg, direkt zum Gesicht der Frau. Ihr Gesicht trug die weichen Züge eines Teenagers, aber ihre blauen Augen strahlten Erfahrung und Anmut aus. Ihre vollen Lippen zeigten ein herausforderndes, aber gleichzeitig reserviertes Lächeln.
„Nun, Inspektor, wenn Sie dann fertig sind,“ sie sah ihn wissend an, „kann ich Ihnen ja erzählen, warum der Mann dort tot ist und dann könnten Sie sich ja bitte darum kümmern, dass er hier weg kommt damit wir unsere Arbeit weiter machen können.“
Johannson kroch heraus, zog den Reißverschluss wieder zu und maß die Frau nun mit dem gleichen Blick, wie du Wunde zuvor.
„Ja, ich weiß. Ihr Finanzier wird es sicherlich nicht wollen, dass ich mich hier zu lange aufhalte. Aber seien Sie mal unbesorgt. Auch ich hab keine große Lust, meine Tage hier in dieser Felsspalte zu verbringen. Nun...“
„Doktor Nina Williams.“
„Nun, Doktor Nina Williams, erzählen Sie mal.“
„Dann kommen Sie doch mal mit“, forderte sie ihn auf und überquerte mit schnellen Schritten das freie Feld, wobei Johannson ihren Gang von hinten genau betrachtete.
„Der Arbeiter, den Sie gerade gesehen haben, wurde gekocht.“
Johannson blieb ungläubig stehen.
„Ich habe mir gedacht, dass Sie mir kein Wort glauben, deshalb folgen Sie mir ja gerade. Ich zeige es Ihnen einfach.“
Johannson folgte ihr auf die Westseite der großen Spalte, bis sie vor einem etwas ein Meter hohen Loch standen, das grob aus dem roten Fels herausgehauen war.
Ein großes, grobleiniges Tuch hing vor dem Eingang, was den Inspektor an einen Vorhang aus dem Theater erinnerte. Williams schlüpfte hindurch und Johannson tat es ihr nach. Was sich vor seinen Augen ausbreitete erfüllte ihn mit Erstaunen und sogleich schossen ihm unzählige, vergleichbare Bilder durch den Kopf. Er dachte an einen alten Indiana Jones Film, an eine große Kirche und an einen Bergwerksstollen. Er stand in einem großen Raum, einer Halle, inmitten des Felsens. Links von ihm summte ein kleiner Transformator, der vier Scheinwerfer mit Strom versorgte, die ihr Licht in die Mitte des Raumes warfen. Dort stand ein großer Kran, an dem eine Art Bühne hing, wie sie auch von den Fensterputzern an Hochhäusern genutzt wurde. Unter dieser Bühne klaffte ein etwa sechs Meter breites, rundes Loch im Boden, das blau zu schimmern schien. Um dieses Loch herum standen vier steinerne Figuren. Es waren Männer, die ihre Waffen nach unten richteten, direkt in die unbekannte Tiefe.
Johannson machte einen Schritt nach vorne und betrachtete weiterhin ungläubig das ausgedehnte Rund des Raumes. Die Wände waren rau, da sie hier nicht im Laufe der Jahrhunderte von Wind und Wasser geschliffen worden sind und überall lag Geröll und dickschichtiger Staub. Er ging auf eine der Figuren zu und betrachtete sie neugierig, während Williams im Hintergrund stehen blieb und wiederum ihn beobachtete. Auf Johannson machten die Männer den Eindruck von Kriegern, denn auf ihrer Oberfläche sah man noch verblichene Farbe. Zumeist waren es konzentrisch angeordnete Kreise und Spiralen. Alles an ihnen, sowohl die Bemalung, als auch die Bearbeitung des Steins, wies auf große Sorgfalt und Kunstfertigkeit hin, aber noch viel mehr Aufmerksamkeit erregte eine Kette, die jede der vier Figuren um den Hals trug. Johannson wischte den Staub von den aneinandergereihten Kugeln und blickte ungläubig zu Williams herüber.
„Gold, Herr Inspektor. Reines Gold. Die Anasazi führten Handel mit den Hochkulturen des Südens. Unglaublich nicht wahr? Aber es ist eine Tatsache. Die Indianer hatten bereits so etwas wie Handelsstraßen. Sie tauschten ihre Nahrung und vor allem Türkise gegen Gold.“
„Beeindruckend“, antwortete er ehrlich und wagte einen Blick in das Loch. Augenblicklich trat er einen Schritt zurück, denn plötzlich überkam ihn ein merkwürdiges Schwindelgefühl. Das Loch führte tief hinab in einen weiteren Raum, dessen Boden ein großer See war und vom ihm stieg ein eigenartiger, süßlicher Geruch auf.
„Dort unten haben wir unseren Toten gefunden“, warf Williams ein, die sich mittlerweile genähert hatte.
Johannson sammelte sich und atmete tief ein, aber dieser markante Geruch hatte sich in seiner Nase festgesetzt und das Schwindelgefühl wollte nicht ganz verschwinden.
„Vielleicht erzählen Sie mir erst einmal genau, was das hier ist.“
„Aber gern doch. Kommen Sie noch mal mit.“
Williams ging zu dem großen Kran herüber und schaltete ihn ein. Weitere Lampen leuchteten auf. Zwei kleine am Kopf des Kranes und drei größere am Boden der Bühne, die nun langsam zu ihnen herüber schwenkte. Die Eisenkonstruktion setzte dumpf auf und eine Wolke Staubs erhob sich schon fast protestierend in die Luft.
„Wir fahren mal darunter und ich erklär Ihnen alles.“
Beide stiegen auf die Bühne und Williams nahm eine Art Fernbedienung zur Hand. Der Kran summte laut auf und schwenkte genau über das Loch. Williams drückte einen weiteren Knopf und sie fuhren langsam herab. Die Luft um sie herum nahm einen immer süßeren Geruch an und Johannson spürte wieder, wie der Schwindel mit alter Kraft zurückkehrte.
„Bleiben Sie ruhig. Es dauert nicht lange und es wird besser.“
„Und warum ist das so?“
„Schauen Sie mal dort auf das Wasser und sagen Sie mir, was Sie sehen.“
Johannson beugte sich über eines der Geländer und blickte auf die näherkommende Wasseroberfläche. Das Wasser war klar und die Scheinwerfer an der Bühne leuchteten fast bis auf den Grund. Aber überall schwammen kleine grüne Algen herum und Johannson erkannte, dass der gesamte Boden damit bedeckt war.
„Ich seh ne Menge Grünzeug, was auf dem Grund wächst. Und scheinbar verteilt sich das überall im See.“
„Ganz genau,“ bestätigte sie ihn, „aber es kommt noch besser, denn das ist keine normale Pflanze. Sie werden wohl in keinem Buch etwas darüber finden.“
„Hmm, ich dachte immer Pflanzen brauchen Licht, aber hier ist es doch ansonst bestimmt immer dunkel.“
„Genau das ist der Punkt. Wenn diese Algen kein Licht bekommen, fressen sie sich regelrecht gegenseitig.“
Johannson schaute sie fragend an. „Sie meinen, es gibt so etwas wie kannibalische Pflanzen?“
„Genau das meine ich.“
„Ok, und was hat das nun alles mit dem Toten zu tun? Warum wurde er gekocht?“
Williams drückte einen roten Knopf und die Bühne hielt abrupt inne. Auch das Summen des Kranes verstummte und um sie herum versank alles in einer absoluten Stille, so dass ihre Stimme mystisch nachhallte.
„Nun, dem liegt eine alte Geschichte zu Grunde. Eine interessante Geschichte. Sie müssen wissen, dass die Anasazi genau hier früher ihren Wassergeist verehrt haben. Er stand für Fruchtbarkeit, aber nicht nur im Guten, sondern auch im Schlechten, denn er war auch verantwortlich für die Lust, die sich eines Menschen bemächtigt. Also schickten die Indianer Priesterinnen, keusche, jungfräuliche Frauen, die den Versuchungen wiederstanden und den Geist besänftigten, denn die freie Lust war etwas verwerfliches.
Wir haben Aufzeichnungen gefunden, die von einer dieser Priesterinnen erzählt. Wir glauben, dass sie alles andere als keusch war und in den Nächten, es wurde immer nur in der Nacht gebetet, zu den Männern kam und sie verführte. Natürlich sagte keiner dieser Männer was, denn die Frau gab sich ihnen in einer Art und Weise hin, wie es die anderen nie getan hätten. Als sie aber schließlich schwanger wurde und sich kein Mann zu ihr bekannte, nahm man an, dass der Geist sie selbst als Braut erwählt hatte. Die Alten und Weisen des Stammes kamen zusammen und berieten sich und man kam zu dem Entschluss, dass der Geist nun seine Braut und seine Kinder bei sich haben wollte. Man brachte in einer Nacht die Priesterin also hierher und wollte sie dem Geist für die Ewigkeit übergeben, zusammen mit seinen Kindern.“
In Williams Augen lag ein sehnsüchtiger Schimmer.
„Und was genau hat das mit all dem zu tun?“
„Nun, man muss sich fragen, warum eine eigentlich keuche und der Lust entsagte Frau sich durch das ganze Dorf schläft.“
„Entschuldigen Sie, aber ich verstehe den Zusammenhang nicht wirklich.“
„Inspektor, ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber schauen Sie mal an sich herab.“
Johannson schüttelte kurz den Kopf, tat aber dann genau das, was ihm die Frau geheißen. Er blickte an sich herunter und sah voller Scham, dass sich seine Hose weit ausbeulte.
„Sie brauchen sich nicht zu schämen. Das ist völlig normal. Dieser süße Geruch, den sie hier riechen, kommt von den Algen. Und der ist quasi ein besonders starkes Aphrodisiakum.
Es kommt aber noch besser und damit hätten Sie dann auch die Erklärung für den gekochten Mann. Dieser See liegt über einer Geothermalen Spalte und jede Nacht, so ähnlich wie bei Geysiren, erhitzt sich das Wasser auf über hundert Grad. Die Gewächse am Boden lassen kleine Teile ihrer Blätter, wenn Sie es so nennen wollen, ins Wasser treiben und dort werden sie regelrecht ausgekocht. Damit nimmt die Wirkung dieses Duftes zu und wir hätten auch die Erklärung für die ausgehungerte Priesterin. Den toten Arbeiter haben wir morgens hier im See treibend gefunden.“
Johannson hatte immer noch die Schamesröte im Gesicht, schien ansonsten aber gefasst.
„Und welche ihrer Indianergeschichten erklärt nun den Stechbeitel in seiner Brust?“
...
Umlet drückte sich so flach sie konnte an die Felswand und beobachtete die Männer und Frauen auf dem weiten Feld vor dem Eingang zum heiligen Berg. Sie überlegte fieberhaft, was sie tun könnte, doch nicht eine einzige Idee kam ihr in den Sinn. Überall schwenkte man wild und funkenstiebend die Fackeln hin und her. Und ab und zu verirrte sich eins der flackernden Lichter auf die Gesichter ihrer Kinder. Sie waren vor Angst verzerrt und ihr Weinen klang wie das Gewimmer eines verletzten Tieres. Umlet erkannte, dass es aussichtslos war und dass sie nur noch sich allein retten konnte. Aber dieser Gedanke erschien ihr tief in ihrem Herzen als abwegig, denn wie konnte sie ihr eigenes Leben retten wollen, ohne auch nur den Versuch gewagt zu haben, dass ihrer Kinder ebenfalls in Sicherheit zu bringen? Umlet war sich auch nicht sicher, wie sie je wieder leben konnte, wenn sie alles einfach zurückließ.
Dann brach der Gedankenstrom in ihrem Kopf plötzlich ab, denn der oberste Priester hatte seine Fackel zu ihr herübergeschwenkt. In ihrem Licht sah Umlet deutlich, wie sich sein Blick auf sie fokussierte. Sie war entdeckt, aber anstatt einfach wegzurennen und ihre Möglichkeiten in der Flucht zu suchen, blieb sie stehen und haderte noch immer mit ihrem Schicksal.
„Dort ist sie“, hallte seine dunkle Stimme zwischen den Wänden wieder, „holt sie euch.“ Es dauerte nur einen Lidschlag, bis die ersten Hände Umlet erreicht hatten und sie hinaus auf das Feld zogen. Sie wurde so heftig gezerrt, dass ihr Kopf in den Nacken fiel und sie den Himmelsausschnitt über sich sah. Die Nacht war klar und überall am begrenzten Firmament funkelten die verheißungsvollen Sterne. Umlet überlegte sich, zu welchem Stern sie wohl reisen würde, wenn die Männer sie zur Braut des Wassergeistes machen würden. Oder würde sie gar tief in die Erde hinabfahren und dort die Ewigkeit verbringen?
Der Himmel verschwand und wich einem steinernen Bogen, der sich kurz darauf erneut wandelte. Umlet blickte nun direkt auf die hohe Decke des Berginneren, auf welche die Fackeln ihre grotesken Lichtspiele warfen. Einige der bemalten Männer standen lediglich mit einem ledernen Lendenschurz bekleidet um das Loch im Boden herum und stimmten einen gutturalen Gesang an. Die Frauen entzünden rund herum kleine Feuer und legten feuchte Zweige darauf, so dass schon bald ein dichter und würziger Rauch den Raum erfüllte. Der Priester zog Umlet auf das Loch zu, bis beide kurz vor seinem Rand standen und in die Tiefe blickten. Unter ihnen war schwach ein See mit merkwürdigen grünen Algen darin zu erkennen. Der süßliche Duft, den Umlet so oft in ihrem Leben als Priesterin eingeatmet hatte, vermischte sich nun mit dem Qualm des Feuers und alles um sie herum schien sich zu drehen. Eine einzige Frage tauchte nun in ihrem vernebelten Gehirn auf. Warum sollte der Geist das wollen? Er hatte sie immer der Lust zugänglich gemacht, doch nie hatte er verlangt, dass sie ihre Gier mit ihm teilte. Sie sollte nicht seine Braut werden. Und wenn man sie ihm doch schenkte, dann würde er sie im Reich der Geister ablehnen und Umlet würde in den Ewigkeiten nutzlos umherirren.
Sie spürte, wie der Widerstand sich in ihr regte und wie sich dieses Gefühl in einer für sie unbekannten Stärke manifestierte. Umlet riss sich los, drehte sich um den Priester und riss ihm den goldenen Dolch aus dem Gürtel. Sie holte weit aus und ein tiefer Schnitt zierte seine Brust. Blut tropfte auf den steinernen Boden und wölbte sich dort zu einem eigenartigen kleinen See. Entsetzt schrieen die anderen auf. Es war gar nicht so sehr der Angriff Umlets, der sie erschreckte, sondern das ungeforderte Blut, das im heiligen Berg vergossen wurde. Einer der anderen Männer kam heran und schlug Umlet den Dolch aus den Händen. Er schlitterte über den glatten Boden und landete in einem Haufen Geröll, der sich an der Ostwand gesammelt hatte. Die kleinen Steine kamen ins rollen und bedeckten die kostbare, goldene Klinge.
„Macht schnell!“, rief der Priester mit schmerzverzerrtem Gesicht, „sie weiß nicht was sie tut. Werft die Kinder und sie hinein und lasst den Geist seine Familie zu sich nehmen!“
Der Gesang der Männer schwoll nun zu einem donnernden Lied an, dass den Raum genauso erfüllte, wie der beißende Rauch. Ihre Arme und Beine zuckten und beschrieben kreisende Bewegungen, bis der erste Schrei ihre Stimmen durchschnitt. Man hatte das erste Kind in das Loch gestoßen, das nun platschend verstummte. Der Priester selber, packte Umlet ein letztes Mal und stieß sie auf die gähnende Öffnung zu. Die nackte Frau versuchte noch sich festzuhalten, doch ihre Hand glitt an dem blutverschmierten Mann ab und verschwand dann mit dem Rest ihres Körpers in der Tiefe. Erst umfing sie die süße Luft, dann das warme Wasser, das bereits so heiß war, dass es auf ihrer Haut schmerzte. Umlet wusste nicht mehr, wo oben und unten war, erkannte aber doch die Blässchen, welche vom Grund heraufstiegen. Das Wasser begann zu kochen. Sie tauchte prustend auf und spie Wasser und Algen. Ein Blick nach oben, gab ihrem Entsetzen über die gesamte Situation neue Nahrung, denn ein weiteres ihrer Kinder fiel auf sie zu. Noch nie zuvor hatte sie sich ihnen so nahe gefühlt; so als Mutter gefühlt.
Oben schrie der Priester: „Werft sie nacheinander hinein und dann baut steinerne Krieger. Umlet ist die Braut des Geistes und sie darf nie wieder hervorkommen. Sie gehört in Ewigkeit zu ihm.“
Dann hörte Umlet nichts mehr, denn ihre letzte Tochter fiel genau auf sie zu. Sie hörte noch den dumpfen Aufprall, als ihre beiden Körper aufeinander prallten.
...
Doktor Williams hatte Johannson zu seinem Zelt begleitet und war dann noch einmal in den Berg zurückgekehrt. Sie müsse noch etwas erledigen, bevor das Wasser beginnen würde zu kochen, hatte sie ihm gesagt. Nun lag der Inspektor unter dem dünnen Stoffdach und dachte nach. Durch das Wasser würde er wahrscheinlich keine Spuren am Körper des Toten finden können, und Zeit um den Ort zu untersuchen hatte er auch keine mehr, denn es war mehr als wahrscheinlich, dass ihn bereits am nächsten Morgen eine Nachricht seines Chefs erreichen würde, in der es heißt, dass die Stelle von ganz oben Druck bekommen würde und Johannson seine Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen habe. Williams würde ihm die Hand schütteln, ihm alles Gute wünschen und dann würden sich ihre Wege trennen. Bei diesem Gedanken, wurde ihm das Herz ein wenig schwer, denn Williams war eine Frau, wie sie auch in seinen Träumen vorkam. Sie hatten einen unglaublichen Körper und war in ihrer Art zugleich bestimmend. Johannson spürte, wie seine Erregung von vorhin zurückkehrte, nur hatte es diesmal nichts mit den eigenartigen Pflanzen zu tun. Vielleicht würde er sich ein paar von diesen Algen mitnehmen und seiner Frau schenken, denn das Leben mit ihr hatte eine gewissen Langeweile erreicht. Er liebte sie und empfand auch immer noch Lust auf ihren Körper, doch sie konnte es ihm nicht gleich tun und so schliefen beide jede Nacht nebeneinander ein, ohne sich in irgendeiner Weise näher zu kommen. Wehmütig dachte Johannson an die ersten Jahre, wo sie beide die Finger nicht voneinander lassen konnten.
Er schüttelte den Kopf, vertrieb diese Gedanken und kam mit seinen Überlegungen wieder auf die Leiche zurück, die nur ein paar Zelte weiter entfernt lag.
Die Augen starr zur niedrigen Decke gerichtet, lag er wach, denn der Schlaf wollte nicht zu ihm kommen, obwohl seine Gedanken sich schon lange in einer unwirklichen Leere drehten. Im Geiste sah er die Sterne durch das dünne Stoffdach hindurchschimmern und wie sich ihre Position ununterbrochen dem Lauf der Erde entsprechend änderte.
„Sind Sie noch wach, Inspektor?“, riss ihn die Stimme Dr. Williams´ aus dem Himmel zur Erde hinab.
„Ja, sicher. Ich kann hier irgendwie keinen Schlaf finden.“
„Das ist schön“, antwortete sie mit einer entfremdet klingenden Stimme, die Johannson ein wenig stutzig machte, jedoch ohne weiter darüber nachzudenken.
Der Reißverschluss wurde von draußen geöffnet und der Inspektor starrte, den Kopf aus dem Schlafsack gestreckt, gespannt den sich öffnenden Zähnen entgegen. Williams schlüpfte in das enge Zelt hinein, und ließ sich kniend neben ihm nieder. Ihre Haut schimmerte im schwachen Feuerlicht, das von draußen hereindrang. Ihre Augen hingegen wirkten eher matt.
„Ich kann auch nicht schlafen“, begann sie, wobei sie ihre linke Hand auf die Oberseite des Schlafsacks legte. Gedankenverloren begann sie den Stoff glatt zu streicheln. „Ich finde hier auch nur selten Schlaf. Meistens kann ich meine Gedanken nicht von der Arbeit losreißen.“
Wieder fiel Johannson die Veränderung in ihrer Stimme auf. Sie war heller; durchdringender, fast schneidend.
„Na ja. Bei mir liegt es eher am ständigen Wind hier unten und dem Feuer.“
Sie schien kaum auf diese Bemerkung zu reagieren und Johannson registrierte einen süßlichen Geruch, der sich langsam im Zelt verbreitete. Er ging von ihr aus.
„Ist es Ihnen denn gar nicht zu warm in diesem Schlafsack?“ Mit diesen Worten glitt die Hand des Doktors zum Reißverschluss hinab und zog ihn in einer Bewegung auf.
„Ähhh,“ stotterte der Inspektor, „eigentlich nicht.“
„Ja, Sie haben natürlich recht. Mir ist es eigentlich auch zu kalt.“
Williams drehte sich auf ihren Knien und legte sich mit in den Schlafsack hinein. Johannson begann ungläubig zu lachen, doch er verstummte schnell, als er die warme Haut der jungen Frau an seiner spürte. Sie drückte sich näher an ihn heran und ihre Brust drückte gegen seinen linken Arm.
„Na gut. Ist ja schön, dass ich ihnen helfen kann.“ Johannsons Stimme hatte einen verlegenen Ton angenommen und als er sich selbst hörte, rief er sich zur Ordnung. Er war ein erwachsener Mann und hatte schon öfters neben einer Frau gelegen. Das einzige, was nun anders war, war das diese hier entgegen ihrer sonstigen Reserviertheit ihr ganzes Verhalten anscheinend geändert hatte. Aber Johannson wusste aus Erfahrung, dass man sich in solchen Dingen vertun konnte.
„Einsam und kalt. So kann man meine Arbeit wohl am besten beschreiben. Alle halten gebührenden Abstand zu einer so jungen Frau wie mich, denn sie kommen mit der Autorität, die sich hinter dem Äußeren verbirgt einfach nicht zurecht.
Williams rückte ein Stück höher und Johannson bemerkte ihre harten Brustwarzen. Dann legte sich ihre Hand auf seinen Bauch und begann ihn zu streicheln. Ein warmes, wohliges Gefühl breitete sich in ihm aus, wie er es schon lange nicht mehr gespürt hatte, aber zugleich fühlte er sich auch unwohl, so als sei er in einem fremden Haus, das er nicht betreten durfte.
„Ich weiß was Sie meinen, aber ich glaube nicht, dass das hier so eine gute Idee ist.“ Er glaubte fast selbst nicht, was er da sagte, aber er war verheiratet und eine solche Situation, hatte er seitdem nicht mehr erlebt. Seine Treue war noch nie auf die Probe gestellt worden und er wusste nicht, wie er damit umzugehen hatte.
„Das ist eigentlich schade“, hauchte sie ihm in sein Ohr, wobei ihre Hand tiefer hinab rutschte. Ihre Finger zogen unsichtbare Linien um seinen Bauchnabel herum und legten sich auf den Bund seiner Hose.
„Ich mein, es tut doch niemanden weh.“ Williams Atmen ging hörbar schneller und Johannson bildete sich sogar ein, ihren Herzschlag zu hören. Oder war es sein eigener? Eine Sekunde später stellte sich diese Frage nicht mehr, denn das Klopfen in seiner Brust schwoll zu einem Hämmern heran, als Williams die Finger zwischen seine Beine gleiten ließ, unter der Hose hindurch. Sogleich verhärtete sich sein Geschlecht und die schon vergessene Lust bemächtigte sich seiner Gedanken. Er griff dem Doktor an die Brust und knetete gierig das weiche Fleisch. Er fühlte sie und er roch sie. Und dieser Geruch lag ihm so wohlig, so vertraut in der Nase, dass er immer öfter und tiefer einatmete, nur um sie zu riechen. Es war ein süßer Geruch. William zog ihm die Hose herunter und ihr Gesicht verschwand im Innern des Schlafsackes. Er spürte ihre langen Haare auf seiner Brust und ihre Lippen, wie sie an ihm herunterglitten. Sie war nun stürmischer und ihr Körper versteifte sich, als sie in seinem Schambereich ankam. Johannson stöhnte laut auf und genoss jede Sekunde. Das Gefühl der feuchten Lippen, die sich um ihn legten und diesen unwiderstehlichen Duft, den ihre Kleider und ihre Haut ausströmten. „Der Duft aus der Höhle“, ging es ihm durch den Kopf und seine Gedanken begannen wieder zu arbeiten, während Williams sich unter dem Stoff des Schlafsackes begann wie eine Schlange zu bewegen. Sie rieb sich immer heftiger an seinem Körper, ohne ihre Lippen von ihm zu nehmen. Ihr Verhalten erinnerte den Inspektor an ein Tier, das sich seiner Triebe nicht widersetzen konnte und als dieser Vergleich in seinem Kopf wieder und wiederhallte, begriff er, dass Williams bis eben in dem Kiva gewesen sein musste. Der See musste gekocht und die Wirkung der Alge sich ganz verbreitet haben. Diese Erkenntnis traf ihn zusammen mit dem Bild seiner Frau, die jetzt in ihrem Bett lag und ein Arm um sein Kissen geschlungen hatte; auf ihn wartend.
Ohne nachzudenken, legte er seine Hand zwischen sein erigiertes Glied und ihre Stirn und drückte sie sanft, aber bestimmt weg. Ihr Kopf tauchte wieder auf und ihre Augen blickten ihn mit der gleichen mattheit wie zuvor an. „Willst du es jetzt richtig?“, fauchte sie schon fast und setzte sich rittlinks auf ihn, wobei sein Glied schmerzhaft abknickte. Johannson stieß sie mit einem Schmerzenschrei zur Seite, doch Williams legte sogleich wieder Hand an ihn.
„Nein!“, rief er, aber sie reagierte nicht, machte ununterbrochen weiter.
Diesmal stieß er heftiger zu und Williams machte einen Satz rückwärts, so dass sie fast aus dem Zelt fiel. „Bleiben Sie mir fern.“
„Ich will dir aber nicht fern bleiben. Ich will, dass du mir es so richtig zeigst.“
„Nein! Vergessen Sie es“, schrie er nun lauter, während sie wie eine Katze auf ihn zukroch. Johannson holte aus und gab ihr eine Ohrfeige. Er stöhnte vor eigener Überraschung auf. Noch nie hatte er eine Frau geschlagen.
Dr. Williams wich zurück und nun war in ihren Augen etwas zu sehen. Es war Zorn.
„Du lehnst mich ab? Das kannst du nicht.“ Sie riss die obersten Knöpfe ihres Hemdes einfach auf und das weiße, rötlich schimmernde, Fleisch kam zum Vorschein. Ihre Brustwarzen drückten sich hart heraus, zeigten herausfordernd auf Johannson.
„Verschwinden Sie, Doktor.“
„Nein! Ich verschwinde nicht. Niemand wirft mich so weg!“ Ihre Stimme zitterte vor Erregung und Wut. Sie warf sich auf den Inspektor und legte ihre Hände um seinen Hals, während sie ihr Becken auf seine Lenden drückte. Ihre Finger schlossen sich und Johannson spürte wie sein Adamsapfel tief in seine Kehle gedrückt wurde. Er keuchte und bäumte sich unter ihrem Körper auf. Dabei fiel sein Blick auf ihre Hose und einen silbernen Gegenstand, der daraus hervorschaute. Es war ein Stechbeitel. „Wie ihn Archäologen benutzen“, ging es ihm durch den Kopf und das Puzzle setzte sich zusammen. Es war Williams, die den Arbeiter getötet hatte. Oder vielmehr war es dieses verdammte Kraut, das dort unten in diesem See schwamm. Es machte vor lauter Geilheit wahnsinnig.
Williams drückte nun ein Knie auf seine Brust und die Luft entwich schlagartig aus seinen Lungen und der hartnäckige Griff um seinen Hals hinderte ihn daran, sie von neuem zu füllen. Er gab der Frau einen derart kräftigen Stoß, dass sie diesmal tatsächlich aus dem Zelt herausgeschleudert wurde. Johannson atmete gierig ein und zog gleichzeitig seine Hose wieder herauf. Draußen hörte er einen wütenden Schrei und dann Schritte, die sich entfernten. Johannson stürmte nach draußen, wo ein kalter Luftzug seinen nackten Oberkörper umfing. Williams rannte an dem Feuer, welches in der Mitte des Feldes brannte, vorbei und hielt auf den Eingang zum Kiva, zum heiligen Berg, zu. Der Inspektor rannte ihr nach, nicht wissend, dass sie genau das beabsichtigte.
In Innern des Berges brannte immer noch das Licht der Scheinwerfer, doch es war nicht mehr der helle Schein wie vorhin, denn dichte Wolken Wasserdampfs lagen in der Luft, die wie Nebel wirkten. Sie brannten auf Johannsons Haut, doch von Schmerz war nicht zu sprechen. Er blinzelte und versuchte die Wolken zu durchstoßen, sie zu finden.
Als der süße Dampf sich in alle Verästelungen seiner Lunge setzte, bemerkte er seinen Fehler. Genau das hatte Williams beabsichtig. Er sollte ihr Folgen und der Lust erliegen.
Plötzlich löste sich ein Schemen aus den Wolken und fiel ihn von hinten an. Johannson fiel zu Boden und schlitterte mit seiner Brust und der rechten Schulter über den rauen Boden. Er fühlte das warme Blut, das sich an diesen Stellen ergoss. Dann war Williams auch schon über ihm und schlug wie eine Wilde auf ihn ein. Immer wieder hämmerten ihre Fäuste auf ihn nieder und Johannson konnte sich nicht wehren. Seine Sinne schwanden und alles begann sich zu drehen, während nur ein Gedanke seinen Geist beanspruchte. Ein Gedanke an eine junge Frau, eine willige Frau...seine Frau. Der Inspektor versuchte sich von ihr zu befreien und kroch nach hinten hin weg, doch sie blieb auf ihm und schlug weiter. Überall schien sie ihn zu treffen und als ihre Faust zwischen seinen Beinen landete, dort, wo sich die Lust bereits wieder zu zeigen begann, blitze der Schmerz so hell hinter seinen Augen auf, dass seine Arme unkontrolliert hin und her schlugen. Seine linke Hand grub sich tief in einen Geröllhaufen. Haut wurde aufgerissen und die Knöchel brannten wie Feuer. Williams warf ihr Gesicht nach hinten. Es verschwand in dem Dunst aus Wasser und ausgekochten Algen. Und in diesem Augenblick schloss sich Johannsons Hand um einen kalten und harten Gegenstand, den seine Finger unter dem Geröll ertastet hatten. Er zog ihn daraus hervor und in seiner Hand blitzte ein goldener Dolch auf.
Die Kräfte des Doktors schienen immer weiter zu wachsen, denn jeder seiner Versuche, sich gegen sie zu wehren, schien einfach zu verpuffen.
Johannson nahm den Dolch und trieb ihn ihr in das Bein. Williams schrie auf und zuckte so heftig, dass sie förmlich von ihm herunterfiel. Johannson nutzte die Gelegenheit und versuchte aufzustehen, doch seine Beine waren so wackelig, dass er sogleich wieder zu Boden ging. Williams schrie immer noch und ihr Körper war nur noch eine Silhouette im Nebel. Das war seine zweite Chance. Er riss sich zusammen und kam zum stehen. Tastend und die Augen fest zusammengekniffen, bewegte er sich gebückt vorwärts, mit der Hoffnung den Ausgang zu finden. Von Williams war nun nichts mehr zu hören.
Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, während ein Rauschen in seinem Kopf unerträglich heranschwoll. Als sie ihn ein zweites Mal von hinten erwischte, war es anders. Johannson fiel nicht und konnte sich selbst mit rudernden Armen fangen. Er lief vorwärts, von dem dem Gedanken beseelt, soviel Abstand zwischen ihn und ihr zu bringen wie nur möglich, als sich das Loch im Boden vor ihm auftat. Johannson schrie entsetzt auf, aber sein Körper reagierte instinktiv. Seine Beinmuskulatur spannte sich und er machte einen großen Satz über den Abgrund hinweg. Er wusste automatisch, dass es zu spät war um anzuhalten, denn der eigene Schwung hätte ihn über die Klippe befördert. Er hoffte auf die Bühne, die irgendwo vor ihm hängen musste. Aber bevor ihn der Gedanke der Hoffnung voll erfüllte, spürte er einen kräftigen Schlag gegen seine Brust, der ihm ebenfalls zum zweiten Mal an diesem Tag, die Luft aus den Lungen drückte. Er schlug gegen das Gestänge der Bühne und rutschte daran herab. Nur mit Mühe konnte er sich festhalten und die eisernen Streben knackten klagend unter seinem Gewicht. Die Bühne geriet bedrohlich ins schwanken, doch Johannson konnte sich mit aller Kraft fest halten. Hinter sich hörte er den Schrei Williams. Sie hatte den Sprung nicht gewagt. Sie hatte versucht anzuhalten. Das verriet ihre Stimme, die unter ihm verschwand, genauso wie das hallende Platschen des kochenden Wassers.
Eine heiße Dampfwolke, begleitet von einem letzten, hellen Schrei, stieg nach oben und jagte schmerzende Wellen durch den Körper des Inspektors. Er zog sich an der Bühne herauf und kam schwer atmend auf dem Bretterboden zum liegen. Mit letzter Kraft griff er nach der Steuerung und ließ den Kran herumschwenken. Schwach hörte er aufgebrachte Stimmen, die von draußen hereinschallten. Sie waren wohl durch den Krach geweckt worden und schauten sich nun um. „Sie holen mich hier heraus“, dachte Johannson laut und die Welt um ihn herum wurde schwarz.