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Uhrenvergleich
11.27 Uhr, vor der Haustür des Sperlingswegs 37
Nervös warf Anja einen Blick auf ihre Armbanduhr. Schon fast halb zwölf. Wo bleibt er nur?
Sie schob den Gurt ihres Rucksacks auf die andere Schulter, verlagerte ihr Gewicht auf den linken Fuß und starrte die Straße hinunter. Nichts, nur ein silbergrauer Mercedes, der an ihr vorbei glitt. Vorsichtshalber trat Anja einen Schritt in den Hauseingang zurück, aber die Insassen schienen sie gar nicht bemerkt zu haben. Der Fahrer blickte stur geradeaus und der Beifahrer gestikulierte wild, als wolle er den anderen von etwas überzeugen. Sie warfen keinen Blick in Anjas Richtung. An der nächsten Ecke verlangsamte der Wagen seine Fahrt und bog beinahe lautlos in die Erlenhofstraße ein.
Wieder ein Blick auf die Uhr. 11.29 Uhr. Um viertel nach elf waren sie verabredet gewesen. Es war ihm doch hoffentlich nichts passiert?
Anja kramte in ihrem Rucksack nach dem Handy, suchte die eingespeicherte Nummer und drückte die Wähltaste. Leises Piepsen, dann Klingeln, einmal, zweimal, nach dem fünften Mal schaltete sich die Mailbox ein. Ärgerlich legte Anja auf und steckte das Handy wieder weg. Wieder sah sie Richtung Hauptstraße. Nichts. Der kleine Kiosk an der Ecke lag friedlich in der Mittagssonne.
Das plötzliche Kreischen von Bremsen und ein ohrenbetäubender Krach schreckten Anja aus ihren Gedanken. Eine scheinbar endlose Stille folgte dem Lärm, dann taumelte eine Gestalt in einem dunklen Anzug um die Ecke, hinter der der Mercedes verschwunden war. Als der Mann Anja bemerkte, zog er unter seinem Jackett eine Waffe hervor.
Von der Hauptstraße her bog ein weiterer Wagen in den Sperlingsweg ein.
***
11.27 Uhr, Mitte Erlenhofstraße, Fußgängerüberweg
“Bonnie und Clyde des 21. Jahrhunderts“, die Schlagzeile sprang Lennart geradezu entgegen, als er sich dem Kiosk näherte. Er lächelte verschmitzt vor sich hin, während er stehen blieb, um die Phantombilder zu betrachten. Sie waren nicht sehr gut gelungen. Auf Zeugenaussagen war eben keinerlei Verlass. Aber was sollte es, ihm konnte das ja nur recht sein.
Umständlich suchte er in seiner Hosentasche nach dem Portemonnaie. Dabei überflog er mit einem Auge die Artikel. Direktor der Zentralbank spricht von gut organisierten Tätern… Fluchtwagen stand schon bereit… Effizientes Vorgehen…
Gute Arbeit, dachte Lennart bei sich. Und wenn alles glatt gegangen ist, dann sind sie jetzt schon am Flughafen.
Endlich hatte er seinen Geldbeutel gefunden, kramte einige Münzen heraus und kaufte drei verschiedene Tageszeitungen. Zwei davon rollte er zusammen und verstaute sie in seiner Umhängetasche, die dritte schlug er gleich auf und blätterte rasch zu dem Leitartikel über den Banküberfall. Während er noch auf den Zebrastreifen zusteuerte, vertiefte er sich in den Text.
Polizeiinspektor Conrad äußerte heute morgen einen dringenden Tatverdacht gegen zwei Personen, die offensichtlich schon häufiger in derartige Fälle verwickelt waren. Es handelt sich dabei um einen Mann und eine Frau, die schon im Vorjahr in mehreren deutschen Städten zugeschlagen haben. Ein weiterer Hintermann wird vermutet. Die Identität der Frau bleibt weiterhin…
Etwas krampfte sich in Lennarts Magen zusammen. Conrad schon wieder. Er hatte gedacht, der läge noch im Krankenhaus. Nie hätten sie das Ding gedreht, wenn er gewusst hätte, dass Conrad schon wieder draußen war. Für einen Moment blieb Lennart stehen, um den Artikel genauer in Augenschein zu nehmen. Er musste herausfinden, ob es nötig war, die Stadt zu verlassen.
Bremsen kreischten direkt neben ihm. Lennart fuhr erschrocken zusammen, sah hoch und blickte für einen Moment in ein entsetztes Gesicht hinter dem Steuer eines roten Opels. Dann schleuderte das Auto zur Seite und krachte frontal in einen geparkten Wagen. Immer noch starr vor Schreck beobachtete Lennart, wie sich ein Mann aus dem verunglückten Auto wand und in Richtung Sperlingsweg wankte.
***
11.27 Uhr, Anfang Erlenhofstraße
Nein, das lasse ich mir einfach nicht bieten! Frank biss die Zähne zusammen und starrte verkrampft auf die Straße, die friedlich im Mittagssonnenlicht vor ihm lag. Anja gehört mir. Niemand wird sie mir wegnehmen.
Unwillkürlich beschleunigte er. Er musste sich beeilen, wenn er noch bei Anja vorbei schauen wollte. Vielleicht konnte er sie ja doch überzeugen.
„Anja gehört jetzt zu mir!“ Chris' Worte hatten sich in Franks Gehirn gefressen und sich dort festgesetzt. „Sie hat sich für mich entschieden, schon vor langer Zeit. Sie hat sich eben nur nicht getraut, es dir zu sagen. Aber sie möchte, dass du ihr in Zukunft fernbleibst.“
Frank presste die Lippen aufeinander. Das konnte einfach nicht sein. Seine Anja. Mit diesem Kerl. Heute morgen hatte er sie angerufen. Sie hatte müde geklungen, sehr erschöpft. Bestimmt behandelte Chris sie nicht gut.
„Wir fahren heute in Urlaub“, hatte sie gesagt. „Der Flieger geht um halb drei. Bitte ruf nicht mehr an, ja, Frank?“ Dann hatte sie aufgelegt. Einfach so. Lange Zeit war er einfach nur in seiner Wohnung gesessen, hatte die Wand angestarrt und über sich und Anja nachgedacht. Über die Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, all die langen Jahre. Wann hatte er eigentlich Chris kennen gelernt? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Und warum überhaupt musste er ihn Anja vorstellen? Er hätte es wissen müssen. Chris mit seinem smarten Auftreten und seinem charmanten Lächeln. Solche Männer sollte man nie der Liebe seines Lebens auch nur zu nahe kommen lassen.
Es war so still im Auto. Plötzlich sehnte sich Frank nach irgendeinem Geräusch, das sein Leben erträglicher machen würde. Mit der rechten Hand tastete er nach dem Autoradio. Einen Moment nur ließ er dabei seinen Blick von der Straße. Als er wieder aufsah, sprang ihm das Bild eines entsetzten Mannes in die Augen, der mitten auf dem Fußgängerüberweg stehen geblieben war.
Panisch riss Frank das Lenkrad herum und trat gleichzeitig mit aller Macht auf die Bremse. Die Bremsen kreischten, der Wagen schleuderte, brach aus und schoss auf einen silbergrauen Mercedes zu, der am Straßenrand parkte. Entsetzt schloss Frank die Augen. Gleich darauf zerriss ein ohrenbetäubender Knall die warme Mittagsluft und Frank spürte, wie er nach vorne geschleudert wurde. Schmerzhaft grub sich der Gurt in seinen Körper, dann wurde es dunkel um ihn herum.
***
11.27 Uhr, Hauptstraße
Mit geübten Handbewegungen lenkte Chris den Wagen wieder aus der Einfahrt. Die Männer in dem silbernen Mercedes waren an ihm vorbei gezogen, ohne zu bemerken, dass sie ihn verloren hatten. Jetzt heftete er sich an ihre Fersen. Er musste herausfinden, ob sie schon wussten, wo er hatte hinfahren wollen.
Insgeheim fluchte er bei sich über die Polizisten. Er hatte schon längst bei Anja sein wollen, eigentlich wären sie jetzt schon auf dem Weg zum Flughafen. „Keine Bange“, hatte Lennart immer gesagt. „Ich habe alles für euch organisiert. Solange Conrad im Krankenhaus liegt, kann uns gar nichts passieren. Er ist der einzige Polizist, der euch einmal von nahem gesehen hat.“
Ja, verflucht, wenn das mal gestimmt hätte. Aber schon zwei Minuten, nachdem Chris aufgebrochen war, hatte sich dieser verflixte Mercedes an seine Reifen geheftet. Er hatte ihn einfach nicht abschütteln können. Immer wieder war er Schleifen gefahren, im letzten Moment über eine gelbe Ampel gerast oder hatte plötzliche Spurwechsel vorgenommen. Vergeblich. Die Männer in dem Mercedes waren richtig gut, die hatten sich nicht abhängen lassen. Doch dann hatte Chris diese Einfahrt erspäht.
Verflixt, und währenddessen macht sich Anja sicher Sorgen!
Er musste lächeln, als er an Anja dachte. Seine feine kleine Komplizin. Chris hatte von Anfang an gewusst, dass sie beide zusammen gehörten. Schon, als Frank sie einander vorgestellt und Anja so schelmisch gelächelt hatte.
Wenn Frank wüsste, wie viele Dinger wir schon zusammen gedreht hatten, bevor sie sich endlich entschlossen hat, ihn zu verlassen.
Chris’ Handy klingelte. Er fluchte, tastete auf den Beifahrersitz und stieß es dabei versehentlich auf den Fußboden. Es klingelte weiter. Nervtötend. Am liebsten hätte er es einfach läuten lassen, aber wer wusste schon, ob es nicht vielleicht wichtig war. Wenn die Polizei ihm schon auf die Spur gekommen war, vielleicht standen sie ja auch schon bei Lennart. Oder Anja…
Chris fuhr den Wagen an den Straßenrand und fischte das Handy unter dem Sitz hervor. Er konnte gerade noch einen Blick auf Anjas Nummer erhaschen, als das Klingeln verstummte. Mit klopfendem Herzen rief er seine Mailbox ab, aber sie war leer.
Seufzend ließ er das Auto wieder an und steuerte es auf die Straße zurück. Der silberne Mercedes war verschwunden. Waren sie abgebogen? In den Sperlingsweg? Chris hatte es gar nicht bemerkt. Auf alles gefasst lenkte er den Wagen in die Straße, in der Anja wohnte.
Sie stand stocksteif vor ihrer Haustür und starrte einen Mann an, der mit der Waffe in der Hand auf sie zu wankte.
***
11.27 Uhr, Hauptstraße, etwas weiter vorne
„Du hast ihn verloren. Das glaube ich einfach nicht!“, Inspektor Conrad fluchte ungehemmt. „Wir waren so nahe an ihm dran, und nun ist er einfach weg? Dreh sofort um!“
„Ich kann nicht, wir sind mitten auf der Hauptstraße. Wenn wir hier wenden, dann wird es ihm auffallen.“ Bastian, sein Assistent klang leicht beleidigt. Conrad biss sich auf die Lippe.
„Mann, dann such dir eben eine Seitenstraße oder so was! Hauptsache, du bekommst dieses Ding so schnell wie möglich gedreht.“ Er schimpfte noch weiter, als Bastian in eine kleine Nebenstraße einbog. „Na klasse hast du das gemacht. Das ist eine Einbahnstraße, wie willst du denn hier umdrehen? Ist das etwa weniger auffällig, wenn wir hieraus auf die Straße zurückfahren?Super.“
Bastian kaute betreten auf seiner Unterlippe herum. Aus den Augenwinkeln entdeckte Conrad eine junge Frau am Straßenrand, die ihr Auto unverwandt anstarrte. Irgend etwas an der Frau kam Conrad bekannt vor, aber es wollte ihm partout nicht mehr einfallen. Er gab den Gedanken auf und herrschte stattdessen Bastian an. „Nun los doch, bieg da vorne ab, vielleicht können wir durch eine andere Straße zurückfahren!“
Bastian lenkte den Wagen um die Ecke und hielt gerade nach einer Wendemöglichkeit Ausschau, als Conrad Lennart erspähte.
„Anhalten, sofort!“ Bastian stoppte den Wagen an einer Bushaltestelle und Conrad beugte sich nach vorne, um seinen alten Bekannten näher in Augenschein zu nehmen. Seelenruhig in einer Zeitung blätternd schlenderte dieser auf den Fußgängerüberweg zu.
Ja, ich kann mir schon denken welchen Artikel du liest! Conrad spürte, wie sich ein Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete. Wenn Lennart da nicht mit drin steckt, dann fresse ich einen Besen.
„Ich steig aus und werde mal ein Wort mit unserem Freund wechseln.“
Gerade, als er nach dem Türgriff langte, durchbrach das schrille Quietschen von Bremsen die Stille. Entsetzt sah Conrad ein rotes Auto auf sich zu schießen, dann rammte es mit ohrenbetäubendem Knall die Fahrerseite des Mercedes und schleuderte ihn herum. Conrad wurde so hart gegen die Innenverkleidung geschmettert, dass ihm für einen Moment schwarz vor den Augen wurde. Dann kehrte sein Bewusstsein wieder zurück und mit ihm die Erinnerung, woher er die junge Frau kannte. Natürlich, die Stadtsparkasse damals.
Sein Schädel brummte und seine Seite schmerzte furchtbar, trotzdem wand er sich am Airbag vorbei aus dem Auto. Er hatte nur noch einen Gedanken, er musste die junge Frau stellen. Bastian hatte er dabei völlig vergessen.
Unsicher kam er auf die Füße und steuerte die Straße an, aus der sie gerade gekommen waren. Die Frau stand immer noch da und starrte ihm entsetzt entgegen. Conrad zog seine Waffe.
In dem Moment bog der Verdächtige, den sie verloren hatten, in die Straße ein.
Es war 11.32 Uhr.