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Umkehr

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10.06.2009
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Umkehr

Es war ein Fehler, heute zur Arbeit zu fahren. Schon zu Beginn verschmolzen die Zahlenkolonnen vor meinen Augen zu kryptischen schwarzen Klumpen. Der Blick schweifte ab und suchte am dunstigen Horizont nach gar nichts, denn in Gedanken war ich bei Klara und wer sollte es mir verdenken. Schwanger saß sie daheim in der Küche, sicher noch angespannter, noch nervöser als ich, ihren schönen Bauch streichelnd, aus dem der Nabel sich schon im August kirschengleich herausgedrückt hatte. Vor 15 Minuten erhielt ich dann den Anruf: Klara lag im Krankenhaus. Die Wehen hatten eingesetzt. Sie musste gewusst haben, dass es soweit war. Jetzt befand sie sich im Harburger Marienhospital, die Ambulanz war gerufen worden, von ihr, während ich kannenweise Kaffee in mich hineingoss und koffeintrunken wachdöste. Gunnarsson stieß mich regelrecht aus der Tür, lachte, drückte meine Hand und sagte etwas über Vaterfreuden, Windeln und Nachtwachen, worauf ich nichts erwiderte, sondern ins Auto stieg und den Motor anließ.

Wir werden zur echten Familie wachsen, dem destatis ein Schnippchen schlagen, indem Klara der Statistik von 1,2 Kindern pro Familie ganzzahlig entgegengrinst. Endlich steht also die Vaterschaft bevor. Auf die anstrengende Infantenzeit folgen Myriaden von Sorgen: Masern, Mumps und aufgeschlagene Knie sind nur der Anfang. Später wird es gelten, Hausaufgaben gemeinsam zu meistern, die kullernden Tränen vermeidend, gute Freunde zur Übernachtung einzuladen und pubertierende Idioten fernzuhalten. Angesichts dieser ungewissen Zukunft voller Sorgen, ja eigentlich nur Sorgen und Freuden, bekommt die Zeit einen ganz anderen Wert. Das relative Zeitgefühl: Den Feierabend erwartet man ungeduldig, während die Kindheit wie im Flug verging. Jetzt als Vater hat man unendlich viel Zeit, schließlich ist jeder Moment, von nun an ereignisschwanger, der Erinnerung würdig, kostbar.

Wenn ich nur daran denke, was Klara gerade durchmacht, kann ich nicht schnell genug fahren. Hubraum pinseln heißt es da! Und die Klimaanlage einschalten, der Schweiß läuft wie beim Sennenhund zur Sommerzeit. Wird nichts bringen, es sind die Nerven, nicht die Temperatur, die das Hemd durchnässen. Beim Aussteigen machts dann ein Geräusch als öffnete man einen Klettverschluss. Apropos Klettverschluss: So einen habe ich schon ewig nicht mehr gesehen. Die 1980er sind passé, pas en vogue, das sagt Klara mir schon ewig, na ja, jedenfalls seitdem sie vorüber sind.
Meine süße Klara Kirschnabel, bald bin ich bei dir! Fast leere Straßen, Gott lobe den nine to five dayjob. Und Anglizismen, die nicht scheuen, das prägnant zu sagen, was wir nur kompliziert herausbringen.

Straßenschilder fliegen vorbei. Da, Harburg, es steht schon drauf. Müsste jetzt bei Neuwiedenthal sein. Die 1,8-Litermaschine entfesselt raunend Pferdestärken, mit der werde ich rechtzeitig ankommen, beim nächsten Spross ists wahrscheinlich anders. Die Familienkutsche muss dann her, leistungsärmer, aber dafür mit viel Platz, ein Minivan vielleicht. Klara liebäugelt seit langem mit japanischen Modellen, bei denen gibt’s die meisten Extras inklusive. Ob das Kleine sich für Autos begeistern wird? Die Anlagen vererben wir schließlich: Der Vater entwirft Kotflügel und ganze Bodykits, die Mutter ist Fan von Honda in der Formel Eins. Vom Geschlecht darf man das kaum abhängig machen, denn zu fragen, was Jungen oder Mädchen mögen, das ist wie die Frage, was besser schmeckt, Ketchup oder Senf.

Was für ein außergewöhnliches Geschöpf Klara ist, wirklich, so dämlich verliebt fühle ich selten. Dem Ingenieur ist die Sache klar, einfache Seelenphysik: Der Energieerhaltungssatz gilt sogar in der Liebe, alle Wärme verteilt sich hin zum totalen Gleichgewicht. Das erklärt, warum aus heißem Verlangen mit den Jahren homogene Glut wird. Wer hätte gedacht, was ein Kind an Kohle einbringt, um zwar beim Bild, aber der Realität fern zu bleiben.

Komm Wolfgang, das ist nicht dein Ernst! Das kann einfach nicht wahr sein! Ich sause tatsächlich lupenrein an der Ausfahrt vorbei, mit 190 Sachen. Ausgerechnet heute! So, ruhig Brauner, klare Gedanken, rational bleiben. Die nächste Ausfahrt ist Rade. Dort könnte ich runter, über die Autobahn, rauf auf die Autobahn und zurück. Kostet, herrje, das sind gut sieben Kilometer, hin und her macht das fast zehn Minuten! Nein, ganz anders. Tatsache ist: Die Autobahn ist praktisch leergefegt, wie ausgestorben. Tatsache ist auch: Meine Frau bekommt ein Kind. Im Übrigen verläuft hier alles dreispurig, plus Standstreifen. Also hopp, Nägel mit Köpfen, es wird umgekehrt. Hinter mir, was ist da los? Klar, freie Bahn. Gute Güte, im Grunde lebensgefährlich, was ich hier fabriziere! Na komm, es passt. Da wären wir, der Standstreifen. Noch ein Kilometer, dann die Ausfahrt hoch, fertig.

Diese verdammten Begrenzungspfähle, bei hoher Geschwindigkeit wirken die hypnotisierend, Pendeln gleich, ich muss geschlafen haben. Die sind Schuld, würde ich der Polizei erzählen, ich erbitte Nachsicht am stressigsten Tag meines Lebens. Herr Wachtmeister, meine Frau bekommt ein Kind! Richtig, das ist den Führerschein allemal wert, zudem, ich bitte Sie, auf dem Standstreifen bei rationalem Tempo, nur tausend Meter, bedachter geht’s nimmer. Haben Sie Familie? Frau und Kinder? Sehen Sie's mir nach, denken Sie daran, was in Ihnen bei der Geburt des ersten Kindes vorging, da ist man doch nicht Herr seiner selbst. Wie, Sie sind noch gar nicht Vater? Na bitte, was auf Sie zukommt, ich gratuliere! Probleme mit den Gesetzeshütern hatten wir bisher nie. Ha, ich seh’s vor mir, wie Klara ungläubig aus dem Fenster schaut und unser Wagen mit Polizeieskorte auf dem Krankhausparkplatz einrollt.

Rollen, von mehr kann bei dieser Schleichfahrt auf dem Standstreifen auch kaum die Rede sein. Und was macht der da, der übliche Zirkus ist das nicht, kein Lichthupenkonzert. Der taumelt quer über die halbe Fahrbahn. Und wieder zurück. Und wieder her. Freundchen, pass auf, dein Anhänger schlingert! Junge, wo willst du denn hin?! Komm, brems!

Harburger Abendblatt, 22.07.06. LOKALES.
Zwei Tote bei Geisterfahrt auf der A1

Am gestrigen frühen Nachmittag wechselte ein PKW-Fahrer mit Stader Kennzeichen auf der A1 bei Harburg aus ungeklärtem Grund die Fahrtrichtung. Der Geisterfahrer kollidierte mit einem Wilhelmsburger Kleingerätetransporter. Der Fahrer des Transporters war sofort tot, der Geisterfahrer starb noch am Unfallort. Der Autobahnabschnitt Harburg-Rade musste wegen Räumarbeiten für drei Stunden beidseitig gesperrt werden.

 

Das war traurig. :-(
Mir ist vorher nie in den Sinn gekommen, dass es Geisterfahrer geben könnte, die das bei vollem Besitz ihrer Geisteskräfte tun.
Das ist eine sehr gute Geschichte.
Ich hoffe sie ist niemals wirklich passiert. :-/

Liebe Grüße,
Vincent

 
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Hallo agopo,

eine erfrischende, im Großen und Ganzen flüssig zu lesende Episode. Bis wenige Zeilen vor Schluss; das tragische Ende kam völlig unerwartet und war mir ein regelrechter "Paukenschlag". Du belegst damit eindrucksvoll, dass eine gute Geschichte nicht immer ein Happy-End haben muss.

Den werdenden Vater und dessen Umfeld hast Du aus meiner Sicht sehr plastisch und glaubwürdig charakterisiert, auch als (noch) kinderloser Betrachter konnte ich mich ohne Mühe in dessen Gefühlswelt und Gedanken einfinden.

À propos griffige Anglizismen: Well done!

 
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Hej agopo,

beim Lesen empfunden:

aus dem der Nabel sich schon im August kirschengleich herausgedrückt hatte.
Vorschlag, weil ich dieses "hatte" am Ende nicht schön finde: aus dem der Nabel schon seit August kirschengleich heraus ragte.

die Ambulanz war gerufen worden, von ihr,
warum Passiv, wozu der Einschub?
… Marienhospital, hatte die Ambulanz gerufen, während…

Endlich steht also die Vaterschaft bevor.
Eigentlich steht sie ja schon seit neun Monaten bevor. Treffender wäre: Endlich beginnt die Vaterschaft, wobei ich finde, Vaterschaft klingt sehr nach Amt, nach gemeinsamen Sorgerecht und Anerkennung von Unterhaltsansprüchen.

Beim Aussteigen machts dann ein Geräusch als öffnete man einen Klettverschluss.
Hier wusste ich zuerst nicht, was Du überhaupt meinst, weil ich Deine Beschreibung des Geräusches doch etwas zu krass finde. Klettverschlüsse sind echt laut.

Und Anglizismen, die nicht scheuen, das prägnant zu sagen, was wir nur kompliziert herausbringen.
Klingt für mich wie eine kurze Rechtfertigung vorm Leser, irgendwie nicht ganz zur Geschichte gehörig.

um zwar beim Bild, aber der Realität fern zu bleiben.
Noch so eine Erklärung.

Vielleicht wäre es günstiger, den Zeitungsteil kursiv zu setzen?

Mein Eindruck ist, dass eine Geschichte, die einen Tod beschreibt sehr viel zu tragen hat und dementsprechend gut von der Handlung, den Akteuren gestützt werden muss. Im großen und ganzen hast Du das gut hinbekommen, mir fehlt aber noch etwas mehr Bezug zu Klara und Wolfgang, die Gedanken des werdenden Vaters sind zwar gut eingefangen, aber er selber bleibt unscheinbar und so stirbt am Ende eher das Projekt Familie als ein Mensch, der gerade Vater wurde.

Dazu noch ein Gedanke: In der dritten Person hättest Du den Unfallhergang/Tod des werdenden Vaters direkt beschreiben können. Ich glaube, die Wirkung wäre deutlich stärker.

Hui, ich hab einiges gelernt. Insofern vielen Dank für die Geschichte.

Viele Grüße
Ane

 

Hallo agopo!

Spätestens in der Mitte des zweiten Absatzes roch das so dermaßen nach Unhappy-End, dass es für mich nicht mehr spannend war. All das, was dann kam, hat den Eindruck nur noch verstärkt:

Hach, so bunt, hach, endlich Papi, hach, ein Traum. Alles ist zu rosa, zu schön, das muss einfach in die Tonne gehen, wozu würdest du es sonst erzählen?

Insofern fand ich es viel zu lang. Das hätte man ebenso viel kürzer machen können.

Ich habs mal zusammengestrichen:

Es war ein Fehler, heute zur Arbeit zu fahren. Schon zu Beginn verschmolzen die Zahlenkolonnen vor meinen Augen zu kryptischen schwarzen Klumpen. Der Blick schweifte ab und suchte am dunstigen Horizont nach gar nichts, denn in Gedanken war ich bei Klara und wer sollte es mir verdenken.

Vor 15 Minuten erhielt ich dann den Anruf: Klara lag im Krankenhaus. Die Wehen hatten eingesetzt. Wir werden zur echten Familie wachsen.

Wenn ich nur daran denke, was Klara gerade durchmacht, kann ich nicht schnell genug fahren. Das kann einfach nicht wahr sein! Ich sause tatsächlich lupenrein an der Ausfahrt vorbei, mit 190 Sachen. Ausgerechnet heute! Also hopp, Nägel mit Köpfen, es wird umgekehrt. Hinter mir, was ist da los? Klar, freie Bahn.

Und was macht der da, der übliche Zirkus ist das nicht, kein Lichthupenkonzert. Der taumelt quer über die halbe Fahrbahn. Und wieder zurück. Und wieder her. Freundchen, pass auf, dein Anhänger schlingert!


Tja. Also, finde ich. :)

Schöne Grüße,

yours

 

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