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Umkehr
Es war ein Fehler, heute zur Arbeit zu fahren. Schon zu Beginn verschmolzen die Zahlenkolonnen vor meinen Augen zu kryptischen schwarzen Klumpen. Der Blick schweifte ab und suchte am dunstigen Horizont nach gar nichts, denn in Gedanken war ich bei Klara und wer sollte es mir verdenken. Schwanger saß sie daheim in der Küche, sicher noch angespannter, noch nervöser als ich, ihren schönen Bauch streichelnd, aus dem der Nabel sich schon im August kirschengleich herausgedrückt hatte. Vor 15 Minuten erhielt ich dann den Anruf: Klara lag im Krankenhaus. Die Wehen hatten eingesetzt. Sie musste gewusst haben, dass es soweit war. Jetzt befand sie sich im Harburger Marienhospital, die Ambulanz war gerufen worden, von ihr, während ich kannenweise Kaffee in mich hineingoss und koffeintrunken wachdöste. Gunnarsson stieß mich regelrecht aus der Tür, lachte, drückte meine Hand und sagte etwas über Vaterfreuden, Windeln und Nachtwachen, worauf ich nichts erwiderte, sondern ins Auto stieg und den Motor anließ.
Wir werden zur echten Familie wachsen, dem destatis ein Schnippchen schlagen, indem Klara der Statistik von 1,2 Kindern pro Familie ganzzahlig entgegengrinst. Endlich steht also die Vaterschaft bevor. Auf die anstrengende Infantenzeit folgen Myriaden von Sorgen: Masern, Mumps und aufgeschlagene Knie sind nur der Anfang. Später wird es gelten, Hausaufgaben gemeinsam zu meistern, die kullernden Tränen vermeidend, gute Freunde zur Übernachtung einzuladen und pubertierende Idioten fernzuhalten. Angesichts dieser ungewissen Zukunft voller Sorgen, ja eigentlich nur Sorgen und Freuden, bekommt die Zeit einen ganz anderen Wert. Das relative Zeitgefühl: Den Feierabend erwartet man ungeduldig, während die Kindheit wie im Flug verging. Jetzt als Vater hat man unendlich viel Zeit, schließlich ist jeder Moment, von nun an ereignisschwanger, der Erinnerung würdig, kostbar.
Wenn ich nur daran denke, was Klara gerade durchmacht, kann ich nicht schnell genug fahren. Hubraum pinseln heißt es da! Und die Klimaanlage einschalten, der Schweiß läuft wie beim Sennenhund zur Sommerzeit. Wird nichts bringen, es sind die Nerven, nicht die Temperatur, die das Hemd durchnässen. Beim Aussteigen machts dann ein Geräusch als öffnete man einen Klettverschluss. Apropos Klettverschluss: So einen habe ich schon ewig nicht mehr gesehen. Die 1980er sind passé, pas en vogue, das sagt Klara mir schon ewig, na ja, jedenfalls seitdem sie vorüber sind.
Meine süße Klara Kirschnabel, bald bin ich bei dir! Fast leere Straßen, Gott lobe den nine to five dayjob. Und Anglizismen, die nicht scheuen, das prägnant zu sagen, was wir nur kompliziert herausbringen.
Straßenschilder fliegen vorbei. Da, Harburg, es steht schon drauf. Müsste jetzt bei Neuwiedenthal sein. Die 1,8-Litermaschine entfesselt raunend Pferdestärken, mit der werde ich rechtzeitig ankommen, beim nächsten Spross ists wahrscheinlich anders. Die Familienkutsche muss dann her, leistungsärmer, aber dafür mit viel Platz, ein Minivan vielleicht. Klara liebäugelt seit langem mit japanischen Modellen, bei denen gibt’s die meisten Extras inklusive. Ob das Kleine sich für Autos begeistern wird? Die Anlagen vererben wir schließlich: Der Vater entwirft Kotflügel und ganze Bodykits, die Mutter ist Fan von Honda in der Formel Eins. Vom Geschlecht darf man das kaum abhängig machen, denn zu fragen, was Jungen oder Mädchen mögen, das ist wie die Frage, was besser schmeckt, Ketchup oder Senf.
Was für ein außergewöhnliches Geschöpf Klara ist, wirklich, so dämlich verliebt fühle ich selten. Dem Ingenieur ist die Sache klar, einfache Seelenphysik: Der Energieerhaltungssatz gilt sogar in der Liebe, alle Wärme verteilt sich hin zum totalen Gleichgewicht. Das erklärt, warum aus heißem Verlangen mit den Jahren homogene Glut wird. Wer hätte gedacht, was ein Kind an Kohle einbringt, um zwar beim Bild, aber der Realität fern zu bleiben.
Komm Wolfgang, das ist nicht dein Ernst! Das kann einfach nicht wahr sein! Ich sause tatsächlich lupenrein an der Ausfahrt vorbei, mit 190 Sachen. Ausgerechnet heute! So, ruhig Brauner, klare Gedanken, rational bleiben. Die nächste Ausfahrt ist Rade. Dort könnte ich runter, über die Autobahn, rauf auf die Autobahn und zurück. Kostet, herrje, das sind gut sieben Kilometer, hin und her macht das fast zehn Minuten! Nein, ganz anders. Tatsache ist: Die Autobahn ist praktisch leergefegt, wie ausgestorben. Tatsache ist auch: Meine Frau bekommt ein Kind. Im Übrigen verläuft hier alles dreispurig, plus Standstreifen. Also hopp, Nägel mit Köpfen, es wird umgekehrt. Hinter mir, was ist da los? Klar, freie Bahn. Gute Güte, im Grunde lebensgefährlich, was ich hier fabriziere! Na komm, es passt. Da wären wir, der Standstreifen. Noch ein Kilometer, dann die Ausfahrt hoch, fertig.
Diese verdammten Begrenzungspfähle, bei hoher Geschwindigkeit wirken die hypnotisierend, Pendeln gleich, ich muss geschlafen haben. Die sind Schuld, würde ich der Polizei erzählen, ich erbitte Nachsicht am stressigsten Tag meines Lebens. Herr Wachtmeister, meine Frau bekommt ein Kind! Richtig, das ist den Führerschein allemal wert, zudem, ich bitte Sie, auf dem Standstreifen bei rationalem Tempo, nur tausend Meter, bedachter geht’s nimmer. Haben Sie Familie? Frau und Kinder? Sehen Sie's mir nach, denken Sie daran, was in Ihnen bei der Geburt des ersten Kindes vorging, da ist man doch nicht Herr seiner selbst. Wie, Sie sind noch gar nicht Vater? Na bitte, was auf Sie zukommt, ich gratuliere! Probleme mit den Gesetzeshütern hatten wir bisher nie. Ha, ich seh’s vor mir, wie Klara ungläubig aus dem Fenster schaut und unser Wagen mit Polizeieskorte auf dem Krankhausparkplatz einrollt.
Rollen, von mehr kann bei dieser Schleichfahrt auf dem Standstreifen auch kaum die Rede sein. Und was macht der da, der übliche Zirkus ist das nicht, kein Lichthupenkonzert. Der taumelt quer über die halbe Fahrbahn. Und wieder zurück. Und wieder her. Freundchen, pass auf, dein Anhänger schlingert! Junge, wo willst du denn hin?! Komm, brems!
Harburger Abendblatt, 22.07.06. LOKALES.
Zwei Tote bei Geisterfahrt auf der A1
Am gestrigen frühen Nachmittag wechselte ein PKW-Fahrer mit Stader Kennzeichen auf der A1 bei Harburg aus ungeklärtem Grund die Fahrtrichtung. Der Geisterfahrer kollidierte mit einem Wilhelmsburger Kleingerätetransporter. Der Fahrer des Transporters war sofort tot, der Geisterfahrer starb noch am Unfallort. Der Autobahnabschnitt Harburg-Rade musste wegen Räumarbeiten für drei Stunden beidseitig gesperrt werden.