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Umzug ohne Doktor
Umzug ohne Doktor.
Karl-Berthil ärgerte sich schon etwas. Er hatte sich auf Adrian verlassen, und der wollte vor über einer Stunde mit einem Leihlastkraftwagen, einem Siebeneinhalbtonner mit Hebebühne, aus Ratzeburg hier sein.
Seine bisherigen Mitbewohner in der Wohngemeinschaft an der Rothenbaumchaussee halfen wie versprochen kräftig mit und hatten schon zahlreiche Möbel- und Gepäckstücke aus seinem Zimmer im dritten Stock auf die Straße getragen und dort aufgestapelt. Es war Umzugswetter, hatte Vera heute morgen laut verkündet, denn es regnete, nicht aber die Sonne hatte auch keine Möglichkeit gefunden, die Wolkendecke zu durchdringen. So kam man wenigstens nicht ins Schwitzen.
Karl-Berthil war das alles schon wieder zu viel, denn neben den vier Bewohnern dieser Wohngemeinschaft hatten sich noch fünf Studenten seines Abschluss-Semesters eingefunden, die er kaum kannte, - höchstens vom Sehen -, und die kräftig mit anpackten, weil sein Doktorvater sie darum gebeten hatte. Professor Dr. Dr. Platen glaubte nämlich – jedenfalls hatte er sich so ähnlich geäußert –, dass es absolut schädlich sei, am Ende des Studiums umzuziehen, noch dazu mitten in einer Doktorarbeit.
Nur bedachte er nicht dabei, dass Karl-Berthil schon lange nach einer richtigen Wohnung suchte.
Er war es so leid, in der Wohngemeinschaft ständig irgendwelche Rücksichten nehmen zu müssen und sich anzupassen. Es war nicht seine Stärke, man musste zu vieles übersehen. Obwohl andererseits waren es alles sehr nette Menschen, die wie sich ja jetzt zeigte, ihn sehr hilfsbereit umsorgten und ihm in der Vergangenheit viele schöne Erlebnisse beschert hatten, ihn aber auch immer gleich vereinnahmten, in seiner Entscheidungsfreiheit einengten. Er war eben ein Einzelkind und damit solche Gemeinschaften nicht gewohnt.
Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Von allen Seiten bestürmten sie ihn mit Fragen, und er polterte los: „Wenn ich euch alles sagen muss, kann ich es auch gleich selbst machen, verdammt und zugenäht!“
Vera wollte ihm antworten, verkniff es sich aber und sagte nur: „Dann man los, lassen wir ihn in Ruhe und machen, was wir wollen.“ Es klappte tatsächlich. Unaufgefordert wurden Möbel auseinandergenommen und vorsichtig nach unten getragen. Auf dem Fußweg stand schon eine richtige Wagenladung, doch der Wagen dazu fehlte immer noch. Karl-Berthil schaute sehnsüchtig aus dem Fenster, aber Adrian kam nicht, immer noch nicht. Thomas hatte gerade den schweren Karton, der an allen Seiten groß mit „Doktorarbeit“ beschriftet war, mühsam nach unten geschleppt. Das war Karl-Berthil wieder nicht recht, aber sagen konnte er auch nun nichts mehr. Dieser für ihn außerordentlich wertvolle Karton hätte lieber bis zum Schluss in der Wohnung bleiben sollen, dachte er und beschloss, nach unten zu gehen und den Karton zu bewachen.
Auch an einigen seiner Möbel hing er sehr. Sein antiker Schreibtisch – eigentlich ein Damenschreibtisch, ein Erbstück aus dem 18. Jahrhundert von seiner Urgroßmutter aus Dresden – im Alt-Dresdner Bürgerbarock mit Knocheneinlegearbeiten und Wurzelholz war bestimmt selten und entsprechend teuer. Das traf aber auch auf sein Bett zu: Nussbaum poliert mit einem Bücheraufsatz und großem Bettkasten, ein Meisterstück aus der Zeit der Jahrhundertwende. Sein Vater hatte es auf einer Auktion für ihn ersteigert.
Als er durch die große, weit offen stehende Haustür mit dem schmiedeeisernen Schutzgitter im Jugendstil nach draußen trat, stand der Lastkraftwagen mit geöffneter Ladebühne direkt vor der Tür, die Warnblinkanlage war eingeschaltet, der Motor lief. Von Adrian aber keine Spur. Werner rief von oben, es sei gleich alles unten; alle hätten nur noch jeweils ein Teil nach unten zu tragen, und dann wollten sie gleich einladen. Karl-Berthil nickte bestätigend mit dem Kopf und ging zur Fahrerkabine. Die war leer, Adrian war wohl im Haus.
In der hinteren Ecke des Kastenaufbaues lag ein großer Stapel alter Wolldecken. Alle trugen den deutlichen, sich immer wiederholenden Schriftzug BUND. Vera übernahm das Verstauen fachgerecht und unter eifriger Verwendung der Wolldecken. Es dauerte keine halbe Stunde, und alles war verladen. Werner war schon immer ihr Techniker und konnte mit der Hebebühne hervorragend umgehen. Er schloss diese und forderte zum Aufbruch auf. Alle gingen ins Haus, um Adrian zu suchen, doch vergeblich!
Im leeren Zimmer fegte Vera die letzten Krümel zusammen, und Karl-Berthil überzeugte sich davon, dass sie nichts vergessen hatten. Ein letzter Blick aus dem Fenster, leichte Wehmut überkam ihn dabei. Vier Jahre hatte er hier gelebt, und nun - er erschrak – nahm er wahr, der Lastwagen stand nicht mehr vor dem Haus! Adrian muss eine Laus über die Leber gelaufen sein, dachte er, denn so kannte er ihn nicht. Immerhin hatten sie schon oft zusammen gearbeitet. Adrian war fest angestellt bei einem Cateringunternehmen, für das Karl-Berthil in den Semesterferien häufig gearbeitet hatte und auch immer noch gerne auf Partys und großen Veranstaltungen Bier zapfte, eben den Ausschank machte.
Sicher, Adrian kam aus Polen; er studierte Betriebswirtschaft an einer Fernuniversität. So konnte er in Deutschland arbeiten und stand, wie er selbst, kurz vor dem Abschluss. Adrian war unheimlich fleißig und bei der Arbeit zuverlässig wie kein anderer.
Karl-Berthil unterbrach seine Überlegungen und trommelte seine Umzugsmannschaft zusammen, mit ihm selbst zehn Leute. Für zwei Pkws fast zu viele; zwei hätten doch gut mit Adrian im Lkw fahren können. „Ein Blödmann!“ sagte er laut und forderte zum Aufbruch auf. Sie mussten quer durch die Stadt nach Ottensen fahren. Bei dem Verkehr gab es an jeder Ampel einen Halt, das kostete unheimlich viel Zeit und Nerven. Aber Adrian konnte auch nicht schneller fahren – im Gegenteil, so müssten sie eigentlich fast zusammen ankommen, dachte er, und ärgerte sich gleichzeitig, weil er die Handynummer von Adrian nicht erfragt hatte und ihm auch seine eigene Nummer nicht mitgeteilt hatte. Jetzt hätte man sich wenigstens abstimmen können.
Dabei durchzuckte ihn plötzlich eine Erkenntnis; Adrian kannte seine neue Anschrift nicht, er hatte ihm nur die Adresse der Wohngemeinschaft an der Rothenbaumchaussee aufgeschrieben und als Ziel ganz bestimmt nur Ottensen genannt, keine Straße, keine Hausnummer!
Als er den anderen die Schreckensmeldung mitteilte, beruhigten sie ihn. Vielleicht hatte Adrian jemanden gefragt oder die Mitteilung am schwarzen Brett der Wohngemeinschaft gelesen, denn dort hatte er seine neue Anschrift hinterlassen.
Natürlich so musste es sein! Schön, trotzdem unmöglich von Adrian, sie hatten sich noch nicht einmal begrüßt.
Vor dem Altonaer Bahnhof staute sich der Verkehr, ein Demonstrationszug schleppte sich über die Max-Brauer-Allee, und zum Ausweichen war es zu spät. „Bambule“, dachte Karl-Berthil, und Udo fing an zu schimpfen, auf das Pack. Karl-Berthil sagte nichts. Er dachte an seine neue Wohnung: Drei Zimmer, 67 m², hell und freundlich und nur wenige Kilometer
– vielleicht 20 Minuten –, von der Elbe entfernt. Er würde das öfter ausnutzen und an der Elbe in Övelgönne und Neumühlen lange Spaziergänge machen. Wochentags war das schön, nur an sonnigen Wochenenden gab es immer wieder eine Völkerwanderung. Andere Hamburger mochten eben auch die Elbe so gerne wie er. Er überlegte: Lag seine neue Wohnung eigentlich wirklich in Ottensen? Sein Vater hatte von Bahrenfeld gesprochen, als er ihm die Wohnung empfahl, aber der Makler hatte Ottensen inseriert.
Zu blöde, er hätte lieber über die Stresemannstraße fahren sollen, aber er wollte seinen ehemaligen Mitbewohnern natürlich die besondere Elbnähe und tolle Wohnlage seiner Wohnung demonstrieren, unweit der berühmten Elbchaussee.
Der letzte Demonstrant zog aufreizend grinsend und langsam vorbei, begleitet von zahlreichen Polizisten, alle mit Helmen, Schutzschilden und Schlagstöcken ausgerüstet. Danach wurde der Verkehr wieder freigegeben und setzte sich zögerlich in Bewegung. Karl-Berthil war jetzt ungeduldig und verzichtete auf die Werbetour. Er eilte über die Holländische Reihe, Hohenzollernring zur neuen Wohnung in der Mendelssohnstraße. Gegenüber einer Schule, hatte Vera naserümpfend gleich festgestellt. Er bemerkte, etwas zu heftig, weil innerlich verletzt, auch ein Sportplatz sei gleich um die Ecke und ein Industriegebiet dazu.
Werner ergänzte sehr spöttisch, drei Friedhöfe lüden nebenan auch zum Verweilen ein. Seine Schwester wohne in der von-Sauer-Straße, und milderte dann aber ab, dafür sei auch die Elbe sehr nah, und das sei wirklich toll.
In der Mendelssohnstraße stand kein weißer Lastwagen. Das Haus war ziemlich neu, und die Wohnung lag im zweiten Stock; ein Fahrstuhl war schon für den Umzug vorbereitet. Der Hausmeister war von Karl-Berthil gebeten worden, heute die Trennwand zu öffnen, um auch längere Teile mit dem Fahrstuhl transportieren zu können. Das versprach leichtere Arbeit.
Inzwischen waren auch die anderen angekommen. Alle redeten durcheinander und lobten die Wohnung, die schöne Küche, voll eingerichtet und mit Essplatz vor dem Fenster. Den Höhepunkt bildete der große Balkon im Westen vor dem Wohnzimmer und – das war doch toll – im Osten vor der Küche. Vera wollte gleich in der Sonne frühstücken, stundenlang und mit immer mehr frischen Brötchen – Hamburger Rundstücken, war doch klar – und selbst gemachter Marmelade und Honig! Die Stimmung war gut, nur Karl-Berthil wirkte leicht verstört. Die anderen waren alle gleichzeitig dabei, Vorschläge für die Einrichtung zu machen und erwarteten von ihm immer wieder Zustimmung: „Nicht wahr Kalli; das ist doch Klasse, nun sag doch auch mal etwas, Kalli!“
Er wurde wieder zornig, wo bleibt der Lkw! Nie wieder würde er sich auf Adrian verlassen, so ein Mistkerl! Vermutlich hatte der sich verfahren, kannte sich nicht aus in Hamburg, obwohl er doch sehr oft in Hamburg fahren musste, auch zu den Brauereien hier in der Stadt.
Einige hatten sich auf den Fußboden gesetzt, den Rücken an die frisch renovierten Wände gelehnt und wurden immer stiller. Einzelne schienen eingeschlafen zu sein. In die nun eingetretene Ruhe hinein klingelte eine Handymelodie, „Üb immer treu und Redlichkeit.“ Karl-Berthil griff in die Jackenasche und meldete sich. Es war Herr Krumbeck aus der Wohnung gegenüber seiner ehemaligen Wohngemeinschaft in der Rothenbaumchaussee. Adrian war bei ihm. Karl-Berthil wollte lospoltern, aber Adrian war so ehrlich entrüstet, er lies ihn sprechen. Adrian war auf dem Handy angerufen worden. Es hatte sich angeblich der Vater von Kalli gemeldet, er bat Adrian dringend, auf dem Weg zur Rothenbaumchaussee unbedingt in Mölln die fertigen Gardinen für die neue Wohnung abzuholen. Karl-Berthil wollte protestieren, er habe keine Gardinen in Mölln bestellt. Er kam gar nicht erst zu Wort. In Mölln fand Adrian den Laden nicht, der ihm genannt worden war. Adrian versuchte, den Vater von Kalli anzurufen, aber die Nummer wurde auf dem Handy von Andrian nicht angezeigt. Sie war unterdrückt worden, sagte ihm das Display. So fuhr er unverrichteter Dinge nun zur Rothenbaumchaussee. Der Umweg hatte ihm zwei Stunden Verspätung eingebracht, und so traf er erst um 11 Uhr in der Rothenbaumchaussee ein.
Es gab nichts mehr für Adrian zu tun. Karl-Berthil war sprachlos, aber immerhin bedankte er sich bei Adrian und bat ihn, den Lkw. zurückzubringen, aber nicht, ohne vorher die Handynummer von Adrian zu erfragen und sie in seinem Handy zu speichern. Adrian machte es ebenso.
Nachdem die ganze Mannschaft nach und nach begriff, was sich abgespielt hatte, vermuteten und redeten wieder alle durcheinander. Karl-Berthil konnte keinen klaren Gedanken fassen. Alles ging ihm durcheinander und gleichzeitig durch den Kopf. Seine Sachen waren geklaut worden! Ganz einfach war das: Heute gestohlen, morgen in Polen, fiel ihm dazu ein, aber er sprach es nicht aus. Keiner seiner Helfer hatte auf das Kennzeichen des Lkws geachtet; er auch nicht, darum konnte er nicht meckern. Der Lastwagen war weiß und nicht beschriftet, auch nicht an den Türen. Er hatte überhaupt keine auffälligen Merkmale. Die Wolldecken bewiesen aber doch, dass mit dem Fahrzeug Umzüge gemacht wurden.
Wie viele Unternehmer mag es in Hamburg geben? fragten sich alle. Seite 1095 bis 1110 im Branchentelefonbuch, hatte Vera schnell festgestellt. Die Telefonbücher lagen auf der Erde, beim bereits installierten Telefon.
Werner sagte, ohne nachzudenken: „Wer stiehlt denn schon den Sperrmüll von Kalli, Leute?“ Er erschrak, aber Karl-Berthil hatte den Stich nicht wahrgenommen, er starrte ins Leere und signalisierte Zustimmung. Werner schwieg erleichtert.
Die Zeit verging trotzdem schnell. Um 13 Uhr erinnerte sich der neue Wohnungsmieter, dass er versprochen hatte, alle zum Essen einzuladen. Bei ihrem Lieblings-Italiener in Eppendorf hatte er einen Tisch bestellt. Sie verließen daher fluchtartig die leere, ja trostlose Wohnung. „Kannst bei mir übernachten“, versprach Vera leise, und niemand sagte etwas dazu, noch nicht einmal Werner, das Lästermaul.
Beim Italiener vergaßen sie alle für kurze Zeit das Malheur Es schmeckte wie immer, und der Wein war nicht nur gut, er war auch wirklich preiswert. Karl-Berthil lachte und scherzte wie alle anderen. Doch dann wurde es merkwürdig still. Plötzlich wusste keiner, wie er aus dieser Situation herauskommen sollte. Wieder war es Vera, die die erlösenden Worte sprach: „Kommt jetzt alle mit zu mir, zum Abschluss und zum Tee trinken.“
In den Autos wurde nicht mehr gesprochen, alle waren satt und etwas träge.
„Wir müssen zur Polizei,“ schlug Vera in die Stille vor.
„Es geht vor allem um meine Doktorarbeit,“ bemerkte Karl-Berthil, „sie ist fertig, darauf kann ich nicht verzichten. Wenn die Polizei meine Sachen nicht findet, was dann? Besonders erfolgreich scheint die Polizei nicht zu arbeiten. Vier Jahre umsonst, einfach weg.“
Plötzlich wurde es wieder sehr still im Auto, jeder hing seinen Gedanken nach. Karl-Berthil startete den Motor und fuhr zögerlich weiter. Sollte er jetzt gleich zur Polizei fahren? Er musste auf jeden Fall seine Doktorarbeit zurückbekommen, die Möbel und seine persönlichen Sachen waren ihm zwar lieb, aber gegen seine Zukunftsarbeit doch weniger wichtig.
Er nahm sich vor, die Polizei anzurufen, wenn sie bei Vera eingetroffen wären. Später könnte er dann zur Polizeiwache fahren und die Anzeige aufgeben.
Vera hatte schnell Tee gekocht und Kekse angeboten, alle redeten wieder durcheinander. „Brainstorming“ nannte es Herbert.
Ein blonder Jüngling, den Karl-Berthil nur vom Sehen kannte, setzte sich durch und schlug vor, alle sollte die Augen aufhalten und in den nächsten Tagen nach weißen Lastkraftwagen Ausschau halten. Vielleicht kam ihnen ja „Kommissar Zufall“ zu Hilfe! Das wurde mit Begeisterung aufgenommen. Ein anderer Student hatte die gute Idee, alle sollten sich die Handynummer von Karl-Berthil merken oder programmieren und ihn dann bei neuen Erkenntnissen sofort informieren.
Karl-Berthil fühlte sich irgendwie erleichtert, als er seine Handynummer auf viele Zettel schrieb, so als hätte jemand endlich das Licht angeschaltet.
Nun wurde er plötzlich hundemüde. Bei Vera wollte er nicht übernachten, und er dachte daran, zu seinen Eltern zu fahren, aber 40 Kilometer schreckten ihn ab. Werner bot ihm eine Luftmatratze an, einen Schlafsack hatte er auch. Das war eine Lösung, die er sofort annahm.
Vera zeigte ihre Enttäuschung deutlich aber darauf konnte und wollte er nicht reagieren; er zog sich zurück. Bei der Polizei hatte er inzwischen lediglich angerufen. Dann schlief er in seinem leer geräumten Zimmer ein.
Früh wachte Karl-Berthil auf, Er hatte Kopfschmerzen und konnte noch nicht unterscheiden, ob alles nur ein Traum oder Wirklichkeit war. Nach und nach wurden ihm die Tatsachen bewusst. Er musste unbedingt Anzeige erstatten. Seine komplette, fix und fertige Doktorarbeit mit allen vier Papier-Exemplaren und der erforderlichen Postscript-Datei auf einer CD-Rom befanden sich im Karton. Niemand hatte bisher davon Kenntnis, auch sein Doktorvater kannte nur wenige Auszüge. Es gab keine weitere Kopie oder Datensicherung. Selbst der ausgefüllte und unterschriebene Antrag auf elektronische Publikation seiner Dissertation an die SUB-Dissertationenstelle und das Dekanat lagen dabei.
Seine Forschungsarbeit „Die Bedeutung des cerebralen Glucose-Stoffwechsels für die Pathogenese der Alzheimer-Demenz“ war in vieler Hinsicht sehr wertvoll. Das Interesse der Fachwelt war ihm gewiss, hatte auch der Dekan schon vorab bestätigt.
Seine Möbel, seine Bilder und fast alle persönlichen Unterlagen – alles war mit dem mysteriösen Lastwagen verschwunden.
Richtige Angst packte Karl-Berthil, und er ging ohne zu frühstücken aus dem Haus, direkt zur Polizeirevierwache 18, nur wenige Straßen weiter in Richtung Dammtor-Bahnhof. In dem Rotklinkerbau fand er schnell das Wachlokal. Der Name „Wachlokal“ irritierte ihn, denn er hatte niemals vorher eine Polizeiwache von innen gesehen, und mit einem Lokal hatte der hell- und dunkelgrün lackierte Raum auch nicht die geringste Ähnlichkeit. Es gab einen Tresen, dahinter schmucklose Aktenregale und drei Schreibtische, Buche natur. Er assoziierte mit den Möbeln den Hersteller Soennecken – typische Behördenmöbel – aber alt und mit sehr deutlichen Gebrauchsspuren. An einem der Schreibtische, zum Fenster gewandt, saß ein junger Polizist und telefonierte. Ein Kopfnicken zeigte, er hatte den Besucher bemerkt. Karl-Berthil stützte sich auf den Tresen und wartete. Nach wenigen Minuten konnte er dem Mann mitteilen, was geschehen war. Der Beamte wirkte etwas ratlos. Zögernd bat er Karl-Berthil, mit zu seinem Schreibtisch zu kommen und sich zu setzen. Um die Anzeige aufnehmen zu können, suchte er die Vordrucke und holte aus dem Regal eine alte, kleine Schreibmaschine. Umständlich und vorsichtig nahm er den von Karl-Berthil geschilderten Diebstahl auf. Nachdem der Bestohlene über seine Rechte aufgeklärt worden war, musste nur noch das Protokoll sorgfältig gelesen und unterschrieben werden. Karl-Berthil blickte auf und sah den Polizisten fragend an: Haben aie so etwas schon einmal erlebt oder davon gehört?“ Der Beamte – Holbecker stand auf seinem Namensschild – überlegte kurz und schüttelte dann heftig den Kopf. „Nein,“ und große Hoffnung wollte er Karl-Berthil auch nicht machen. „Der ist mit ihren Sachen längst über alle Berge, in Rumänien, Polen oder Lettland, jedenfalls beinahe unerreichbar für die Hamburger Polizei.“ Aber er versprach sofort alles Menschenmögliche zu veranlassen. In Anbetracht seiner Jugend und seines Dienstgrades kam es Karl-Berthil nicht sehr erfolgversprechend vor – mehr so wie ein kleines Kind seiner Mutter verspricht, sie später auf jeden Fall heiraten zu wollen.
Auf der Straße befiel ihn tiefe Trauer ob der Leere nicht nur in seiner Wohnung. Auch die vergebliche, jahrelange Arbeit wurde ihm schlagartig klar. Er musste unbedingt seine Eltern informieren.
Fast automatisch war er Richtung Alster gegangen und setzte sich, trotz des kalten Windes, auf eine Bank unterhalb des Anlegers Rabenstraße. Er war alleine hier, so früh am Tage und wählte auf dem Handy die Nummer seiner Eltern.
Schnell war er mit seinem Vater verbunden. Vorsichtig schilderte er seine Erlebnisse. Sein Vater war minutenlang still, sprachlos. Pragmatisch wie immer stellte er dann fest: „Du brauchst Möbel; wir haben ja noch dein Jugendzimmer, und Deine Schwester will sich ein neues Wohnzimmer einrichten. Schau dir schnell an, was du von der Einrichtung noch gebrauchen kannst, jedenfalls bis deine Sachen wieder da sind.“
Karl-Berthil war froh, etwas unternehmen zu können. Es lenkte ab, auch hatte er seine Schwester schon lange nicht mehr besucht. Mit der S-Bahn war es nur eine kurze Fahrt nach Wandsbek. Seine Schwester eröffnete ihm unschlüssig, ob sie sich freuen oder besser traurig sein sollte. Sie fielen sich in die Arme, standen still. Dann fragte sie: „möchtest Du einen Kaffee trinken?“ und bat ihn, in das Wohnzimmer zu kommen. Er erzählte auch ihr den ganzen Vorfall, nun schon präziser und ruhiger, als er es bei seinem Vater vermocht hatte.
Die Wohnung seiner Schwester war „germanisch“ eingerichtet, Eiche rustikal mit schweren Webpolstern. Nicht billig, aber für ihn wenig ansprechend. Trotzdem nahm er dankend an, schon übermorgen konnte er alle Möbel bekommen. Den Transport wollte der Lieferant der neuen Möbel übernehmen, nachdem Monique ihn telefonisch informiert hatte.
Sein Jugendbett und einen Kleiderschrank mit Stuhl und kleinem Schreibtisch wollte ihm sein Vater mit dem Pkw-Anhänger bringen. Das war ja schon wieder recht positiv, dachte er, und es wurde ein wenig heller in seinem Kopf.
Mit dem Auto brachte ihn seine Schwester schnell nach Barsbüttel zu seinen Eltern. So konnte er seinem Vater beim Verladen der wenigen Möbel helfen und heute Abend schon in seiner neuen Wohnung schlafen. Auch das war wieder ein Schritt in die richtige Richtung empfand er.
Karl-Berthil hatte jetzt Möbel in seiner Wohnung. Für die Küche bekam er von seinen Eltern noch einen kleinen Gartentisch mit zwei Klappstühlen, hübsch aus Eisen mit Teakholzbrettern.
Auch an die Möbel seiner Schwester gewöhnte er sich schon. Auf einen Fernseher verzichtete er gerne, aber seine Musikanlage und CD-Sammlung fehlte ihm sehr.
Einen Anruf bei der Polizei hätte er sich sparen können, man war buchstäblich ahnungslos.
Werner besuchte ihn nachmittags. Er hatte eine Radtour quer durch die Stadt unternommen und nach weißen Lastwagen gesucht, aber leider erfolglos, wie er atemlos berichtete. Sie tranken einen Kaffee zusammen, und Karl-Berthil fiel plötzlich ein, er sollte dem Dekan, mindestens aber seinem Doktorvater, von dem Diebstahl berichten.
Er entschuldigte sich bei Werner, schenkte ihm noch eine Tasse Kaffee ein und forderte ihn auf, noch ein Stück von dem Backwerk seiner Mutter zu nehmen und griff zum Telefon.
Sein Doktorvater Professor Dr. Dr. Platen meldete sich sofort und hörte sich die Geschichte ohne Unterbrechung an. Er schwieg minutenlang. Karl-Berthil wollte schon nachfragen, als er hörte, wie der Professor laut ein- und ausatmete und dann zögernd äußerte: „Verdammt dumme Sache das. Hätten sie mir doch bloß ein Korrekturexemplar vorab geschickt. Wie wollen sie denn nun beweisen, dass die Arbeit über die Bedeutung des cerebralen Glucose-Stoffwechsels für die Pathogenes der Alzheimer-Demenz ihre Dissertation ist? Da haben sie sich aber in etwas hineingeritten! Was wenn irgendein Schurke an einer fernen Universität mit ihrem Werk promoviert? Ich hätte sie wirklich für klüger gehalten, verspreche ihnen aber, auf jeden Fall sehr aufmerksam zu sein. Das empfehle ich auch ihnen wärmstens. „Sie haben doch einen Computer?“ Karl-Berthil berichtigte kleinlaut: „Ich hatte, Herr Professor, auch weg!“
„Wenn schon Mist, dann auch richtiger. Dann müssen sie sich die Mühe machen und jeden Tag hier in der Universität einen Internetanschluß nutzen. Ich werde mein Büro anweisen, ihnen die Möglichkeit zu geben.“ Der Doktorvater wirkte verärgert, er wünschte Karl-Berthil nur noch viel Glück und legte auf.
Werner hatte die miese Stimmung wohl mitbekommen und verabschiedete sich hastig und überstürzt.
Karl-Berthil beschloss, sofort zur Uni zu fahren und mit der Suche im Internet zu beginnen. Im Büro von Professor Dr. Dr. Platen hatte man ihm schon einen Computer-Arbeitsplatz frei gemacht, er konnte sofort mit der Arbeit beginnen. Mit einer Suchmaschine erkundete er alle Kataloge über Dissertationen – auch in den Nachbarländern mit bekannten Universitäten, die Biochemie lehrten.
Damit verging viel Zeit. Die letzte Mitarbeiterin hatte schon vor Stunden das Büro verlassen und ihn gebeten, das Licht zu löschen, abzuschließen und den Schlüssel beim Hausmeister zu hinterlassen. Er fand nichts, was ihm hätte helfen können und wurde langsam hungrig und müde.
Irgendwie war das alles wenig befriedigend, empfand er. Der Dieb hätte sich doch wenigstens melden sollen und Geld für die Herausgabe der Dissertation verlangen können. Das hätte er verstanden. Aber dieser Schurke gab ihm keine Chance, sondern war vermutlich schon dabei, alles aneinen Hehler zu verscherbeln.
Verfluchte Sch….., warum ist man so verteufelt hilf- und machtlos!
Wochen waren vergangen ohne den geringsten, kleinsten Hoffnungsschimmer. Alles schien schon sehr vergessen, als plötzlich Vera auftauchte und ihm aufgeregt mitteilte, sie habe sein Bett gesehen, in einem Laden auf St. Pauli.
Es gab kaum einen Zweifel, es war sein Bett!
Auf der Polizeiwache verwies man ihn an die Kriminalpolizei im Nachbargebäude. Der Beamte, der seinen Fall lösen sollte, war tatsächlich anwesend und hörte aufmerksam zu. Er telefonierte kurz und bat Karl-Berthil, ihn zu dem Trödler zu begleiten. Im Laden traf man nur eine Aushilfe an, die nichts über die Herkunft des Bettes sagen konnte. Der Ladenbesitzer sollte auf einer Einkaufsfahrt im Osten sein und wurde zum Wochenende zurück erwartet.
Der Kriminalbeamte bat Karl-Berthil um Geduld und versprach, sich intensiv um die Angelegenheit zu kümmern.
Wieder musste man der Dinge harren, die da so spärlich kommen wollten. Der klitzekleine Hoffnungsstrahl war Tage später schon wieder fast verloschen, da erfuhr Karl-Berthil: Seine Sachen waren gefunden! Bei dem Händler, der schon sein Bett verkaufen wollte, fanden sich auch der Schreibtisch und viele Kartons, die vermutlich zu Karl-Berthils Umzugsgut gehörten. Nur der Karton mit der Doktorarbeit blieb verschollen.
Der weiße Lastwagen mit den vielen BUND-Wolldecken gehörte zum Fuhrpark des Händlers.
Die Beweise waren erdrückend. Doch der Händler behauptete, er habe die Sachen weder aufgekauft noch gestohlen, man habe sie ihm einfach geschenkt! Ein mit „Doktorarbeit“ beschrifteter Karton war aber auf keinen Fall dabei, versicherte er mit Nachdruck.
Es kam, wie es kommen musste, zu einem langwierigen Prozess, in dem der Mann letztendlich mangels Beweisen freigesprochen wurde. Obwohl auch der Kriminalbeamte eine Auftragsarbeit vermutete, gab es dafür keine Beweise.
Erst zwei Jahre später wurde eine Dissertation mit dem Titel: „Untersuchung des cerebralen Glucose-Stoffwechsels im Zusammenhang mit der Pathogenes der Alzheimer-Demenz“ erfolgreich zur Erlangung des Doktortitels eingereicht – an einer Universität in Österreich.
Der deutschen Kriminalpolizei gelang es nicht, einen Diebstahl zu beweisen. Die Arbeit wurde von einer pharmazeutischen Fabrik in Wien finanziell unterstützt, und der Doktorand konnte glaubwürdig machen, er habe in dieser Firma mehr als zwei Jahre Forschungsarbeit über das Thema betrieben.
Karl-Berthil hatte noch nicht einmal eine Seite seiner Forschungsarbeit in Händen, um die Schurkerei zu beweisen. Er war entwürdigend machtlos.
Er fand einen gut bezahlten Job in einer englischen Pharmafabrik und machte dort Karriere, aber den Doktortitel hatte er aufgegeben.
Er behauptete bei jeder passenden Gelegenheit, Dissertationen würden meistens gestohlen. Viele Doktoren wären den Titel absolut nicht wert und könnten ihm daher überhaupt nicht imponieren.
Er musste es wohl wissen, oder?