Unauffällig
Unauffällig war er gewesen. Unauffällig. Zurückhaltend. Still. Höflich und sauber. Stets distanzierte er sich von den ihn Verspottenden, den Schmutzigen, den Lauten, den Ordinären, die sich, wie er, am Abend einfanden in diesem heruntergekommenen Haus, mit den vergilbten Tapetenresten, den demolierten nach einem Cocktail aus Urin und Desinfektionsmittel riechenden Toiletten und dem feuchten Waschraum an dessen Wänden der Schimmel wucherte; diesem Haus, wo es eine warme Suppe gab und einen Platz zum Schlafen.
Er bettelte nie. Auf der Straße grüßte er Passanten höflich, erklärte leise, er befände sich inmitten eines Verunglimpfungsprozesses, und bot ihnen an, gegen eine bescheidene Bezahlung eine kleine Geschichte zu erzählen. Es sei die einzige Geschichte, die er besitze und sie handele von einer Meerjungfrau, pflegte er zu sagen. Er versicherte den Menschen, die Geschichte sei nicht erfunden und entspräche voll und ganz der Wahrheit. Die meisten Leute hatten aber keine Zeit oder keine Lust sich eine Geschichte über eine Meerjungfrau anzuhören. Deshalb bot er, sozusagen als Alternative, längst abgelaufene Theaterkarten zum Kauf an. Immer darauf hinweisend, dass ein Besuch des jeweiligen Stückes unmöglich sei, weil es bereits vor Jahrzehnten abgesetzt worden war. Zum Beispiel „Ein Sommernachtstraum“ aus dem Jahre 1981. Die Karten stammten aus dem Jungen Theater Göttingen. Oder „Warten auf Godot“ aus dem Jahr ’73 des Staatstheaters Braunschweig oder, oder, oder. Er besaß sogar alte Eintrittskarten des Wiener Burgtheaters. Wie er in den Besitz all dieser Karten gekommen war, verriet er nie. Es blieb sein Geheimnis. Der Vorrat indes schien unerschöpflich. Doch auch in diesem Fall hielt sich der Absatz in Grenzen. Um seine bescheidenen Bedürfnisse befriedigen zu können, führte er die Hunde anderer Leute aus.
Bei seinen täglichen Wanderungen durch die Stadt legte er, wann immer er auf einen Hund traf, der vor einem Geschäft angebunden war, eine Pause ein. Er setzte sich dazu, gab dem Hund etwas von seinem Proviant, teilte ihm freundlich mit, er befände sich inmitten eines Verunglimpfungsprozesses und wartete, zusammen mit dem Tier auf dessen Besitzer, um dem seine Dienste als Hundeausführer anzubieten. Die meisten Hunde waren gute Zuhörer. Ein Umstand, den er gerne nutzte. Er begann, in der ihm eigenen Art, fast flüsternd, seine Geschichte von der Meerjungfrau zu erzählen, die in einem verdreckten Tümpel in einem verrotteten Ölfass hauste und sich nach nichts mehr sehnte als nach klarem, sauberen Salzwasser. Weil die Leute achtlos ihren Müll in den Tümpel warfen, waren Ihre Haare verfilzt und verklebt. Häufig litt sie unter Übelkeit, weil sie sich von Algen ernähren musste, die ihr nicht bekamen. Die Folge waren leichte Darmbeschwerden sowie eine Allergie, die mit Rötungen der Haut und einem lästigen Juckreiz einherging. Es waren aber nur die menschlichen Partien ihres Körpers betroffen. Erschwerend kam die unerträgliche Einsamkeit hinzu, die schließlich eine Depression auslöste. Niemand kümmerte sich um sie. Abgesehen von einem Mitarbeiter des Finanzamtes, der mit der Begründung, bei dem Tümpel handele es sich in ihrem Fall um eine Behausung, Steuern in unverhältnismäßiger Höhe eintreiben wollte. Er kam immer wieder und ließ nicht locker, auch die Tränen der Meerjungfrau konnten ihn nicht umstimmen. Da er um die finanzielle Not der Tümpelbewohnerin wusste oder ahnte, schlug er eines Tages vor, ihr einen erheblichen Teil der aufgelaufenen Steuerschulden zu erlassen, wenn sie sich zu einem nächtlichen Liebesdienst bereit erklärte. Da sich die Meerjungfrau nicht anderes zu helfen wusste, gab sie seinem Drängen schließlich nach. So stieg der Finanzbeamte, wenige Tage später in einer lauen Nacht, zu ihr in den Tümpel. Doch die Meerjungfrau war verschwunden. Es war ihr gelungen, Tags zuvor, während eines Wolkenbruchs, der den Tümpel zum Überlaufen gebracht hatte, in den Nebenarm eines Flusses und von dort aus in den Strom zu gelangen, der in die offene See mündete. Als sie das Meer erreicht hatte, dauerte es nur wenige Tage und ihre Beschwerden waren verschwunden. Von einem Freudentaumel ergriffen schoss sie wie ein Delphin durch das klare Wasser. Doch sie unterschätzte die ungewohnten Strömungen, denen sie hier ausgesetzt war. Unverhofft wurde sie von der riesigen Schiffsschraube eines Luxusdampfers zerfetzt.
„Aber“, pflegte er nach einer kurzen Pause dem jeweiligen Hund dann zu sagen „sie starb mit einem Lächeln. Darauf kommt es an“.
Unauffällig war er gewesen. Still, leise, zurückhaltend und unauffällig. Niemand kannte den Namen des Stadtstreichers, der sich angeblich in einem Verunglimpfungsprozess befand, abgelaufene Theaterkarten zum Kauf anbot und wartenden Hunden die Geschichte von der Meerjungfrau erzählte. Erst, als er verschwunden war - für immer. Da fiel er den Leuten irgendwie auf.