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Unbewusste Vorahnung

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03.05.2002
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Unbewusste Vorahnung

Ölig-schwarz sieht das Wasser im Hafenbecken aus, unter deinen Füßen, die dich langsam über den metallenen Steg tragen. Du gehst langsam, bist vorsichtig, denn es ist schon dunkel und es gibt hier nicht sehr viele Lichter.

Die Stadt liegt hinter dir – die Kaimauer, ein weiter Parkplatz und die Strandstraße trennen dich von ihr. Würdest du dich umdrehen, könntest du die Autos auf ihr entlangrasen sehen, aus der Altstadt kommend, am Stadthafen vorbei, dem Theater und dem alten Werftgelände. Dumpf dröhnt ihr Lärm in deinen tauben Ohren und der eisige Wind lässt dich erschaudern.

Der Steg quietscht leise, für einen Moment glaubst du gar, er würde schwanken, aber das ist wohl nur das Bewusstsein, über metertiefem Wasser zu gehen, ohne Absperrung nach links und rechts. Du bist schon immer etwas ängstlich gewesen.

Endlich kommst du dem Boot näher. Still liegt es an seiner Anlegestelle und schaukelt kaum merklich. Es wirkt fast schlafend, und die schwachen Wellen berühren es sanft. Du wirst nun noch langsamer als vorher. Es ist ein schönes kleines Schiff, Rumo steht auf seinem Rumpf. Vorsichtig trittst du an den Rand des Stegs und versuchst, in das Innere zu schauen. Erkennen kannst du nichts – ein gutes Zeichen, denn das heißt, niemand ist an Bord und du bist ungestört.

Ein letztes Mal – bevor es beginnt – atmest du tief ein und aus. Dein Mund ist zu einem schmalen Strich geworden und einzelne schwarze Haare wehen dir in dein Gesicht. Deine braunen Augen sind auf das Stahlseil gerichtet, mit dem die Rumo am Steg festgemacht ist und mit dessen Hilfe du... Plötzlich rast dein Herz, du beginnst trotz der Kälte zu schwitzen und willst am liebsten umkehren, doch du behältst das Seil fest im Blick, und dieser letzte Anflug von Angst vergeht schnell, wird abgelöst durch aufgeregtes Kichern.

Als du dich wieder beruhigt hast, gehst du in die Knie und greifst nach dem Seil. „Verdammt“, flüsterst du unbewusst, „ich hätte Handschuhe anziehen sollen“, denn das Metall ist kalt. Lange wirst du es nicht halten können. Doch schon hast du das Boot herangeholt, es ist jetzt nah genug, um es zu betreten.

Erneute Unruhe steigt in dir auf, doch diesmal ist sie angenehm. Das erste Mal tust du etwas Verbotenes, und dann ist es gleich so etwas. Nicht einmal bei Rot über die Ampel bist du bisher gegangen – und nun kaufst du bei zwielichtigen Gestalten ein, nimmst einem Obdachlosen den Hut mit Münzen weg und, als wäre nichts dabei, stiehlst dir mal eben ein Segelboot – denn du liebst das Meer und willst ihm nahe sein. Weil die S-Bahn nach Warnemünde erst am nächsten Morgen wieder fährt und du für ein Taxi kein Geld mehr hast, erschien dir dieser Weg als aussichtsreich.

Deine Freunde würden dich für verrückt halten, wenn sie wüssten, was du hier tust. Aber woher sollten sie... Sie sind nicht da, und das ist eines der eigentlichen Probleme, aber das verdrängst du jetzt. Wieder entringt sich deinem Mund ein Kichern und für einen Moment wünschst du dir, noch mehr zu haben, noch mehr von diesem kristallklaren Pulver, das dir gerade alles so einfach erscheinen lässt.

Vielleicht wüsstest du dann auch, wie man das Segel setzt – denn das stellt sich jetzt als größeres Problem dar. Mit wieder wachsender Nervosität stehst du davor und weißt nicht, was du tun sollst. Auf dem Schiff bist du, abgelegt hast du und abtreiben vom Steg tust du, nicht ohne die beiden Nachbarschiffe zu streifen, aber nun musst die Kontrolle über das Schiff gewinnen. Schwierig, wenn du die Kontrolle über dich selbst gerade den Kristallen übergeben hast.

Etwas ratlos löst du zwei Plastikbänder, mit denen das Segeltuch zusammengelegt zu sein scheint. Nichts passiert. Du entdeckst ein anderes Band. Versuchweise ziehst du daran. Keine Wirkung. Der Steg ist jetzt zu weit weg, als dass du es dir noch anders überlegen könntest. „Scheiße“, murmelst du leise, und du nimmst irritiert zur Kenntnis, dass du das Gefühl hast, auszutrocknen. Langsam gehst du in die Knie und wischst dir Haare aus dem Gesicht. „Okay... es ist ruhig, es ist Nacht.... ich bin allein, mir kann nichts passieren... ich muss nur rational vorgehen.“

„Und du bist dem Meer nahe, vergiss das nicht.“ Eine warme Stimme dringt aus der Dunkelheit zu dir.

„Was?“ Erschrocken fährst du herum, doch du hast dich schon so weit von der Stadt entfernt, dass kein Licht mehr auf dein Boot fällt und du nichts erkennen kannst.

„Das ist doch das, was du wolltest. Sieh dich um, nur du, das Meer und ich.“
„Wer...“ Kurz hältst du inne, murmelst dann leise „Oh, nein, niemand hat mir gesagt, dass man davon Wahnvorstellungen bekommt!“ Du beschließt, in Zukunft die Finger von Drogen jeder Art zu lassen und dich wieder brav an alle Regeln zu halten.

„Mir hat auch niemand gesagt, dass meine Besitzer wechseln wie anderer Leute Unterhosen, aber augenscheinlich tun sie das. Blöder Vergleich, ich weiß.“ Die Stimme klingt amüsiert.

Du sagst nichts. Wenn du einfach nicht darauf eingehst, vielleicht wird es dann von selbst verschwinden.

„Nein, den Gefallen tue ich dir nicht. Lass uns ein bisschen reden. Wie heißt du?“
„Melanie.“
Verdammt.
„Das ist doch ein Anfang. Mein Name ist Rumo. Aber das weißt du ja. Wieso gerade ich, Melanie? Was habe ich getan, dass du mich aus meiner Winterruhe reißt? Hätte es nicht die Lilli sein können, oder die Min Herzing, oder –“
„Sei still!!“ schreist du in die Nacht und klingst weinerlich dabei.
„Die Schnaterman war auch lange nicht mehr unterwegs.“
Vollkommen panisch kriechst du über das kleine Deck, machst dich klein, als könntest du Rumo so entkommen.
„Ich bin überall, Melanie.“

„Du existierst nicht.“

„Nicht?“

Trotzig antwortest du mit Schweigen.

„Wie du meinst.“

Der Schiffskörper löst sich auf und schreiend fällst du einige Zentimeter, bis du auf kaltes Wasser triffst. Es umhüllt dich, in Sekundenschnelle ist es in jede Pore deiner Kleidung gedrungen, deines Körpers. Der Schrei aus deinem Mund ist kaum zu hören – das Wasser erstickt ihn, und in einem plötzlichen Moment der Klarheit erwartest du den Tod – Schwimmen hast du nie gelernt.

Erwartest du den Tod...

Schwimmen hast du nie gelernt...

Erwartest du...

Ich lebe noch.
Ich ertrinke nicht.

Das ist unmöglich.

„In einer Nacht, in der Schiffe reden können, von Unmöglichkeiten zu sprechen, ist unangemessen.“

Das ist alles nur die Droge. Bestimmt sitze ich noch auf dem Klo und halluzinier mir das alles nur zusammen. Mein Gott, nie wieder dieses Zeug, und den Typen, der mir das verkauft hat, bring ich um.

Das Eiswasser macht deine Glieder schwer und du hast erneut das Gefühl zu versinken, aber noch immer treibst du an der Oberfläche.

„So nah warst du mir noch nie.“ Die Stimme klingt rauher als vorher. Mühsam schaust du dich nach der Rumo um, doch außer Wasser kannst du nichts erkennen. Von Rostock ist gar nichts mehr zu sehen.

„Gut. Ich habe ja nichts zu verlieren.“ Du beschließt, die Halluzination mitzuspielen. Irgendwann wirst du schon aufwachen und hinterher darüber lachen. „Bist du das Meer?“
„Nun, ja, das könnte man so sagen. Das Meer... das klingt so absolut. Ich bin eines unter vielen. Warum wolltest du zu mir?“
„Freiheit.“ Dir selbst reicht dieses eine Wort als Erklärung, denn es umfasst so viele Dinge. Freiheit vom Alltag, Freiheit vom Beruf, vom Geld, von deinen sogenannten Freunden... Freiheit von den Regeln, die all das mit sich brachte.
„Und, fühlst du dich jetzt frei?“
Langes Überlegen. Es ist nur eine Wahnvorstellung. Es fühlt sich so real an. Was für ein blöder Spruch. Kalt und eisig und nass. Frei? Was bedeutet es, frei zu sein? Ich weiß, wovon ich frei sein will, aber du weißt nicht, wie mein Leben dann aussähe. „Fühlst du dich jetzt frei?“ fragt die Ostsee noch einmal, eindringlicher als zuvor.
„Nein, denn ich weiß, dass das nicht sein kann.“
Das ist alles so absurd.
„Warum kann es nicht sein?“
Weil es nicht den Regeln entspricht.
„Weil ich mir das alles nur einbilde.“
„Und fühlt sich das frei an?“
Wir drehen uns im Kreis, oder?
„Weil ich weiß, dass es Illusion ist, kann es sich nicht frei anfühlen.“
Ja, du drehst dich im Kreis.
„Fühlt es sich nicht frei an, zu träumen?“
„Ich träume nicht, ich halluziniere.“
„Wo ist der Unterschied?“
„Halluzinieren fühlt sich realer an.“
„Nicht frei?“

Du fühlst dich nicht ernst genommen, was absolut und vollkommen lächerlich ist. Ich fühle mich von deiner eigenen Halluzination nicht ernst genommen.

„Das heißt also, du nimmst dich selbst nicht ernst? Vielleicht ist das dein Problem?“
Ja, vielleicht.
„Nein, ganz sicher nicht.“

Du willst, dass es aufhört. Wie lange ist es her, seit du es genommen hast? Vor vier Stunden? Der Rausch hat vor zwei Stunden begonnen – und sollte nur eine halbe Stunde dauern. Viel zu lange. Wenn dein Zeitgefühl noch stimmt. Zeit war immer sehr wichtig für dich.

„Du weißt, dass du nicht ertrinken wirst.“
Wie auch, es ist nicht real.
„Leg dich auf den Rücken.“
Wieso?
„Melanie, leg dich auf den Rücken!“
Warum diese Eile?

Legt ihr die Beine hoch.

Auf einmal wird dir bewusst, dass du nicht mehr frierst.
Dass du nicht mehr im Wasser treibst.

Du spürst Hände, die nach dir greifen. Du lässt es geschehen. Du schließt die Augen. Du wirst hochgehoben.

Es schaukelt.

Wie in der Wiege eines Kindes.

 

Hallo Mario,

noch eine kleine Gute-Nacht-Kritik. Warum die Geschichte unter "Seltsam" gepostet ist, dachte ich gegen Mitte des Textes verstanden zu haben, nun am Ende hat sich das wieder relativiert. Ich habe hier schon des öfteren gegen typische Drogen-Geschichten gewettert und bin positiv überrascht, hier über ein positives Gegenbeispiel zu stolpern.

Soetwas kommt selten vor, aber deine Geschichte hat mich beeindruckt. Gerade deshalb möchte ich dir aber auch meine Anmerkungen zu den Reibungspunkten nicht vorenthalten.

Der erste Teil ist konsequent in der 2. Person formuliert. Das ist aus experimenteller Sicht interessant, wirkte aber auf mich persönlich irgendwie verstörend. Später, als der ominöse Gesprächspartner auftaucht, weicht dann diese Spannung weitgehend, weil das Du nicht mehr so penetrant wirkt.

Dafür taucht ein Ich auf, auf noch kursiv ... in Hinblick auf Gliederung und der Logik wird dem Leser einiges zugemutet, um der Drogenphantasie folgen zu können.

Der kleine Exkurs über die Freiheit ist bewundernswert gelungen in seiner Dichtheit und zeigt, dass es möglich ist auch solche Themen zu behandeln.

Tja und die Pointe? Nicht ganz eindeutig für meinen Geschmack, ich würde herauslesen, dass alles nur eine Wahnvorstellung (Überdosis??) war und Melanie vom Rettungsdienst eingepackt wird. Damit war auch der ganze Ausflug ans Meer nur eine Episode in der Phantasie.

Alles in allem herzlichen Glückwunsch,

liebe Grüße,

Nicole

 

Hallo Nicole,

danke für die Kritik, deren positiver Grundton mich ziemlich überrascht, denn das hier ist die erste Geschichte, die ich seit 3 Jahren geschrieben und gepostet habe.

Ich habe die Du-Form gewählt, weil die Geschichte ursprünglich dazu gedacht war, einen bestimmten Leser die Handlung und den Ort, an dem sie beginnt, erleben zu lassen. Es sollte direkter sein. Ich habe allerdings kein Problem damit, wenn es verstörend wirkt. Sollte es allerdings einfach nur anstrengend zu Lesen sein, müsste ich darüber nachdenken.

Hätte ich das Ich nicht kursiv gesetzt, wäre es noch schwerer lesbar gelesen, oder?

Danke für das Lob über den Teil mit der Freiheit. Der ist eigentlich zentral. Die Geschichte hieß ursprünglich auch "Frei". Aber sie hat für mich persönlich eine neue Bedeutung gekommen, die ich durch den - vermutlich ziemlich unpassend wirkenden - Titel ausdrücken musste. Ich warte allerdings noch darauf, dass irgendwer den Freiheits-Dialog in Stücke reißt, aus irgendwelchen Gründen.

Ja, und die Pointe... Mit dem Ende bin ich selbst ziemlich unglücklich und ich denke noch darüber nach, wie ich es nicht als Drogenrausch enden lassen kann. Das ist schwierig. Ich hoffe, mir fällt da noch was ein...

Danke für's Lesen und deine Einschätzung,

LG,
Mario

 

Hallo Mario,

dass der Freiheits-Dialog zentral ist, war klar. Dass mit dem zerreissen dachte ich mir auch und habe mal vorgebaut ... ein schwieriges Thema, philosophische Inhalte in Kurzgeschichten zu verpacken ziemliche Geschmackssache, wie die Leser darauf reagieren. Was mich in deinem Fall eben poitiv überrascht hat, ist dass der "Theorie-Teil" kurz gehalten ist und die Hinführung dazu recht harmonisch und logisch.

LG,

N

 

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