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Und über mir das Pferdegesicht
Das erste, was ich sah, als ich aufwachte, war die weiße Zimmerdecke über mir. Mitten drin, als ob sie das Zentrum des Gesichtskreises markieren wollte, hing die Halbkugel der Deckenleuchte. Sie war noch nicht eingeschaltet. Tageslicht erhellte mein Zimmer.
Und dann beugte sich ein Gesicht über mich und verdeckte die Leuchte. Eine breite und flache Stirn schob sich vor das Gebilde aus milchigem Glas. Zwei wässrige, blaue Augen, eine fleischige Nase und dann diese riesigen, gelblichen Zähne und das markante Kinn. ‚Fernandel, das Pferdegesicht', klickte es in meinem Hirn. Es stellte sofort die Verbindung zwischen dem Gesicht über mir und dem französischen Filmschauspieler Fernandel her, der seine Zähne schon fast wie ein Markenzeichen im Gesicht trug.
„Guten Morgen, meine Liebe", sagten die Lippen über mir, „ich freue mich, dass Sie endlich die Augen öffnen. Ich bin Kathrin Bitz. Sie können mich einfach Kathrin nennen. Ich kümmere mich um Sie". Das kurze Lächeln entblößte noch etwas mehr von den Pferdezähnen. Die Stimme war schmierig wie Öl.
Dann zog sich das Gesicht zurück.
„Keine Reaktion von ihr", hörte ich jetzt die ölige Stimme von der rechten Seite meines Bettes. „Sogar der Blick ist völlig starr, nicht durch ein einziges Blinzeln der Lider unterbrochen. Ich weiß nicht, ob sie uns hören und verstehen kann. Sie liegt da wie ein Fisch auf der Servierplatte, genau so lebendig." Begleitete eine Kichern diesen letzten Satz von ihr?
Ob mit oder ohne Kichern: für diesen letzten Satz hasste ich das Pferdegesicht.
‚Wie ein Fisch auf der Servierplatte' - mit wenigen Worten genau das gesagt, was mir erst langsam klar wurde: Ich konnte mich nicht mehr bewegen und meiner Stimme war ich beraubt. Gefangen im eigenen, toten Körper. Unfähig, mich auszudrücken, einen Wunsch zu äußern. Und vielleicht das Schlimmste: Ich war vollständig auf andere Menschen angewiesen. Ich war einer Frau mit einem Pferdegesicht ausgeliefert auf Gedeih und Verderb.
Dieser Gedanke der Hilflosigkeit versuchte mit brutaler Gewalt mein ganzes Denken zu beherrschen, doch ich wollte das nicht zulassen. Zwischen den einzelnen Wörtern „liegt", „Fisch" und „Servierplatte" schossen Gedankenblitze und Erinnerungsstücke aus meinem Leben hervor. Mit großer Willensanstrengung versuchte ich, die einzelnen Puzzleteile zu einem Ganzen zusammen zu fügen. Aber ich war zu schwach. Ich schaffte es nicht.
„Wir wollen den Test nochmals durchführen", hörte ich eine männliche Stimme, die von der linken Seite meines Bettes kam. Eine schlanke Hand, die eine Speziallampe hielt, erschien über meinem Gesicht. Grelles, gebündeltes Licht direkt in meine Augen. Das tat weh. In den Augen, im Hirn. Ich konnte mich nicht wehren. Nicht einmal meine Augenlider schließen, oder den Kopf wegdrehen. „Hör doch auf, du Idiot", schrie ich dem Mann lautlos entgegen. Es kümmerte ihn nicht. Natürlich nicht - er konnte es ja auch nicht hören.
„Tatsächlich. Überhaupt keine Reaktion. Äußerst seltsam. Das Wachkoma dauert jetzt schon fast sechs Wochen. Es ist gut, Schwester Kathrin, dass Sie mich gerufen haben, denn dass die Patientin die Augen jetzt offen hat, ist eine gravierende Veränderung der Situation. Ich weiß zwar noch nicht, was es bedeuten soll, aber immerhin ist es anders als in den letzten Wochen."
Die tiefe Stimme gehörte also tatsächlich einem Arzt.
„Es könnte sein, dass uns die Patientin hört und auch versteht, was wir sagen. Wir müssen vorsichtig sein".
Mit diesen Worten verließen Arzt und Krankenschwester mein Zimmer. Ich hörte, wie sie die Treppe hinunter gingen ins Erdgeschoss, und wie sie dort das Wohnzimmer betraten. Das mir bekannte Quietschen des Türscharniers war nicht zu überhören.
Ich war alleine.
‚Wie ein Fisch auf der Servierplatte', ging es mir erneut durch den Kopf. Ich bin ausgestellt im eigenen Schlafzimmer. Jeder konnte reinkommen, mich anstarren, mich betasten. Wo blieb meine Menschenwürde?
Ein ungelenker Versuch, meine Gedanken zu ordnen: Was war passiert? Ein Unfall? Ein Schlaganfall? Ich konnte meinen Körper nicht spüren. Aber ich konnte denken. Begebenheiten von früher tauchten vor meinem inneren Auge auf, aber keinerlei Erinnerungen an das, was vor sechs Wochen geschah. Nichts. Ein dunkles Loch.
Dafür stiegen andere Bilder in mir auf, wurden bunt und lebendig.
Die Vergangenheit interessierte mich immer nur am Rande. Schon als Kind waren meine Gedanken stets in die Zukunft gerichtet. Ich malte mir aus, welchen Beruf ich ergreifen würde und wie die Familie aussehen könnte, die ich bestimmt gründen würde. Das Vergangene empfand ich immer als störend, als Klotz am Bein; niemals als eine Bereicherung meines Lebens.
Und nun befand ich mich plötzlich in einer Situation, die für mich keine Zukunft mehr bereit halten sollte? Schob sich da unvermittelt die Vergangenheit in den Vordergrund und nahm fordernd ihren Platz ein? Ein Ersatz für all die Ziele, die ich mir für die Zukunft gesetzt hatte, und die noch nicht erreicht waren? Meine Pläne waren früher Ansporn; die unausgesprochene Forderung, sie zu verwirklichen, weckte immer neue Kräfte in mir. Und jetzt „Rückwärtsgang", statt kraftvollem Sprint nach vorne?
Verzweiflung wollte mich erfassen, aber ich ließ es nicht zu. Ich wollte mich energisch zum Fenster drehen, so wie ich das früher machte, wenn mir etwas über den Kopf zu wachsen drohte. Aber mein Körper versagte mir seinen Dienst. Wie ein Fisch auf der Servierplatte blieb er unbeweglich und steif.
Ich ergab mich den Bildern, die aus der Vergangenheit aufstiegen, ließ zu, wie die Erinnerung mich als Schulmädchen, am Küchentisch sitzend, darstellte. Wenn ich mir dabei selbst über die Schulter schaute, konnte ich erkennen, dass ich eifrig etwas in mein Tagebuch schrieb. Schnell, mit fahriger Schrift, so als ob ich meine Gedanken nicht lang genug hätte festhalten können. Ich sah, wie die langen Ponyfransen, die ich damals trug, mir tief in die Stirn fielen und gleichzeitig fühlte ich das leichte Kitzeln der Haarspitzen an meinen Augenbrauen.
Die Erinnerungen von damals verschmolzen in diesem Moment mit meinem jetzigen Leben. Das Kind lebte im Fisch auf der Servierplatte auf und nahm plastische Gestalt an.
Jedoch der Fisch blieb leblos. Unbeweglich. Ohne seinen Körper zu spüren. Meine Augen nahmen auch nur einen kleinen Bereich unmittelbar über mir wahr, denn auch die Augäpfel waren starr.
Die Deckenleuchte wurde eingeschaltet. Verdammt, ist das Licht grell! Wie konnte ich mir damals nur so ein helles Licht kaufen? Die Lampe stammte noch aus der Zeit, als ich studierte und ein kleines Zimmer bewohnte. Ich erinnere mich genau daran, wie ich in dem gegen Norden gerichteten Raum jämmerlich fror. Natürlich, damals stellte ich mir nicht im Traum vor, dass ich einmal gezwungen sein könnte, ungeschützt und direkt in diese Lichtquelle blicken zu müssen.
Und dann schob sich unvermittelt wieder das Pferdegesicht vor meine Erinnerungen. Die Zähne fletschten ihr süßestes Lächeln und ölig kam die Frage, die keine Antwort verlangte: "Wie geht es Ihnen, meine Liebe?"
Kann sich ein Mensch über seine Behinderung freuen? Ja, er kann! In diesem Moment war ich richtig froh, nichts zu riechen, denn bestimmt musste Kathrin einen üblen Mundgeruch haben. Etwas Anderes konnte ich mir gar nicht vorstellen bei diesem Gebiss.
Dann erst wurde mir bewusst, dass ich auch die guten Gerüche und Düfte nicht mehr wahrnehmen konnte. Traurigkeit stieg in mir auf und verdrängte meinen Ekel vor dem Pferdegesicht. Und warum nannte sie mich immer „meine Liebe?" Was gab ihr das Recht dazu? Nur weil sie sich bewegen konnte und ich mich nicht?
Ich bin nicht ihre „Liebe"! Wir kennen uns ja nicht einmal. OK, zugegeben, wahrscheinlich hatte sie mich in den letzten sechs Wochen gepflegt. Aber gibt ihr das die Berechtigung, sich über mich zu erheben? mich wie ein Kind zu behandeln?
„Brav, wie sie unbeweglich da liegen; das erleichtert mir die Arbeit." Mit einer knappen, professionellen Bewegung zog sie die Bettdecke zurecht. Bevor sie die Türe hinter sich zuzog, löschte sie das Licht und ich war wieder allein mit meinen Gedanken. Das Stakkato ihrer Absätze wurde leiser, als sie die Treppe hinunter ging und das Quietschen des Türscharniers sagte mir, dass sie ins Wohnzimmer ging. Dort unterhielt sie sich mit dem Arzt darüber, wie der Arbeitsplan für den nächsten Tag zu organisieren wäre.
Als mein Mann und ich vor gut fünfzehn Jahren dieses Haus kauften, ließen wir im Wohnzimmer einen offenen Kamin einbauen. Der Abzug musste durch die beiden Stockwerke des Hauses nach oben auf das Dach geführt werden. Dieser Schacht verlief hinter dem Kopfende meines Bettes in der Wand. Er wirkte wie eine Schallbrücke; ich konnte Gespräche, die im Raum unter meinem Schlafzimmer geführt wurden, trotz der geschlossenen Türen gut hören.
Langsam stellten sich meine Augen vom grellen Licht auf die angenehme Dunkelheit ein, in der mein Zimmer jetzt lag. Die Straßenlaterne vor dem Haus meiner Nachbarn warf einen schwachen Strahl durchs Fenster und zauberte Schattenbilder an die Decke. Ein Auto hielt vor unserem Haus, der Lichtkegel war als Widerschein ebenfalls an der Zimmerdecke zu erkennen. Zwei Türen wurden zugeschlagen. Wer war es, der dem Auto entstieg? Zwischen der Straßenlaterne und dem Fenster mussten die Äste eines Baumes sein, die im Wind leise schaukelten und das Schattenmuster an der Decke in Bewegung brachten.
Lag ich noch wach, oder träumte ich schon? Aus den Schatten wuchs langsam das Bild einer Medizinstudentin, die hinter ihren Büchern saß und eifrig lernte. Das waren die vielen lateinischen Bezeichnungen, die mich damals die Stirne in so ernste Falten werfen ließen. Ich erinnere mich genau. Mit Fremdsprachen stand ich immer auf Kriegsfuß, dafür konnte ich mich in meiner Muttersprache gewandt ausdrücken. Mit dieser Begabung finanzierte ich mein Studium. Ich schrieb für eine große Medizin-Fachzeitung wöchentlich eine Kolumne, in der ich die Praxis einiger Ärzte, Krankenhäuser und Pharmaunternehmen anprangerte und durch den Kakao zog. Alle Artikel wurde mit dem Pseudonym ‚Klaus’ unterschrieben. Da ich selbst nach dem Examen im Gesundheitswesen Karriere machen wollte, musste ich sicher gehen, dass meine Identität im Verborgenen blieb. Deshalb auch der männliche Name, den ich als Frau wählte. In Gedanken an meine Texte musste ich Schmunzeln, denn es war fast unglaublich, was sich die hohen Herren im weißen Kittel alles von mir gefallen ließen, ohne dass ein einziges Protestschreiben in der Redaktion eingegangen wäre. Es machte Spaß in humoristischem Stil auf all die Missstände hinzuweisen und den Finger in die offene Wunde zu legen. Nach dem Studium schrieb ich aus ‚Spaß an der Freude’ weiter, obwohl ich da schon selbst als Ärztin praktizierte und nicht mehr auf das Honorar angewiesen war. Meine Artikel wurden zu etwas wie einem Markenzeichen für unsere Zeitschrift.
Plötzlich wieder das grelle Deckenlicht über mir. Schreckte ich aus dem Schlaf, oder aus einem Wachtraum auf? Und dann das Pferdegesicht über mir. Die ohnehin schon dunklen Augenbrauen waren mit einem schwarzen Stift nachgezogen und verstärkten den Kontrast zu den wässrigen blauen Augen. Auf den Wangen hatte sie Rouge aufgelegt. Das elektrische Licht hatte die Schattenspiele an der Decke aufgesogen und das getünchte Weiß wirkte beruhigend uniform, als Kathrins aufgetakelte Visage endlich aus meinem Gesichtskreis verschwunden war. Die Krankenschwester schien ihren gewohnten Rundgang zu machen. Sie öffnete das Fenster, schüttelte meine Kissen auf, nachdem sie meinen Kopf und Oberkörper mühevoll etwas angehoben hatte, und glättete meine Decke. Gott sei Dank heute nicht die dumme Frage ‚wie geht es denn, meine Liebe’. Nachdem sie die einstudierten Handgriffe erledigt hatte, löschte sie das Licht und stöckelte die Treppe hinunter. Die Schattenspiele an der Decke kehrten zurück, aber schwächer als vorher. Das Tageslicht sickerte in mein Schlafzimmer. Ich hörte Geschirr klappern, dann das impertinente Pfeifen des Wasserkessels, der energisch darauf hinwies, dass das Wasser heiß sei. Und anschließend glaubte ich zu hören, wie der Tee aufgebrüht wurde. Vielleicht hatte ich mir das auch nur eingebildet. Aber jedenfalls wäre es die logische Folge des Wasserkochens gewesen. Hätte sie Kaffee gekocht, wäre bestimmt der italienische Kaffeeautomat zum Einsatz gekommen und ich hätte gehört, wie sie den Behälter mit dem alten Kaffeepulver am Rand des Abfalleimers ausgeklopft hätte um ihn zu entleeren. Wahrscheinlich hatte Kathrin jetzt die Tassen, das Besteck, die Teekanne und den Zucker auf mein schwarzes Serviertablett geladen und trug es von der Küche ins Wohnzimmer. So musste es gewesen sein, denn ich hörte das Scharnier der Wohnzimmertüre nur zwei Mal knarren: einmal mit dem Geräusch von unten nach oben, das beim Öffnen zu hören war, und einmal von oben nach unten, beim Schließen der Türe. Ohne Tablett hätte sie mehrmals laufen müssen. Offenbar trank sie den Tee ohne Milch, denn das Klacken der Kühlschranktüre hatte ich nicht wahrgenommen.
„Hm, das riecht ja überwältigend, mein Schatz“, hörte ich die sonore Stimme des Arztes, an die ich mich erinnern konnte. Hatte sie vielleicht frischen Toast gemacht zum Frühstück? Leider konnte ich in meinem Zustand nichts riechen. Aber noch etwas anderes beschäftigte mich: Gestern waren die beiden noch per Sie und heute duzen sie sich. Dazu das aufdringliche Make-up auf dem Pferdegesicht. Hat sich in einer einzigen Nacht so viel verändert, oder bin ich wieder in ein langes und tiefes Koma gefallen? Was bedeutet es für mich als Patientin, wenn Arzt und Krankenschwester enger verbunden sind, als sonst üblich? Wird es besser, oder schlechter für mich?
Gerade als ich anfing, das Pro und Kontra abzuwägen, hörte ich das Telephon schellen, welches im Korridor neben der Küchentüre auf einem kleinen Beistelltisch stand. Der harte Sound der kurzen Schritte Kathrins, die den Anruf entgegennahm, sich mit ihrem Namen meldete und nach wenigen Augenblicken in geschäftlichem Ton sagte: „Doch, es gibt was Neues. Die Patientin ist gestern aus dem Koma erwacht, aber sie ist völlig gelähmt und nicht ansprechbar. Nicht einmal die Augen kann sie bewegen. Wir wissen nicht, ob sie hören und verstehen kann.“ Dann nach kurzer Pause: „Aber natürlich, Herr Professor, ich gebe Ihnen Dr. Albert sofort.“
„Herr Professor Gümbel für dich, mein Schatz“, flötete sie dem Arzt zu. Ich nahm an, dass sie die Sprechmuschel am Telephon mit der Hand abdeckte. Wahrscheinlich wollte sie nicht, dass der Gesprächspartner mitbekam, dass sie mit Dr. Albert per Du war.
„Guten Morgen, Herr Professor, Schwester Kathrin hat Sie ja schon über die neueste Situation informiert“. Dann, nach langer Pause: „Ja, Herr Professor, natürlich. Sie meinen das neue Mittel der Interloc-Pharma? Gut, ich werde es probieren.“ Scheinbar hatte der Professor das Gespräch grußlos beendet, denn ich hörte nur noch, wie der Arzt energisch, um nicht zu sagen grob, den Hörer auf die Gabel schmetterte.
„Dieser arrogante Gümbel meint doch wirklich, ohne ihn würde gar nichts gehen! Er traut mir rein gar nichts zu. Nicht einmal, dass ich neuesten Forschungsergebnisse kenne, und abschätzen kann, wo man einen Versuch sinnvoll unternehmen kann. Manchmal könnte ich ihn einfach umbringen“.
„Jetzt beruhige dich, mein Liebster, ich besorge das Präparat, dann kannst du das heute Abend unserem Fisch spritzen. Vielleicht wirkt es; anderen Tieren, wie Ratten und Mäusen hat es doch bei Laborversuchen auch geholfen!“ Sie lachte schallend über ihren eigenen Scherz.
„Hmm“, hörte ich den Arzt noch rumgrummeln. Dann war lange Zeit nur das leise klappern der Teetassen zu vernehmen. Sie konnte ihn offensichtlich in seiner Wut beruhigen.
Ich versuchte mich etwas zu entspannen. Moment mal: mit Professor Gümbel war doch mal was; an diesen eigentümlichen Namen konnte ich mich erinnern. Im letzten Winter verfasste ich über ihn und seine obskuren Machenschaften eine bissige Kolumne, die auch prompt abgedruckt wurde. Und spielte da nicht auch dieser Pharmakonzern, von dem im Telefonat die Rede war, eine Rolle? Ich strengte mein Gehirn maximal an und langsam nahm die Geschichte in meiner Erinnerung wieder Konturen an. Klar, die hatten doch ein neues Medikament auf den Markt geworfen, das angeblich ohne gefährliche Nebenwirkungen sein sollte – und Professor Gümbel schrieb als wissenschaftlicher Sachverständiger das Gutachten, als es darum ging, vor Gericht gegen eine Gruppe geschädigter Patienten Recht zu bekommen. Und Interloc ging als strahlender Sieger aus dem Rechtsstreit hervor. Kurz darauf gönnte sich Gümbel einen langen Urlaub in einem der großen Ferienzentren, die der Pharma-Konzern auf einer kleinen Insel speziell für diese Zwecke unterhielt. Die ganze Story war ein gefundenes Fressen für meine spitze Feder.
Ich konzentrierte mich wieder auf das Geschehen im Wohnzimmer. Dort war es auffallend ruhig. Was machten die beiden denn? War vielleicht Kathrin schon auf dem Weg, um sich das Medikament zu beschaffen?
Das angestrengte Horchen musste mich müde gemacht haben. Ich döste ein. Der Schlüssel, der sich im Schloss der Haustüre drehte, hatte mich aufgeweckt. An den Schatten über mir konnte ich ablesen, dass der Tag fortgeschritten war. Ähnlich wie bei einer Sonnenuhr, nur dass die exakten Hinweise auf die Stunden fehlten.
Kathrin kam überraschend ins Schlafzimmer. Ich hatte sie auf der Treppe nicht gehört. Vielleicht zog sie unten im Korridor die Schuhe aus? Ihr Gesicht war stark gerötet, als es in mein Blickfeld kam. Ihr Atem ging schwer. War sie gerannt? Wenn ja: warum beeilte sie sich? Sie machte ein paar wedelnde Bewegungen vor meinen Augen. „Immer noch keine Reaktion“, murmelte sie vor sich hin. „Ich bin gespannt, wie sie das neue Wundermedikament verträgt“.
Jetzt war es also offenkundig. Die bösen Kolumnen hatten ihre Autorin eingeholt. Zur Strafe wurde ich zum Versuchskaninchen von Interloc und ihren Verbündeten.
Von der linken Seite kam die schlanke Hand des Arztes, die eine Spritze aufzog, in mein Blickfeld. Auch Dr. Albert muss die Treppe ganz leise heraufgekommen sein. Er war plötzlich neben mir. Warum diese Heimlichkeit?
Bevor ich das Bewusstsein verlor, konnte ich auf der Ampulle noch den ersten Teil des Namens des Medikamentes lesen. Der hintere Teil war durch die Finger des Arztes verdeckt.
Vor vier Wochen wachte ich auf – und war wieder soweit hergestellt, dass ich mich schwach bewegen konnte. Kathrin machte eifrig mit mir Bewegungstherapie und heute bin ich schon wieder so weit, dass ich ohne Krücken gehen kann.
Sie stutzte nur kurz und lächelte diskret, als ich ihr gestern beiläufig sagte, dass es doch fein sei, wenn sich der Fisch wieder fortbewegen könne.