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Und es gibt sie doch
Kennen Sie so etwas? Sie stehen in einer gut sortierten Buchhandlung vor einem prall gefüllten Regal, suchen etwas zu einem bestimmten Thema und finden es nicht. Sie gehen die Reihen von rechts nach links, von links nach rechts auch mal von unten nach oben durch, aber konsequernt ohne Erfolg.
"Hallo entschuldigen Sie bitte! Arbeiten Sie hier? Ist ja wunderbar! Also dieses Regal hier, da steht alles, was sie über Management haben?" Sie sah mich mit der gesunden Naivität einer Mittzwanzigerin an, die ein lebendes Beispiel vor sich stehen hatte, wieviel sie in 20 Jahren wiegen, welche Kleidung sie dann tragen sollte und wie sie dann aussehen würde. Oder sie war einfach nur zum dreiundzwanzigtausendsten Mal aus ihrem normalen Arbeitsablauf gerissen worden, in diesem Fall zur Abwechslung durch eine doofe Kundin, die zu blöde ist zum Suchen. Aber sie handhabte die Situation mit professioneller Freundlichkeit: "Was suchen Sie denn?"
"Na ja, hier haben wir 'Wie werde ich erfolgreich, glücklich schön?' Und gleich daneben jede Menge Ratgeber, wie ich meine Mitarbeiter dazu bringe, mich kompetent, liebenswert oder attraktiv zu finden.Zeitmanagement, Budgetierung, Graphologie-Crashkurs, alles da. Ich aber suche ein Buch über Versager!"
Es folgten fünf Sekunden Sendepause, dann würgte sie ein "Bitte?" hervor.
"Nun sehen sie doch Fräulein, ist doch eigentlich ganz logisch. Was ist das Gegenteil des erfolgreichen Managers? Richtig! Der Versager. Deshalb suche ich hier bei Management. Und ich finde nichts!" Das arme Mädel gewann nur langsam seine Fassung wieder, gelangte aber dann recht schnell in standardisierte Pfade zurück und zuckte mit den Schultern: "Also bei Management haben wir zu diesem Thema nichts, aber gehen Sie doch mal zwei Stockwerke höher zu Lebenshilfe!" Und fort war sie.
Ich ersparte mir die Lebenshilfe und vor allem die Treppe zwei Stockwerke höher und stieg statt dessen in die Tiefen der U-Bahn hinab, um mich auf den Nachhauseweg zu machen, nicht ohne meine Suche weiterzuspinnen. Die nächste Gelegenheit bot mir ein Obdachloser, welcher mich am Bahnsteig um Kleingeld anging. Ich kramte eine Münze hervor, die ich ihm unter die Säufernase hielt: "Also erstens hieß der Spruch früher 'Haste mal ne Mark?' und zweitens bekommst du die 50 Cent nur, wenn du mir ehrlich eine Frage beantwortest." Er grunzte eine zustimmend wirkende Antwort.
"Wenn Du Deine aktuellen Lebensumstände von heute mit denen von früher vergleichst: Fühlst Du Dich als Versager?" Es dauerte einen Moment, bis der Groschen bei ihm gefallen war, dann aber traten instantan seine Halsschlagadern hervor, die blaurote Gesichtsfarbe schlug ins Rote um und er brüllte mich an, so dass es garantiert über den gesamten Bahnsteig zu hören war: "Behalt' Dein Geld, Du alte Schlampe!" Und während er sich trollte, um seine Zeit nutzbringend zur Inspektion der Abfalleimer zu verwenden, murmelte er noch etwas leiser in seinen Bart, dass ihrereins ja auch eine Ehre hätten, und dass es überhaupt das letzte sei, hier auch noch diskriminiert zu werden und so fort. Mein Experiment war fehlgeschlagen.
Zuhause klemmte ich mich hinter den Computer. Versager als Titelstichwort bei Amazon: Eine Handvoll Treffer, aber nichts wirklich spezifisches. Die englische Übersetzung von Versager: deadbeat, abnegator. Hätten Sie es gewusst? Na ja vielleicht noch bestenfalls den loser, den man auch irgendwo im Lexikon findet, der aber meiner Meinung nach eher der Verlierer und damit etwas ganz anderes ist. Auf jeden Fall ließ ich mich durch die bisherigen Misserfolge nicht stoppen, im Gegenteil.
Ich zog aus meiner Adressdatenbank die Liste meiner Lieblingsverlage heraus und machte mich an einen Serienbrief. Es sei mir aufgefallen, dass in Ihrem überaus hochwertigen und reputierten Programm, welches herausragende wissenschaftliche Werke enthalte, das Thema "Versager" konsequent bisher außen vor geblieben sei. Als berufene Expertin auf diesem Gebiet wäre ich jedoch gerne bereit, eine entsprechende Monografie zu diesem Thema beizusteuern. Mit demütigsten Grüßen etc, etc, Nicole Berg. Also flugs ein paar hundert Stück ausgedruckt, einkuvertiert und zur Post geschleppt.
Es vergingen Wochen des Wartens, in welchen die Antworten kamen, welche ich in der destruktiven Ecke meines Großhirns in dieser Form erwartet hatte. Der Standardfall war überhaupt keine Reaktion, bestenfalls gingen Zweizeiler ein, dass niemand im geringste an meiner Fachkompetenz zweifeln würde, aber heutzutage werde sowieso immer weniger gelesen, als Verleger stehe man mit dem Rücken zur Wand und Versager könne man deshalb nicht gebrauchen. Mit freundlichen Wünschen für den weiteren Lebensweg, etc, etc.
Ich hatte mich schon immer mal mit dem Thema Direktmarketing per Telefon befassen wollen. Dies war meine Chance: "Guten Tag, mein Name ist Nicole Berg. Ich arbeite gerade meine Magisterarbeit im Fach Soziologie aus. Dürfte ich ihnen ein paar Fragen stellen?" Wenn ich an dieser Stelle nicht schon durch die Aussage abgewürgt wurde, dass Zeit Geld bedeute und selbiges nicht vorhanden sei, dann fiel der Hörer spätestens dann auf die Gabel, als ich zum ersten mal das Wort Versager in den Mund genommen hatte. Ich kam zu dem Schluss, dass es sich bei der ganzen Thematik um eine ganz heikle Sache handeln müsse, die vielleicht sogar den Hauch des Anrüchigen besäße und dass der fernmündliche Weg deshalb vielleicht nicht der ideale sei. Meine Überlegungen mündeten schließlich in einem 37-seitigen Fragebogen, der wirklich alle Aspekte abdeckt und auf welchen ich auch noch heute mächtig stolz bin. Nun konnte ich also endlich jene Breitseite auf die Gesellschaft abfeuern, auf welche diese zu warten schien.
Aktiengesellschaften, Kleinbetriebe, Behörden, Verwaltungen, die Glaubensgemeinschaften, Akkordmetzger! Alle sollten ihr Fett abbekommen. Wie hoch schätzen Sie den Anteil an Versagern in Ihrem Unternehmen ein? In ihrer Abteilung? Ihrem Geschäftsbereich? Werden Versager in Ihrer Institution systematisch diskriminiert? Kommt es zu innerbetrieblichen Übergriffen seitens der Kollegen?
Ich feuerte aus allen Rohren. Nun ging es darum, die Key-Player des deutschen Bruttosozialproduktes zur Kooperation zu bewegen. Also Telefonmarketing die zweite: "Guten Tag Herr Tiefensee. Nicole Berg hier vom IVS. Keine Angst, ich will mich nicht über die LKW-Maut beschweren und auch kein Erfassungssystem verkaufen. Wir arbeiten gerade eine breit angelegte Studie über systemimmanente Fehlfunktionen des europäischen Wirtschaftssystems aus, unter der besonderen Berücksichtigung des Effizienzverlustes verursacht durch Ausfall bei den menschlichen Ressourcen der produktiven Institutionen. Dürfte ich ihnen einen kompakt ausgelegten Fragebogen zu dieser Thematik zukommen lassen? Sie verstehen, Repräsentativität einer solchen Studie ist unerlässlich für eine repräsentative Demokratie, deshalb würden wir uns sehr freuen, wenn auch ihre Institution ...".
Der Donner meiner Breitseite verhallte ungehört. Aktiengesellschaften, Kleinbetriebe, Behörden sowie Akkordmetzger weigerten sich standhaft, mich mit belastbaren Daten zu versorgen. Ich vertrieb mir die Wartezeit bis zum Eintreffen der Rückläufe mit der Erstellung eines Internetportals, dem Einrichten einer Chat-Zone für Versager und deren Sympathisanten und natürlich erstellte ich eine Online Version meines Fragebogens für alle Papierallergiker. Auch die Versuche, meine Chat-Zone mittels einiger virtueller Charaktere zu bereichern, stießen in der Außenwelt auf kaum Resonanz, ebenso wie die Gründung meiner Stiftung AI (Abnegators International). Der Briefkasten, die Mailbox und der Chatroom bleiben hartnäckig leer.
Eines Vormittags läutete es an der Türe. Ich hätte eigentlich erwartet, es wären die Zeugen Jehovas wiedergekommen, mit welchen ich neulich versucht hatte, die Frage des Seelenheils aus der Sicht ihrer Bibelauslegung zu diskutieren, und was denn mit den vielen verlorenen Seelen geschehen würde, die versagt hätte bei der Einhaltung der Gebote. Aber ich hatte mich getäuscht und es war ein ganz normaler Versicherungsvertreter, einer jener adrett hergerichteten jungen Männer, welcher wohl übles vermutete, als ich ihn nach Vorbringen seines Anliegens erst einmal in die Wohnung bat. Was auch immer er sich erhoffen oder befürchten wollte, ich stellte ihm eine Tasse Tee und ein Schnäpschen hin und wir kamen ins Plaudern.
Ich ging hochgradig sensibel vor: "Und wie läuft ihr Arbeitstag heute? Schon viele Versicherungen verkauft?" Am Anfang gab er noch das übliche Vertretergeschwätz zur Antwort, er rückte dann aber nach dem mittlerweile dritten Schnaps doch mit der Wahrheit heraus, dass die Woche bisher noch nicht wirklich großartig gelaufen sei, er hätte noch gar nichts an den Mann oder an die Frau gebracht." Aha, das war es das ich hatte hören wollen. Ich verkniff mir, ihn das zu fragen, was an dieser Stelle hätte kommen müssen. Statt dessen legte ich mütterlich meine Hände auf seine Schultern und versuchte ihn aufzumuntern: "Na ja alter Junge, wird schon noch werden. Aber nicht bei mir. Ich habe eine Allergie gegen Versicherungen."
Der Vertreter war das letzte Mosaiksteinchen, das ich benötigt hatte, um das Bild meiner Theorie fertigzustellen: Natürlich gibt es Versager. Sie sind überall. Sie laufen herum, im Anzug, in Freizeitklamotten, in Lumpen, sie sitzen in ihren Wohnungen, fahren Auto, telefonieren, essen, trinken, pflanzen sich fort. Sie durchsetzen die Gesellschaft, sind ein wesentlicher Bestandteil derselben. Die Gesellschaft braucht sie, zieht Nutzen aus ihnen. Aber sobald man anfängt sie zu identifizieren, die Dinge beim Namen zu nennen, passieren schreckliche Dinge. Es ist ein kollektiver Verdrängungsprozess, der ihre Existenz kategorisch verleugnet sie unsichtbar macht, unauffindbar. Und es war meine Aufgabe, gegen diesen schändlichen Verdrängungsprozess zu Felde zu ziehen. Jawoll, meine nächste Maßnahme war eine Kampagne. Die logische Fortsetzung von "Du bist Deutschland".
Lassen sie mich raten, sie haben noch nichts von meiner Kampagne mitbekommen? Auch das ist kein Zufall. Das System arbeitet gegen mich. Aber ich werde nicht aufgeben. Kennen sie die Tage, an welchen ihnen hunderte von Geisterfahrern auf der Autobahn entgegenkommen? Da muss man durch, kann ich nur dazu sagen.