Und jetzt?
Und jetzt?
Die Sonne stand hoch am Himmel und wärmte Strassen und Steine. Wie unpassend. Eigentlich hätte es jetzt regnen müssen. Vielleicht auch blitzen und donnern. Sonnenschein wurde der Dramatik des Augenblicks nicht gerecht. Wurde dem Augenblick nicht gerecht, in dem sie auf dem Geländer der hohen Brücke stand und in die Tiefe starrte. Es hätte deprimierend sein sollen. War es aber nicht. Mist!
Und so stieg Letitia wieder vom Geländer herunter. Ihr war klar geworden, dass sie sich nicht an einem Tag umbringen konnte, an dem die Sonne schien.
"Fahr zur Hölle, Sonne!", schrie sie mit erhobener Faust. Dann stieg sie in ihr Auto, den kleinen, grasgrünen Käfer und fuhr weiter. Dies würde sie vom Nachdenken ablenken. Es lief "Summer Sunshine" von The Corrs. Letitia fluchte. "Scheiss Sonnenschein", knurrte sie und wechselte die Frequenz. "Don't worry, be happy. Ain't no cash, ain't no style, ain't no girl to make you smile, but don't worry, be happy...", tönte lautstark die Stimme von Bobby McFerrin aus dem Radio. Mit einer ärgerlichen, hektischen Bewegung wechselte Letitia erneut den Sender. Diesmal schallte ihr keine Musik entgegen, sondern die Nachrichten. Nachdem die weibliche Stimme Auskunft über den Stand der Dinge im Irak, die Unruhen in Nordirland und den Zustand des Verkehrs gegeben hatte, folgte eine Sondermeldung: "Vermisst wird seit letzter Woche Letitia Perrish, 24 Jahre alt. Sie ist eins dreiundsechzig gross und schlank, sie hat braunes Haar und grünliche Augen. Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens trug sie eine lila Bluse und zerschlissene Jeans. Zuletzt wurde sie im Raum Romford, London gesehen. Wir sind für jeden Hinweis dankbar. Bitte melden Sie sich unter der Nummer..."
Plötzlich durchströmte Letitia eine wilde Freude. Ja, man suchte sie, aber man würde sie nicht finden! Denn bald würde sie gewesen sein, das stand fest. Nur ihre körperliche Hülle würde übrigbleiben. Ihre Angehörigen würden vielleicht sogar weinen und klagen und es jedem, ob er es nun hören wollte oder nicht, erzählen, was für ein liebes Mädchen Letitia immer gewesen war. Immer aufgestellt, fröhlich, anständig, vernünftig und verantwortungsbewusst...
Ha! Diese elenden Vollidioten. Die hatten doch gar nicht gewusst, wie sie wirklich war, wie es in ihrem Innern aussah. Und hätten sie es gewusst, hätten sie sich wahrscheinlich mit beschämtem Blick von ihr abgewandt und gemieden.
Gerade letzthin hatte sie sich ein Theaterstück angesehen, bei dem ein Satz gefallen war, der sie unglaublich fasziniert hatte: "Wenn ich eine neue Haut hätte, würde ich hoffen, dass sie das verdorbene Fleisch gut verbirgt." Ja, dieser Satz war Weltklasse. Sie hatte ihn sich in die Agenda geschrieben, in grossen, schwarzen Lettern. Sehr passend.
Im Radio lief inzwischen wieder Musik. "Wow, we're going to Ibiza..." Und dieses Mal schrie Letitia wütend auf. Es konnte doch nicht jeder verfluchte Sender ein so verdammt fröhliches Lied bringen. Verärgert schaltete sie den Radio ab und suchte im Türfach nach einer Kassette. Nun, dieses Auto hatte noch nicht einmal einen CD-Player. Ganz schön erbärmlich, wie Letitia fand. Aber schliesslich konnte man nur wählerisch sein, wenn man auch die finanziellen Mittel dazu hatte.
Ihre Hand ertastete eine Kassette, die sie hervor nahm. Ein zerfledderter Papierstreifen mit der Aufschrift ,Portishead' klebte darauf. Perfekt! Sie schob die Kassette in den Rekorder und drückte die Playtaste. Dann wandte sie den Blick wieder der Strasse zu. Zu ihrem Entsetzten bemerkte sie, dass sie während dieses Manövers die Fahrspur gewechselt hatte und nun rechts fuhr. Zu allem Unglück kam ihr auch noch ein wild hupendes Auto entgegen. Zu Tode erschrocken war sie nur noch zu einem Gedanken fähig: "Ich kann nicht an einem sonnigen Tag sterben." Verzweifelt riss sie das Steuer nach rechts, um die Strasse ganz zu verlassen. Um wenige Zentimeter verfehlten sich die beiden Autos.
Das Gelände hinter der Strasse war ziemlich eben, aber doch sehr holprig. Letitia trat schliesslich mit voller Kraft auf die Bremse, vergass vor lauter Panik aber zu kuppeln, so dass ihr Käfer einen Satz machte und der Motor schliesslich erstarb.
Keuchend sass Letitia da, mit den Händen das Lenkrad umklammernd. Nach mehreren Minuten klopfte jemand an ihre Scheibe. Mit Mühe drehte sie den Kopf und sah einen Mann, vielleicht etwas älter als sie. Sie kurbelte die Fensterscheibe hinunter.
"Ist Ihnen etwas passiert?", fragte er. Der Schreck stand ihm noch ins Gesicht geschrieben.
Letitia schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich noch ziemlich lebendig und ganz. "Alles in Ordnung. War nur etwas holprig...", antwortete sie mit nicht ganz so fester Stimme, wie sie es sich gewünscht hätte.
"Sind Sie sicher? Soll ich Sie nicht in ein Krankenhaus bringen?", hakte er nach.
"Ganz sicher!", erwiderte Letitia heftig. In einem Krankenhaus würde sie ihre Personalien angeben müssen und dann würde man sie zurück nach Romford bringen. "Machen Sie sich keine Sorgen, es geht mir bestens. Und ausserdem war es ja meine Schuld.", sagte sie, um ihren vorherigen Worten die Schärfe zu nehmen. Und dann, nach kurzer Pause, erkundigte sie sich: "Und sie? Sind Sie auch n Ordnung?"
Er lächelte. "Naja", meinte er, "es war ein ganz schöner Schrecken, den Sie mir eingejagt haben. Ich könnte jetzt einen Kaffee brauchen. Oder vielleicht auch etwas Stärkeres." Seine weissen Zähne blitzen und in seinen Augen funkelte es schelmisch.
Letitia lächelte ebenfalls. "Dann sollte ich Sie wohl einladen."
Drei Stunden später sassen die beiden noch immer in einem kleinen Café in einem winzigen Dorf. Sie hatten über dieses und jenes geredet, ausser über sich selbst. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden.
"Weisst du, was deprimierend ist?", fragte Letitia. "Wenn man wirklich versucht, deprimiert zu sein, aber es klappt einfach nicht. Ganz schön paradox, nicht?"
"Vielleicht bist du einfach nicht für Depressionen geschaffen."
Sie schwiegen eine Weile, hingen ihren eigenen Gedanken nach. Und schliesslich, ganz leise und vorsichtig, als fürchte er, etwas damit kaputt machen zu können, fragte er: "Und jetzt?"
Letitias Augen wurden dunkel. Vor Zorn, vor Verbitterung, vor Traurigkeit. "Das ist die dümmste Frage überhaupt. Die dümmste Frage der Welt! Die Menschen haben verlernt, einfach nur in den Tag hinein zu leben. Sich einfach einmal treiben zu lassen. Keine Fragen zu stellen. Meistens ist es nämlich diese Frage, die alles zerstört. Man kann ja gar nicht wissen, was als nächstes passiert. Warum also danach fragen? Das ist dumm, hörst du? Dumm. Willst du wissen, warum ich hier bin? Warum ich mit einem hässlichen grünen Käfer, der noch nicht einmal einen CD-Player hat, durch das ganze Land fahre? Weil man mir zu Hause genau diese Frage immer und immer wieder gestellt hat! ,Und jetzt, Letitia?'. Immer, immer, immer wieder! Nach der Schule. Nach der Lehre. Nach jeder verpatzten Prüfung. Nach jeder gelungenen... Verflucht noch mal, woher soll ich das denn wissen? Die sollen mich einfach mal in Ruhe lassen. Mich mein Leben leben lassen. Diese elenden Besserwisser! Ich könnt' kotzen bei dieser Frage. 'Und jetzt, Letitia?'. Verpisst euch doch!"
Die wenigen Gäste des kleinen Cafés starrten jetzt allesamt zu ihnen herüber. Sprachlos, entsetzt, die Köpfe schüttelnd, neugierig.
"Jämmerliche Voyeure", murmelte Letitia und wandte ihren Blick auf die Tasse Kaffee vor ihr, um niemanden ansehen zu müssen.
"Dein Name ist also Letitia?", fragte ihr Gegenüber mit leisem Lächeln.
Verblüfft sah sie auf. Egal, was sie erwartete hatte, das war es nicht.
Er stand auf. "Na, dann wollen wir uns mal ins Auto setzten und sehen, wohin die Strasse uns führt." Er zog sich seine Lederjacke über und ging ein paar Schritte in Richtung Ausgang. Letitia blieb, wo sie war, erstarrt und erschrocken. Über sich selbst, über ihn, über die ganze Welt.
Er drehte sich um und rief: "Kommst du?"
Eine ganz einfache Frage. Aber konnte sie das wirklich tun? Sie kannte ihn doch kaum. Kannte noch nicht einmal seinen Namen. Woher er kam. Was er beruflich machte. Warum er einen Mercedes Benz fuhr. Was er für Musik hörte. Ws für Filme er mochte. Ob er Eltern oder Geschwister hatte... In ihrem Kopf formte sich eine einzelne Frage: Und jetzt?