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Thema des Monats Und sie

Seniors
Beitritt
01.07.2006
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Und sie

Und sie schlägt die Bettdecke zurück, und dann auch noch die vom Nebenbett. Und sie steht auf und geht zum Fenster und öffnet es. Und sie denkt an etwas und dann an etwas anderes, und geht aufs Klo, entfernt, bevor sie sich draufsetzt, die Spuren eines anderen vom Weiß der Porzellanschüssel. Und sie antwortet bejahend auf Rufen und sie wischt sich schnell ab, wäscht die Hände, hebt Handtücher vom Boden, und geht in die Küche und füllt die Kaffeemaschine mit Wasser, knickt den Filter, zählt die Löffel mit Kaffee, stellt Wasser in einem Topf auf, holt die Zeitung vor der Tür, stellt Teller und Tassen auf den Tisch, Cornflakes, Orangensaft, Milch, Schinken, Käse stellt sie auf den Tisch, wieder kein Obst, das hat sie gestern vergessen. Sie schneidet Brot und schneidet Brot und schneidet Brot, bestreicht es mit Butter, die sich wehrt, und sie will sie aber bis zum Rand haben. Sie denkt an etwas und dann an etwas anderes, und sie trennt die streitenden Kinder, und sie putzt eine Nase, und sie hebt zerknüllte Papiertaschentücher vom Boden, und sie sagt zehn Mal, wo etwas ist, und sie bügelt rasch noch ein Hemd, und sie packt Jausenbrote ein, sie streichelt ein Kind, sie kämmt und sie schlichtet Streit und sie verliert einen Kampf gegen die älteste Tochter, die kein Rosa mehr mag. Und sie nimmt ein schreiendes Kind auf den Arm, und sie richtet dem Mann die Socken und gibt ihm das Hemd, es fehlt aber ein Knopf, und sie bügelt rasch noch ein Hemd. Und sie will an etwas denken, aber es fällt ihr nicht mehr ein und so denkt sie an die Einkaufsliste und an den Schimmel oberhalb des Fensters im Badezimmer, und sie denkt, sie denkt nicht mehr richtig. Sie gibt jedem einen Kuss auf die Stirn und sie schließt die Tür und sie macht die restlichen Fenster auf und schlägt die Bettdecken zurück, ein Bett wird bald zu kurz, sie muss die Angebote in den Postwurfsendungen anschauen, sie streicht die Laken glatt, schüttelt die Kissen auf, räumt Spielzeug weg und schmutzige Kleidungsstücke und sie setzt sich auf ein Bett und denkt an etwas anderes. Sie sieht den splitternden Nagellack auf ihren Zehen und die graue Haut ihrer Unterschenkel, sie riecht ihren eigenen muffigen Geruch und das Kind schreit wieder. Sie steht auf und geht zum Gitterbett und wundert sich über soviel Zorn, sie nimmt das Kind und geht mit ihm herum und singt ihm leise etwas vor und wiegt es und spricht ihm zu, und dabei denkt sie an etwas anderes, etwas, das sie früher einmal gehabt hat, aber es fällt ihr nicht mehr ein, und sie fühlt sich auf einmal beobachtet und sie sieht wieder auf das Kind und küsst es und denkt wieder und schaut sich über die Schulter, ob da wer ist. Sie legt das Kind ins Bett und streichelt über seinen Kopf, aber nur, weil sie sich beobachtet fühlt, sie will aber an das denken, was ihr nicht einfällt. Sie geht in die Küche und sie trägt das Geschirr zur Maschine und sie nimmt die Tasse und sie nimmt die Tasse und sie nimmt die Tasse. Sie nimmt den Lappen und wischt alle Flächen sauber und dann wechselt sie ihn aus, weil er keine Farbe mehr hat und sie geht Wäsche sortieren und füllt die Maschine und achtet darauf, dass das Pulver restlos aus der Einspülkammer geschwemmt wird und sie geht ins Wohnzimmer und findet weiteres schmutziges Geschirr und klebriges Bonbonpapier auf der Ledercouch und sie geht das spezielle Lederpflegemittel holen und reinigt und kreist und presst und wischt. Sie riecht an ihren Fingern und sie geht sich duschen, holt vorher Haare aus dem Abfluss und ekelt sich und übersieht die Schmutzränder in der Duschtasse. Sie sieht ihre traurigen Brüste im Spiegel und wendet sich ab und bindet sich das Haar hoch und zieht sich verstohlen an und blickt über ihre Schulter. Sie dreht sich zur Wand, auch das, das immer hinter ihr ist, soll ihren Hintern nicht in dieser ausgeleierten Unterhose sehen, und sie denkt sich was, und sie dreht das Radio auf und hört mit Erstaunen, dass jemand nicht mehr ohne jemanden anderen leben kann, und sie stellt das Bügelbrett auf und beginnt zu bügeln, nimmt ein Leibchen und nimmt ein T-Shirt und nimmt ein Hemd und nimmt eine Hose und nimmt ihre andere Hand und presst sie. Sie will etwas Gesundes kochen heute, aber sie weiß nicht mehr recht, was gesund ist und sie würde gerne etwas gegen ihren schlaffen Bauch tun, aber wenn sie es versucht, spürt sie ihn plötzlich nicht mehr. Das Kind schreit. Sie geht zum Gitterbett und nimmt es auf und schaukelt es, es klammert sich an ihre Haare und reißt daran, vorsichtig löst sie die kleinen, kleinen Finger, sie sieht dem Kind ins Gesicht und sagt laut etwas, und dann etwas leiser, denn der andere könnte sie hören. Und sie denkt, sie will nicht mehr denken, und legt das Kind zurück. Sie will alles richtig machen, alles richtig, alles richtig, sie wird jetzt eine richtige Einkaufsliste machen und nichts vergessen, besonders nicht die gesunden Sachen. Sie will stolz auf sich selbst sein und sie beginnt zu träumen und nimmt sich aber noch rechtzeitig an den Haaren, fährt immer wieder mit den Fingern durch und lässt die ausgerissenen auf den Boden fallen. Und sie steht auf und betrachtet das Zimmer und das Fenster und sie denkt, sie könnte alles ganz anders machen, wenn sie nur richtig nachdenkt, wird es ihr wieder einfallen. In der Ecke liegen Staubflocken und sie muss den Staubsaugerbeutel wechseln, sie muss in irgendeinem Geschäft die richtigen Beutel finden, sie muss im Internet nachsehen, in dem Winkel, in dem der Beobachter steht, ist kein Staub. Und sie geht zum schreienden Kind und schüttelt es und schüttelt es und schüttelt es.

 

Hallo allerseits! :)

@ Lev
Okay, Sir, gut so, Sir, danke Sir! :D

@Fischy
Schön, dass das bei dir so angekommen ist. Der Tisch bleibt auf dem Tisch!

Das hat gut funktioniert bei mir. Da hakt’s bei ihr, sie hält inne, will den Geda... weg isser wieder.
Jaha, kannst dich ja doch in Frauen einfühlen! :p

@Sammamish

besser kann man's gar nicht ausdruecken. Die Geschichte ist fuer mich Horror, weil ich mich damit identifizieren kann. Was man als Horror empfindet, kann letztendlich nur jeder selbst entscheiden. Was den einen gruselt, belustigt vielleicht einen anderen.
Freut mich, und du hast vollkommen Recht!
Ich fand es sehr gelungen.
:bounce:

@dot

Zuerst hat mich dieses Text-Bild abgeschreckt, und dann habe ich mich trotzdem darauf eingelassen und dann wusste ich sofort, da darf kein Absatz kommen und da kam dann auch kein Absatz und ich reisse mich zusammen, um durchzuhalten und dann reisst sie sich an den Haaren und schüttelt ihr Kind und schüttelt und schüttelt mich dabei und diese stoische Atmosphäre hat einfach so etwas furchtbar schrecklich alltägliches.
Bekommt man selten, so einen körperlichen Lesererfahrungsbericht, ich nehm´s mal als Kompliment! Danke dir! :)
Dann habe ich wieder Luft geholt.
Ja, und bitte einfach wieder so weitermachen!

Vielen Dank euch allen fürs Lesen und Kommentieren!

Gruß
Andrea

 

Sollte ich vielleicht, um meinen Image zu entsprechen, sagen: Nicht schlecht ... für eine Frau? ;)

Es ist schon ein Text wie ich ihn lieber schreiben als lesen würde. Also nach zwei, drei Zeilen ist das "Konzept" des Textes klar. Die allmächtige Beiordnung, alles wird beigeordnet, alles ist gleich wichtig, es gibt keinen Raum für Pausen. Deshalb ist es natürlich auch sehr schwer, Akzentuierungen hineinzubringen, das gelingt dir dennoch mit den "Sie denkt etwas"-Passagen, das hat mir sehr gut gefallen.
Ob es das Ende braucht oder nicht, es ist halt da. Vielleicht ein wenig zu laut für die Geschichte und als Bild wäre das stumme Anstarren sicher nicht schlechter; also ich hab das jetzt auch nicht gebraucht, wobei mir der Text in seiner Monotonie auch zu lang war ein Stück. 4,5 Zeilen weniger, hätten nicht geschadet. Wie gesagt: Der Punkt des Textes ist schon sehr früh klar, fast nach den ersten beiden Sätzen, es bleibt also immer auf einem Ton.

Gruß
Quinn

 

Hallo Quinn!

Es ist schon ein Text wie ich ihn lieber schreiben als lesen würde. Also nach zwei, drei Zeilen ist das "Konzept" des Textes klar. Die allmächtige Beiordnung, alles wird beigeordnet, alles ist gleich wichtig, es gibt keinen Raum für Pausen. Deshalb ist es natürlich auch sehr schwer, Akzentuierungen hineinzubringen, das gelingt dir dennoch mit den "Sie denkt etwas"-Passagen, das hat mir sehr gut gefallen.
Ja, schön, dass dir das aufgefallen ist und du es gut findest. Ich hab kein Problem damit, dass das Konzept des Textes sofort klar ist, es geht ja hier eher um eine Sogwirkung, die dieser Stil erzeugt.
Ob es das Ende braucht oder nicht, es ist halt da. Vielleicht ein wenig zu laut für die Geschichte und als Bild wäre das stumme Anstarren sicher nicht schlechter; also ich hab das jetzt auch nicht gebraucht, wobei mir der Text in seiner Monotonie auch zu lang war ein Stück. 4,5 Zeilen weniger, hätten nicht geschadet. Wie gesagt: Der Punkt des Textes ist schon sehr früh klar, fast nach den ersten beiden Sätzen, es bleibt also immer auf einem Ton.
Ja, das Ende wäre sicher überdenkenswert, haben ja andere auch schon angemerkt. Kürzen könnte man sicher auch, will ich aber nicht. Und ich denke, man kann dem Leser ruhig mal zumuten, dass es ein bisschen anstrengender ist.

Danke dir!

Gruß
Andrea

 

Hi Andrea,

Horror Alltag oder Alltagshorror. Eigentlich kann ich nur wiederholen, was hier eh schon geschrieben wurde (ich versuch mal, möglichst wenig zu wiederholen). Anfangs dachte ich, da sind ja gar keine Absätze drin, aber ist klar, dass das Absicht ist. Das ewige "und sie" ging mir nach einer Weile büschn auf die Nerven, aber auch das gehört dazu.

Nach den ersten Zeilen hab ich damit gerechnet, dass sie irgendwas macht, etwas anderes halt, weglaufen, fernsehen, sich wieder ins Bett legen, schreien oder eben sowas in der Art. Kam aber nix, was das Ganze noch viel gruseliger macht, weil es einfach immer weiter geht.

Der Schluss passt dazu, sozusagen als krönender Höhepunkt, sie kommt nicht hinterher und mit sich selbst nicht mehr zurecht und bei dem schreienden Kind setzt dann alles aus.

Fällt mir gerade erst ein bzw. hab ich beim Lesen nicht drauf geachtet. Besteht die Geschichte aus einem einzigen Satz? Wenn ja: cooles Stilmittel.

Liebe Grüße
\

 

Hallo Backslash!

Mit Dotslash verwandt oder verschwägert? ;)

Ja, ich denke, es soll einem auch ein bisschen auf den Keks gehen, damit es umso eindringlicher ist. Hausarbeit ist scheiße!!! :D

Nein, es sind schon mehrere Sätze, aber es stimmt schon, es könnte auch immer ein Komma sein statt eines Punktes.

Dass du es gruselig gefunden hast, ist gut! ;)

Vielen Dank für deinen Kommentar. :)

Gruß
Andrea

 

Bin mit Dotslash weder verwandt noch verschwägert, ist aber auch ein cooler Nick. Mir ist ehrlich gesagt nix anderes mehr eingefallen, nachdem ich vier oder fünf Nicks probiert habe und keiner ging. :shy:

Liebe Grüße
\

 

Originelle Idee

Dafür gibt es 100 Punkte von mir.

Die Geschichte liest sich extrem monoton, was aber hier Stilmittel ist und daher paßt.

Einiges an Punkteabzug von mir für den Schluss. Die Heldin schüttelt das Baby, bringt es vielleicht sogar um. Was möchtest du beim Leser damit bezwecken? Dass er Verständnis haben soll dafür?

Alltagshorror schön und gut. So weit kann man der Heldin noch folgen, auch wenn ich mir mehrfach die Frage gestellt habe, warum sie nicht aktiv wird bzw. nichts dagegen tut.

Spätestens beim Schütteln hört sich der "sanfte" Horror auf und der Leser weiß nicht mehr so Recht, ob er es nun mit einer gestressten, handlungsunfähigen Mutter oder mit einer gefährlichen Psychopathin zu tun hat.

Deshalb: Der Schluss ist für mich nicht stimmig.

Aber ansonsten gut gelungene Geschichte!

loom

 

Hallo Loom!

Dafür gibt es 100 Punkte von mir.
juhu!! :)

Einiges an Punkteabzug von mir für den Schluss. Die Heldin schüttelt das Baby, bringt es vielleicht sogar um. Was möchtest du beim Leser damit bezwecken? Dass er Verständnis haben soll dafür?
Ja, das Ende, muss ich echt nochmal überdenken, wurde hier ja schon mehrfach kritisiert. Verständnis will ich sicher keins wecken
Alltagshorror schön und gut. So weit kann man der Heldin noch folgen, auch wenn ich mir mehrfach die Frage gestellt habe, warum sie nicht aktiv wird bzw. nichts dagegen tut.
Was die Handlungsunfähigkeit der Heldin betrifft - sie muss eben nur noch handeln, aber eben für andere, nicht für sich, es ist aber im Grunde ein ganz normales Hausfraudasein, nichts Besonderes, aber sie hat keine Zeit mehr, irgendwann ganz zu sich zu kommen, um vielleicht zu überlegen, was sie anders machen könnte. Vielleicht ist der Schritt von einer überforderten Mutter zu einer gefährlichen Psychopathin manchmal gar nicht so groß. Aber ich denke, du hast Recht: das Ende ist zu plakativ.

Aber ansonsten gut gelungene Geschichte!
Danke dir und fürs Lesen! :)

Gruß
Andrea

 

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