- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 20
Unerfüllte Erwartung
Seit einigen Tagen liege ich nun in Seide, Baumwolle und Damast gebettet. Worauf wartest Du, mich einzuführen in Dein Reich? War ich nicht immer ein guter Hirte, Deine Lobpreisung mir ein Herzensanliegen?
Der Sturm, der am Abend des 28. Septembers 1978 über Rom tobte, hatte abgeschwächt ein Gegenstück in der nervlichen Anspannung von Albino Luciani. 33 Tage zuvor wurde er zum Papst gewählt, in Erinnerung an zwei seiner Vorgänger gab er sich den Namen Johannes Paul I. Warum ich? Es gibt Berufenere als mich, um diesen Verwaltungsapparat zu leiten, die ihren Willen zur Macht nur allzu gern mit dieser Fähigkeit verbunden hätten.
Seit Tagen fühlte er sich nicht wohl. Nicht das Herz, um dessen Schwäche er wusste, machte ihm zu schaffen. Magen, Galle oder was auch immer waren schmerzhaft gereizt und ein Husten quälte ihn.
Bereits mit dem Patriarchat von Venedig war die Grenze des mir möglichen überschritten. Ich sah mich genötigt, Machenschaften anzuprangern, die einzig um des Mammons willen, in unserer Kirche Einzug hielten. Allerdings werteten die Verantwortlichen eine Wahrung des trügerischen Scheins nach aussen höher, als meine Forderung nach rigorosen Konsequenzen. Es braucht eine hart durchgreifende Hand, um solches Geschehen ein für alle Mal zu unterbinden. Ob ich die Kraft dazu finde, liegt in Gottes Hand.
Er brauchte dringend einen Moment der Stille und der Einkehr. Vor dem Kruzifix kniete er nieder, um sich in ein Gebet zu vertiefen. Spiritualität sowie den Menschen im direkten Angesicht die christliche Botschaft zu verkünden, ist meine eigentliche Berufung. Warum hast Du mich nicht diesen schlichten Weg gehen lassen?
Das Nachtgewand lag bereit, das Kissen war neu aufgeschüttelt und so hergerichtet, dass er im Bett sitzend lesen konnte. Die Vorsteherin des päpstlichen Haushaltes kannte seine Eigenheit und nahm diese Verrichtung täglich selbst vor.
Er nahm die Schrift Sacerdotalis Caelibatus der Glaubenskongregation zur Hand. Unerbittlich und klar war der Text abgefasst, vergeblich suchte er nach einem Schwachpunkt. Seit Langem bewegte ihn diese Frage, die manche seiner Glaubensbrüder in unüberwindliche Konflikte stürzte. Sie konnten ihre Körperlichkeit nicht unter Kontrolle bringen, die geistige Sublimation durch den Glauben nicht vollziehen, Kasteiungen, rituelle Selbstgeisselung und kalte Waschungen verfehlten ihre Wirkung. Entgegen dem gewählten Weg, sich im Gebet zu läutern und zu befreien, bürdeten sie sich dem zuwiderlaufende Lasten auf. Vittorio, sein Freund aus früher Jugend und später mit ihm am Seminar, kam so vom rechten Weg ab. Seither hatte er immer wieder darüber nachgedacht, warum Gott – oder war dieses kirchliche Dogma nicht wirklich in seinem Sinne - diesen im alltäglichen Leben schwachen, aber im Glauben starken Hirten keinen praktikablen Weg ebnete? In der Frühzeit kannte man diese Einschränkung nicht, doch bereits in apostolischer Zeit wurde es als notwendig erkannt, um zu wahrer Erkenntnis und Läuterung zu gelangen. Ich zweifle nicht um meinetwillen, nein, nein, eher würde ich mich noch strengerer Selbstkasteiung unterwerfen. Aber Vittorio und all die anderen … Der Körper reift im Glauben, doch bei manchen scheint dieser Prozess sehr langwierig zu sein. Er hatte mit eng Vertrauten darüber gesprochen, ihrer Skepsis seine Hoffnung für eine gütige Lösung gegenübergestellt. In langen Stunden über die Notwendigkeit und die Tragik diskutiert. Die Tradition erweist sich hier als Hemmnis. Es wird viel Zeit und Überzeugung erfordern, um etwas zu bewegen. Dennoch bestärkt es mich, dass es in Gottes Absicht liegt, auch diese Frage anzugehen, da er mir dieses Amt aufbürdete und diesen Gedanken auf den Weg gab. Aber es sind auch viele andere wichtige Aufgaben, die mir bevorstehen, bis die Kirche wieder ohne Makel die wahre Verkünderin der frohen Botschaft ist.
Aufrecht sitzend, es war Zeit zum Schlafen, griff er nach dem Glas Wasser und trank mit grossen Schlucken. Merkwürdig der Geschmack, den es hat. Es ist nicht abgestanden oder ungeniessbar, aber leicht bitter.
Noch einmal blickte er auf seine Papiere. Im Schlaf kann ich meine Gedanken vielleicht ordnen, eine die verschiedenen Meinungen vereinende Lösung finden. Diese Überlegung liess ihn lächeln. Mit Gottes Hilfe werde ich es schaffen.
Nur daran, dass die Schmerzen schlagartig versiegten, spürte er es. Das Uhrwerk seines Lebens war zum Stillstand gekommen ohne ein dramatisches Moment. Noch immer sass er da, lächelnd, in seinen auf der Bettdecke liegenden Händen die Dokumente.
Als die körperliche Hülle sich ihrer Lebensfunktionen entledigte, war das Ereignis nicht eingetreten, wie er es erwartete. Kein nahtloser Übergang der Seele in das Purgatorium zur Läuterung. Nicht der geringste Schimmer einer göttlichen Sphäre. Zwar hatte er sich nie ein klares Bildnis davon geschaffen, wie es sich anfühlen und diese letzte Offenbarung sich weisen musste. Entsprechende Darstellungen in der sakralen Kunst deutete er stets nur als Ausdruck der Freude über diesen gnadenvollen Akt. Dieses Geschehen musste von einer Erscheinung sein, welches jedes weltliche Verständnis überschritt und darum mit menschlich begrenzter Vorstellungskraft gar nicht erfassbar war.
Trotz seiner Bereitschaft geschah auch in den folgenden Stunden nichts. Noch immer nahm er seine Seele als im Körper eingeschlossen wahr. Ich muss mich in Demut üben und warten.
Die Vorsteherin des päpstlichen Haushaltes bekreuzigte sich, als sie den Papst gegen fünf Uhr morgens fand. Sein Privatsekretär eilte herbei, sich überzeugend, dass er nicht einfach im Gebet verharrte. Einige Zeit später trat der Arzt des Vatikans hinzu und untersuchte ihn, nachdem er seinen Körper flach gebettet hatte. In seiner Gegenwart telefonierte der Arzt mit Lucianis früheren Leibarzt aus der Zeit in Venedig. Sie sprachen darüber, dass das Herz der schwache Punkt in seinem Leben gewesen war. Der Abberufung konnte man nichts entgegensetzen.
Das Prozedere um seinen Körper wurde abgehalten, Waschung, Einkleidung und dann die Aufbahrung.
Er wartete, doch noch immer geschah nichts. Herr, ich bin bereit, intonierte seine Seele stumm. Demut und Läuterung ist der Weg, der hinführt in die himmlische Sphäre, widersprach er einmal mehr seiner keimenden Ungeduld.
Die Tage zogen hin. Die Totenmesse in ihrer ganzen Länge war ein rituelles Spektakel, an dem er an gewissen Stellen gern selbst das Wort ergriffen oder im Choral mitgesungen hätte. Doch kein Ton entrang sich seiner Seele.
Herrgott nochmal, warum dauert es denn so lange, rebellierte er.
Oder ist dieses langwierige Warten auf die göttliche Gnade etwa schon das Purgatorium? Die wüste Vorstellung einer Hölle mit loderndem Fegefeuer wurde bereits vor langer Zeit verworfen. In theologischen Disputen gelangte man zum Konsens, dass sich die Läuterung in zu Erkenntnis führender Demut erfüllt. Dies sei der wahre Weg zu Gott. Hatte ich mich denn nicht streng daran gehalten?
Er erinnerte sich an seine Kindheit in der Dorfkirche. Bei Abdankungen war es mir stets gegenwärtig. Gott hat einen Menschen zu sich heimgeholt. Ich spürte diesen wahrhaften Geist, der mich beseelte. Das Wissen, eines Tages auch in seiner nächsten Nähe zu sein.
Im Sarkophag ruhte er nun in der Krypta des Petersdoms, einem der Orte, die er stets nur mit grosser Ehrfurcht betreten hatte.
Die Stille war ihm eine ergreifende Wahrnehmung der Aufhebung von Zeit. Nur, warum lässt Er mich noch immer warten, ist es eine Prüfung, die ich noch vollziehen muss? Ich habe Geduld, Du wirst mich holen, darin bin ich mir gewiss.
Der tägliche Rundgang einer Putzequipe, die Staub wedelte und den Boden wischte, waren die einzigen beinah ehrfurchtsvoll anmutenden Geräusche, die die Ruhe des Totenreichs durchkreuzten. Besucher hatten derzeit keinen Zutritt.
In Gedanken sortierte er die Devotionalien, welche er als Kind zu sammeln begann. Anfänglich waren es Heiligenbildchen, keines der anderen Kinder hatte so viele wie ich. Bei meiner Erstkommunion schenkten mir meine Eltern ein eigenes Kruzifix, anlässlich der Priesterweihe dann einen silbernen Kelch.
Ist bei mir etwas schief gelaufen? Oder sind die anderen Päpste auch noch hier und warten?
Paul, rief er tonlos. Paul VI. antwortete ihm nicht, ebenso keiner der früheren Päpste, deren körperliche Hüllen hier beigesetzt worden waren. Seine Seele muss entfahren sein, ich werde ihm bald folgen, frohlockte er. Die freudige Stimmung seiner Seele erschreckte ihn. Ist es Eitelkeit, wenn ich mich darauf freue, in Gottes Reich zu treten? Nein, nein, das ist es nicht, was mich antreibt, vielmehr unterwürfiges Verlangen in seiner direkten Gegenwart zu dienen.
Auch weiterhin kam kein Zeichen. Die Erlösung der Seele aus dem Kerker des Körpers liess auf sich warten. Muss ich hier Weilen bis zum Jüngsten Tag? Hatte ich nicht bereits in meinem Leben alle Stufen der Läuterung durchschritten, nicht alle Erkenntnis auf Dich gesetzt und in meinen Gebeten offengelegt? Gib mir zumindest ein Zeichen, damit ich mir sicher bin, auf dem rechten Weg zu sein.
Die zersetzenden Aktivitäten in seinem toten Körper verstärkten sich. Merkwürdig, dieses Gefühl, welches mich beschleicht, als wenn kleinste Splitter meiner Seele sich verselbstständigen und abheben. Das kann nicht sein, es ist nur der Körper, welcher sein irdisches Dasein auflöst. Damit muss sich die Bindung der Seele an diesen Körper jetzt auch aufheben. Oder ist da etwas, das ich nicht bedachte?
Er rief sich die Interpretationen über die Seele, selbst über seinen eigenen Glauben hinaus, in Erinnerung. Im hebräisch-biblischen Zeitalter schilderte man die nefesch nirgends losgelöst vom Körper. Die Apologeten in der Frühzeit des Christentums waren in der Deutung den Platonikern nahe, dass die Seele fortbestehen würde. Wegen der Auferstehungslehre kamen sie aber zum Schluss, dass die Verbindung mit dem Körper auch im Tode erhalten bliebe.
Der Interpretationen sind viele, doch nirgends wurde von einer Absplitterung gesprochen. Oder irre ich mich?
In seiner Suche nach einer Erklärung war er bei den Vorsokratikern angelangt. Auch da gab es bereits verschiedene Auffassungen. Demokrit hatte in seiner Weltdeutung, die Seele als eine Zusammenballung von Atomen genannt, die sich von andern Körperatomen präzis unterscheiden. Eine Unsterblichkeit der Seele hielt er hingegen in diesem System für unmöglich. Zerstreuen sich die Seelenatome, sobald die Zersetzung des Körpers die Bindung aufhebt? Ist es dies, was ich jetzt wahrnehme? Eine Auflösung der Seele anstelle einer Auferstehung des Menschen, das darf nicht sein, es wäre ja … Schrecklich dieser Gedanke.
Er seufzte, das merkliche Schaudern noch von sich weisend, und rang weiter nach einer ihm genehmen Deutung. Nach den modernen Wissenschaften gibt es keinen Beweis für das Vorhandensein einer Seele und sie bezeichnen eine solche Auffassung als Spiritualität. Haben sie mit ihrem fehlendem Gottvertrauen etwa recht und es ist einzig eine mystische Erwartung?
Kam Jesus zu einer solchen Erkenntnis, als er sich veranlasst sah zu rufen: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?
Seine Seele bebte, die aufgekommenen Zweifel erschütterten ihn zutiefst. Es darf nicht sein, dass ich in meinem Glauben und meiner Überzeugung derart fehlging. Seit zwei Jahrtausenden folgen Menschen diesem Weg, sag mir, dass er nicht im Nichts endet. Der Sinn des Glaubens einzig eine moralische Lebensgestaltung beinhaltet. Dann wäre für den Menschen ja auch nur die Endlichkeit gegeben, wie bei niederen Lebewesen.
Seine erste Messe, die er als junger Geistlicher in der Dorfkirche abhielt, wurde ihm gegenwärtig. Ich war nervös gewesen, die Angst es könnte mir ein Fehler unterlaufen, liess meine Hände kurzzeitig immer wieder mal zittern. Innerlich rief ich mehrmals Gott an, mich zu führen. Seine Gegenwart wurde mir da durch eine jeweils aufkommende Ruhe spürbar, gab mir die Kraft, die Zeremonie ohne wesentliche Patzer durchzustehen. Dafür dankte ich Ihm dann in einer langen Andacht, des Abends, allein in der Kirche.
An diese Gegenwärtigkeit von Ihm, die ich damals sehr intensiv wahrnahm, rief ich mir immer in Erinnerung, wenn durch äussere Gegebenheiten mir Zweifel auftraten. Auch in den dunkelsten Tagen schenkte es mir wieder die Kraft, den Weg zu erkennen und meine Last zu tragen.
Mein Gott, antworte mir, rief er flehentlich und horchte vergeblich. Einzig das Gefühl von Absplittern setzte sich fort.
Noch ein letztes Moment bemühte er sich um Klarheit, was da mit ihm geschah. In der Bulle Benedictus Deus wurde 1336 festgesetzt, dass diejenigen, die nicht im Stand der Gnade sterben, für immer in die Hölle kommen. Diese drastische Sichtweise wurde später zwar gnädig revidiert, aber vielleicht war doch etwas an dieser Interpretation, das Gültigkeit hat? Ich war immer ein guter Hirte, demütig einzig auf Dich ausgerichtet, auch wenn ich mein Pontifikat nicht wie erwartet ausübte. Mein Geist war willig, aber der Körper war schwach. Nun ja, ich fühlte mich nicht berufen, aber ich nahm die Aufgabe dennoch ernst. War es nicht Deine Gnade, die mir diesen Weg abkürzte, damit ein dominanter Papst das Werk weiterführe? Oder waren da andere Kräfte am Werk?
Mein Gott, ist es die Hölle oder das Nichts, was unterscheidet es?
Oder ist das Nichts, das ich als Paradies wähnte, die wirkliche Erlösung? Sprich mit mir …
Durch die aufhebende Körperbindung entschwebte eine Splitterwolke, sich zugleich unendlich teilend.