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- 04.08.2001
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Unerwarteter Besuch
Nur drei Worte vorweg. Sollte jemand meine Story "Ein Dorf in den Bergen" kennen, so sollte er sich davon lösen, denn obwohl beide Geschichten nahezu gleich beginnen, so sind sie doch völlig verschieden.
Unerwarteter Besuch
Der Friedhof des kleinen Dorfes lag ein wenig abseits, gut tausend Schritt den Berg hinauf, als würde man sich seiner schämen – oder sich fürchten vor ihm. Verwitterte Grabsteine ragten aus dem Boden wie faulige Zähne. Die Gräber waren zwar gepflegt, aber man sah ihnen an, dass niemand hier viel besaß. Mittellos war man hier, im Leben und im Tode ebenso.
Ein Gentleman, der ganz ohne Zweifel nicht hierher gehörte, wandelte durch die Reihen, als befände er sich in einem Park. Er schaute hierhin, mal dorthin und hatte an der kleinen, verwitterten Kapelle ebenso wenig Interesse, wie an dem frisch aufgeworfenen Hügel, bedeckt mit wenigen Blumen und Kränzen. Vielmehr schlenderte er weiter, ohne sie sonderlich zu beachten.
Sein schwarzer Trenchcoat blähte sich, als Wind aufkam. Es war früh am Morgen, der November schickte einen neuen, grauen Tag ins Rennen und es war bitterkalt. Doch das schien dem Fremden nichts auszumachen.
Plötzlich blieb er stehen und widmete seine ganze Aufmerksamkeit einem kleinen Grab. Ganz offensichtlich waren die Verwandten dieses Toten ungleich vermögender als die anderer Gräber hier. Der Stein war sauber und noch nicht alt, die Inschrift schnörkellos, aber doch kunstvoll. Die Ruhestätte lag etwas entfernt von den anderen, ärmlichen.
Es musste sich um ein Kindergrab handeln, denn die Einfassung hatte kleinere Maße als gewöhnlich.
Die knappen Worte auf dem Stein bedeuteten, dass hier tatsächlich die Leiche eines Kindes lag – ein Säugling - der, vor sechs Jahren gestorben, gerade zwei Tage alt geworden war.
Der Mann stand davor und hatte die Arme verschränkt. Er hielt die Augen geschlossen und murmelte unentwegt vor sich hin. Abrupt öffnete er die Augen und seinen Mund umspielte ein spöttisches Lächeln.
*
Ich ging durch das armselige Dorf und versuchte, auf dem notdürftigen Pflaster halbwegs würdevoll zu erscheinen. Der Tag war gerade angebrochen, und der November hier in den Bergen versprach rau zu werden, so dass sich der Mantel bezahlt machte, den ich mir übergeworfen hatte. Der Nebel strich in Fetzen übers Land, dann und wann durcheinander gewirbelt von einem eisigen Wind. Kurz, ein Wetter also, wie gemacht für Leute meines Schlages.
Das Klack-Klack meiner Stiefel auf den Steinen trieb trotz des frühen Morgens schon einige Neugierige an die Fenster. Gelbe fleckige Gardinen bewegten sich. Die Menschen hier waren frühes Aufstehen gewöhnt.
Die Häuser, an denen ich vorbeiging, machten einen schäbigen, bemitleidenswerten Eindruck. Niemand hier schien über die Mittel zu verfügen, seiner Kate ein einigermaßen wohnliches Aussehen geben zu können. Es war, als wäre Elend zum Lebensstil erhoben worden. Dieses Gefühl setzte sich den ganzen Weg hinunter durch die Ortschaft fort. Ich zeigte mich unbeeindruckt.
Ich war froh gewesen und überrascht, dass dieses Nest einen Bahnhof besaß. Nachdem sich der Zug schnaufend und dampfend entfernt hatte, konnte ich eine Vorstellung davon bekommen, was mich hier erwarten würde. Was die dürftige Bahnstation versprach, das konnte das Dorf in jedem Falle einlösen.
Ich ließ die Siedlung schließlich hinter mir und hielt auf das Anwesen zu, das ich in der Ferne, etwa zwei Meilen in der Höhe, erkennen konnte. Obwohl der Griff des Koffers schmerzhaft in die Handfläche schnitt, machte es mir nicht viel aus. Ich war gleich am Ziel.
Das Besitztum war das Gegenteil von der Ortschaft unten, in allen Belangen. Man sah von weitem schon, dass Geld hier keine Rolle spielte. Weitläufig, verspielt und mit viel Pflege war das Gut angelegt worden. Inmitten eines Parks lag die Villa, die diesen Namen kaum verdiente, denn es war eher ein Palast, mit Erkern und Türmchen – Verschnörkelungen jedweder Art.
Doch bevor man den Park auf einem schnurgeraden, breiten roten Weg betreten konnte, musste man ein riesiges, schmiedeeisernes Tor passieren, das eine wohl zweieinhalbe Meter hohe weiße Mauer verschloss, die zusätzlich auf der Krone mit Stacheldraht gesichert war.
Das Ganze machte den Eindruck, als sähe man ein Märchenland, innerhalb eines Albtraums aus Not und Elend, das man nicht erreichen konnte, weil es verriegelt war. Ich stellte meinen Koffer direkt vor das Tor ab und rieb mir die schmerzende Hand. Durch das schwarze Gitter konnte ich sehen, wie ein stattlicher Kerl in Livree den Weg vom Haupthaus auf mich zukam. Schon an seiner Statur konnte man erkennen, wofür dieser Mann hier angestellt war. Wenn ich nicht zugkräftige Argumente vorweisen konnte, würde ich an diesem Hünen nicht vorbeikommen.
„Was wünschen Sie?“ Seine Stimme war rau und der Slang der eines Underdogs.
Ich hörte ein leises Geräusch von oben und in den Augenwinkeln sah ich die Kamera, die mich eben erfasst hatte.
„Ich möchte zu Haake Dreenstedt“, sagte ich, ohne große Hoffnung. Für den Riesen auf der anderen Seite des Tores war es ein oft wiederholtes Ritual, den Besucher brüsk abzuweisen.
„Haben Sie einen Termin“, fragte er barsch.
Angesichts der frühen Stunde war es aussichtslos, eine Lüge zu versuchen. Natürlich hatte ich keinen Termin, ich hatte den ersten Zug in dieses gottverlassene Kaff genommen, um möglichst früh hier zu sein.
„Er wird mich sehen wollen“, gab ich zurück.
Als der Andere zu einer überheblichen abweisenden Geste ansetzen wollte, hielt er plötzlich in der Bewegung inne. Er führte eine Hand zum rechten Ohr und lauschte angestrengt. Sein Gesichtsausdruck entspannte sich und sein riesiger Körper schien Luft abzulassen. Dann stand er nur da und schaute mich dämlich an.
Er machte keine Anstalten, das Tor zu öffnen, noch sich weiter mit mir zu unterhalten. Es war, als hätte man einen Schalter umgelegt und ihn damit ausgeschalten.
„He, Freundchen“, versuchte ich es noch mal. „Was ist los? Keinen Bock mehr?“
Doch der Gorilla zeigte sich unbeeindruckt. Ohne die Miene zu verziehen, stand er auf der anderen Seite des Gitters, die Arme auf dem Rücken verschränkt, wie ein Wachposten, unten am Tower.
Und dann kam wieder Bewegung in die Szenerie. Ein Mann kam gelaufen. Er kam die lange Treppe des Hauses hinunter und lief dann den Weg entlang, einziger sich bewegender Punkt im gesamten Bild. Er hatte einen seidenen Morgenmantel über einen Pyjama geworfen, und je näher er kam, desto deutlicher konnte man erkennen, dass er ganz gewöhnliche Hausschuhe an den Füßen trug, statt vernünftiges Schuhwerk.
Er kam auf uns zu und als er atemlos bei uns angelangt war, bedeutet er dem Wachposten mit einer knappen Geste, dass er sich zu entfernen hatte. Dann musterte er mich ungeniert.
Er war schon jenseits der Vierzig. Seine braungebrannte Haut spannte sich über den Wangenknochen und die Tränensäcke unter den Augen waren noch ein wenig größer geworden. Alles in allem war er nur etwas fetter geworden in den vergangenen sechs Jahren. Derselbe lächerliche Schnauzer, ebensolche fettigen, tiefdunklen Haare wie damals und auch seine Haltung hatte sich nicht verändert – ebenso herablassend und von sich eingenommen, stand er vor mir.
Erkennen glitzerte in seinen Augen, die Mundwinkel verzogen sich nach oben und er musste grinsen.
„Yago?“ Er formulierte es zuerst als Frage. „Bist du es wirklich?“ Er machte einen Schritt zurück, als könne er mich nur so vollständig erfassen. Dann kam er wieder auf mich zu, als wolle er mich umarmen, doch im letzten Moment besann er sich eines Besseren. Das Gatter war zwischen uns.
„Yago, du bist es tatsächlich, nicht wahr?“
Jetzt nickte ich und er glaubte es endlich. Er lachte, und aufgeregt und flatterhaft gab er eine Zahlenkombination in ein kleines Feld neben dem Tor ein. Das Gitter setzte sich rasselnd in Bewegung und schob sich träge in die Mauer hinein. Mein Gegenüber konnte kaum erwarten, dass sich die Sperre beiseite rollte. Als die Lücke breit genug war, stürzte er zu mir.
„Yago, mein Bruder“, brachte er mit tränenerstickter Stimme hervor und umarmte mich.
Das Esszimmer des Hauses war in Wahrheit eher eine Essecke. Abgeteilt von der riesigen Wohnküche durch ein Wand auf der einen und auf der anderen Seite durch ein Regal, in das eine Durchreiche eingelassen war.
Trotz der Abgeschiedenheit war die Einrichtung auch hier edel und nur vom Allerfeinsten. Der Tisch war schwer und klobig, die sechs Stühle darum dazu passend. Aber an den Wänden hingen Nippes, kitschige Teller und ähnliche Scheußlichkeiten, die von einer gewissen Stillosigkeit und einem zur Schau gestellten Mitteilungsbedürfnis zeugten.
Die Hausherrin saß am gedeckten Frühstückstisch in einem bequemen Lehnsessel. Der Grund dafür war sofort ersichtlich, sie war hochschwanger. Nach ihrem körperlichen Zustand zu urteilen, hatte sie nicht mehr lange, der Termin musste in den nächsten Tagen sein.
Sie wollte sich aus dem Möbel hieven und mir entgegenkommen, als sie mich sah. Doch ich winkte sofort ab und ging schnell auf sie zu. Ich murmelte ein „Bleiben Sie doch bitte sitzen!“ und ergriff ihre Hand, als sie schwerfällig zurückplumpste.
Sie lächelte mich an und sagte: „Sie sind es wirklich! Noch nie standen wir uns gegenüber, aber ich habe Sie sofort erkannt, allein aus den Erzählungen Ihres Bruders. Sie sind uns hier jederzeit herzlich willkommen.“
Ihre Stimme, ihre Haltung und die Gesten deuteten auf eine starke Frau mit einem weiten Herzen. Man sah aber auch, dass sie viel gelitten hatte im Leben, dunkle Schatten lagen unter ihren Augen und dadurch bekamen sie einen melancholischen Ausdruck und straften das Lächeln ihres Mundes Lügen.
„Das ist Eleonore, meine Frau. Das ist mein Bruder Yago.“
Mit seinem Seidenmantel und den samtenen Hausschuhen war Haake endlich zu uns gekommen und hatte uns einander vorgestellt. Er war noch immer aufgeregt und vermochte nicht still sitzen zu bleiben. Er sprang immer wieder auf, kam zu mir, der ich auf der anderen Seite des Tisches Platz genommen hatte, herüber und musste mich anfassen, wie um sich zu vergewissern, dass ich echt war.
Er ließ von einer Bediensteten ein weiteres Gedeck auftragen, und so bekam ich die erste vernünftige Mahlzeit an diesem Tage, die nebenbei eine sehr üppige und reichhaltige war.
„Wir dachten, du wärst tot, Yago!“ begann Haake, nachdem er ein letztes Ei gegessen hatte. „Niemand hat überlebt bei dem Schiffsunglück damals. Wir waren so voller Trauer, als die Reederei uns die Nachricht überbrachte. Keine Überlebenden, hoffnungslos. Wir konnten es nicht glauben. Wie hast du es geschafft, davonzukommen und all die langen Jahre als tot zu gelten?“
Ich kaute an einem Toast, der Honig war ausgezeichnet. Als ich zur Antwort ansetzte, klapperte es plötzlich im Hintergrund, durch eine Tür trat eine derbe Person in einer schmutzigen Jacke, Breeches und Stiefeln, überdies mit einer fleckigen Mütze auf dem Kopf. Offenbar der Stallbursche, und er hatte wichtige Nachricht.
„Der Schwarze ist ausgebrochen, Herr“, sagte er mit dunkler, sanfter Stimme. Haake sprang auf und war noch aufgeregter als vorher.
„Entschuldigt mich bitte“, brummte er und hastete davon.
Zurück blieben Eleonore und ich. Die hübsche, melancholische schwangere Eleonore. Sie saß in ihrem Sessel und lächelte mich entschuldigend an.
„Es tut mir leid“, meinte sie. „Er ist in der letzten Zeit ziemlich flatterhaft und nervös.“
„Das kann ich gut verstehen“, erwiderte ich mit einem Blick auf ihren runden Bauch. „Wer wäre das nicht? Ich würde höchstwahrscheinlich ebenso reagieren.“
Ich nahm mir noch einen Toast und bestrich ihn mit dem köstlichen Honig. Bei süßen Sachen kann ich einfach nicht widerstehen.
„Oh, ich fürchte, er übertreibt ein wenig.“ Ihr Lächeln, als sie das sagte, war hübsch anzusehen. „Er hat sich in den letzten Wochen überhaupt nicht mehr im Griff, er ist unstet und aufbrausend, wir haben uns mehr als einmal gestritten in der Vergangenheit. Ich denke, er ist nur ängstlich wegen dem Kind.“ Sie strich über ihren Bauch.
„Wann ist es soweit?“
„Oh“, sie lachte. „Heute. Heute habe ich Termin. Was für ein Zufall, nicht? Just an dem Tag, den dem ich entbinden soll, besuchen Sie uns. Das ist wohl Vorsehung.
Damals, als Sie Ihren Unfall hatten, da kannten Haake und ich uns kaum einen Monat. Er wollte mich Ihnen vorstellen, sobald Sie im Lande wären. Doch das ging nicht mehr. Er war sehr erschüttert damals, ich hatte Angst, er tut sich etwas an. Doch dann hatten wir in finanziellen Dingen sehr oft Glück, das konnte uns zwar den Schmerz nicht nehmen, aber wir hatten keine Sorgen, zu überleben.“
„Ich habe schon gesehen, dass es Ihnen außerordentlich gut zu gehen scheint. Wir kommen aus einer armen Familie. Darf ich fragen, wie Haake zu soviel Geld gekommen ist?“
„Mein lieber Schwager“; sagte sie, während sie mühsam aufstand und einen kleinen Knopf an der Wand drückte. „Ein ganz klein wenig Finanzmittel brachte ich mit in unsere Ehe. Das muss Haake gewinnbringend angelegt haben, wahrscheinlich sehr gewinnbringend“, setzte sie hinzu. „Ich weiß nicht im Einzelnen, woher sich unser Vermögen zusammensetzt, aber im guten Ordinären würde man sagen, er ist Spekulant, er handelt mit Dingen, die andere benötigen.“ Sie lächelte noch einmal kurz und bevor sie das Zimmer verließ sagte sie: „Ich werde mich jetzt zurückziehen und auf meine Wehen warten. Essen Sie, soviel Sie mögen, das Personal wird danach abräumen. Es wird auch jemand kommen, und Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Das Gepäck ist schon oben. Wir sehen uns dann zum Mittag.“
So wie sie sich hinausschleppte, ging es ihr gar nicht gut. Wenn ihr Termin am heutigen Tag war, dann kam ich ja gerade richtig, wunderbares Timing.
Ich ließ mir das Zimmer zeigen, das – wie konnte es anders sein – üppig ausgestattet und geradezu riesig war, packte meinen Koffer aus und legte mich ein wenig hin. Ich fühlte mich erschöpft.
Der Hausherr wurde bis zum Abendessen nicht gesehen, er hatte wohl ausgiebig mit seinen Pferden zu tun. Wie ich hörte war der Rappe aus dem Stall ausgebrochen und hatte sich auf dem Gelände herumgetrieben. Dabei erfuhr ich, dass der Privatbesitz von Haake Dreenstedt einige Dutzend Hektar Land umfasste, das samt und sonders mit einem 2,5m hohen Zaun eingefasst war und somit nur über das Haupttor und zwei kleineren Nebentoren verlassen oder betreten werden konnte. Ein geradezu panisch gesteigertes Sicherheitsbedürfnis hatte der Mann.
Ich unternahm am Nachmittag einen kleinen Spaziergang über das Gut. Die Luft war kalt, aber es hatte sich aufgeklärt, so dass die Sicht ziemlich günstig war.
Geschickt hatte man eine Ebene genutzt, die sich hier in den Bergen natürlich gebildet hatte, um ein Anwesen von herrschaftlicher Größe zu schaffen. Umgeben von Hügeln und Felsen gab es neben dem Haupthaus, das in seiner Größe allein schon erdrückend war, zwei Nebengebäude, die sich jeweils links und rechts daran schmiegten. Etwas abseits lagen die Stallungen, und hinter dem Hauptgebäude schloss sich direkt ein weitangelegter Park an.
Schöne Immobilie, dachte ich bei mir, als ich die peinlich genau gezogenen Wege entlang schlenderte. Da kamen mir auch Haake und sein Angestellter zu Pferde entgegen. Am Zügel hinter sich her führten sie einen prächtigen schwarzen Rappen, der vor lauter Stolz kaum laufen konnte.
„Tut mir leid, Yago“, rief mir Haake vom Pferd herab. „Wir reden später miteinander.“
Ich winkte ihm zu, als er weiterritt.
Zum Abendessen war er dann allerdings nicht viel gesprächiger, er kümmerte sich fast ausschließlich um seine Frau, was unter den Umständen verständlich war. Offenbar ging es ihr nicht gut, und die beiden diskutierten leise miteinander, ob sie einen Arzt kommen lassen sollten oder nicht.
Ich schützte daher Müdigkeit vor und zog mich frühzeitig in mein Zimmer zurück
In der Nacht, als alles schlief, ging ich auf Jagd.
Ich strömte durch das kleine Dorf und überflutete es mit meiner Präsenz. Ich verbreitete Furcht und Albträume, meine Spiele beherrschten den Schlaf der Bewohner. Ein Raunen ging durch den Ort, ein Zittern, als läge er im Fieber.
Eine Bäuerin gefiel mir, nicht mehr ganz jung, aber drall und voller Leben. Ich nahm sie mir und riss Fleisch aus ihrem Leib. Dieses viehische Tun erfüllte mich mit Wollust und ich wollte mehr.
Mit bluttriefenden Lefzen und besudelten Händen verlangte ich alles von ihr. Doch sie verweigerte sich, sie wollte mir ihr Bestes nicht geben, sosehr ich auch flehte, wie sehr ich sie bat, wie ich auch drohte, sie verschloss sich mir und verschied.
Unbefriedigt kehrte ich in mein Domizil zurück.
Der Park hinter dem Haupthaus wurde beherrscht von einer Allee, die ruhig und ausladend, gesäumt von kahlen Akazien lag. Ich machte am frühen Morgen einen Spaziergang und erholte mich.
Auch wenn es mir niemand zutraut, ich liebe die Stille der Atmosphäre eines Novembermorgens, die Nebel ziehen noch und die Krähen sind unterwegs. Ich hing meinen Gedanken nach, während ich ging.
Irgendwann gesellte sich Haake zu mir. Er sah übernächtigt aus, anscheinend hatte er kaum ein Auge zugetan.
„Wie hast du geschlafen“, fragte er mich. Dabei machte er nicht den Eindruck, als interessiere ihn das sonderlich. Er hatte mit sich selbst zu tun.
„Ach, weißt du“, antwortete ich lächelnd. „Die Nächte auf dem Land empfand ich schon immer als sehr erholsam. Wie geht es deiner Frau?“
„Unverändert. Auch wenn sie dagegen ist, werde ich heute unserem Hausarzt Bescheid geben, dass er rauskommt und ständig in unserer Nähe ist.“ Dann fügte er hinzu: „Ich habe Angst um das Kind. Und um meine Frau.“
„Das ist ganz normal“, beruhigte ich ihn. „Jeder in deiner Situation würde so reagieren.“
Die Ruhe hier war überwältigend. Die paar Rabenvögel, die ab und zu aufflatterten, unterstrichen mit ihrem Gekrächze die Stille nur.
„Hast du Kinder“, fragte er mich leise.
„Keine“, erwiderte ich. „Auch keine Frau.“
„Was ist aus dem Mädchen geworden, mit dem du auf dem Schiff warst? Du warst doch mit ihr zusammen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Sie ist umgekommen.“
Er schluchzte auf. „Es tut mir leid! So leid!“
Ich versuchte ihn zu beruhigen. „Aber Haake. Du kannst doch nun wirklich nichts dafür. Dich trifft keine Schuld.“ Dabei blickte ich ihn intensiv an.
Nachdem wir gefrühstückt hatten – Eleonore war auf ihrem Zimmer geblieben -, gab Haake Anweisung den Arzt zu verständigen. Er trug der Bediensteten auf, gleich ein Zimmer herzurichten, weil er einige Tage bleiben würde.
Mich wunderte die Entschlossenheit, mit der er dies vortrug. Er schien gar nicht auf den Gedanken zu kommen, dass der Arzt nicht bleiben wollte. Für ihn war klar, dass er sich ausschließlich um seine Frau zu kümmern hatte.
Nachdem er noch einige Anweisungen gegeben hatte, gab er mir eine kleine Privatführung durch sein Anwesen.
Es war offensichtlich, dass er stolz war auf das was er geleistet hatte. Er hatte viel geschaffen für sich und seine Frau, und ich schien einer der wenigen zu sein, die es würdigen konnten.
Seine größte Freude allerdings war die Bibliothek. Der Raum war im Hauptgebäude untergebracht und glich mit seiner riesigen Kuppel aus Glas eher einer Kathedrale. Selbst jetzt, im trüben Herbst, fiel soviel Tageslicht in die Halle, dass ausnahmslos jeder Winkel beleuchtet war. Auf jedem Buch, auf jedem wertvollen Gemälde lag der Tagesschimmer.
Hohe Regale, überfüllt mit Büchern jeder Größe, standen an den Wänden, die nur den Teil der Tür aussparten.
Das einzige Möbel, das darüber hinaus in diesem Raum stand, war ein großer Lesepult, der sich in der Mitte befand.
„Wie konntest du dir dies alles hier nur leisten?“ fragte ich fassungslos.
„Oh.“ Er tat bescheiden. „Ich habe Glück gehabt.“
„Glück“, fragte ich ihn. „Mit Glück kann man so etwas schaffen? Meiner Meinung nach braucht es dafür eine Menge Arbeit und man muss vielen Menschen weh tun. Ich kenne viele Leute, denen dieses Glück versagt geblieben ist. Es lebt sich.“
Ich konnte erkennen, dass ihm bei diesem Thema nicht recht wohl war. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn, er wirkte fahrig und er nestelte an einem schweren Buch herum, das auf dem Pult lag. Ich sah den Titel des Buches – die Bibel in einer alten Ausgabe.
Ich trat einige Schritte zurück und tat eine ausladende Bewegung. „Bist du unglücklich, wenn dir dies hier nicht gehört? Ich meine, versteh mich richtig! Ich bin der Letzte, der das nicht nachvollziehen kann.“ Ich musste grinsen. „Aber wenn du diese Sachen hier nicht besitzt, bist du dann weniger wert?“
Er schaute mich starr an, und es brauchte eine Zeit, ehe er antwortete.
„Ich habe viel dafür gegeben, so leben zu können. Die Entbehrungen, die ich erleiden musste, waren nicht nur körperlicher Art. Ich litt Qualen und das nicht nur einige Tage. Es gab Zeiten, da fragte ich mich, ob alles, was ich tat überhaupt noch lohne. Ich verzweifelte, ich verlor den Mut und ich suchte vergeblich nach dem Sinn des Ganzen. Aber jetzt, wo es geschafft ist, da bin ich stolz auf all das hier. Ich genieße den Luxus, den ich mir leisten kann, und ich leiste ihn mir. Ich habe Freude daran und ich werde mir diese Freude nicht nehmen lassen.“
„Würdest du alles noch einmal so machen, wenn du die Wahl hättest?“
Die Frage irritierte ihn, doch nach Zögern antwortete er: „Ich glaube ja.“
Am Nachmittag kam der Arzt, ein kleiner dicklicher, geschäftsmäßig gelangweilter Glatzkopf, der allerdings nicht unsympathisch war. Man sah ihm an, dass er den Rummel um Eleonore gelassen hinnahm. Er spulte sein Programm herunter und war zufrieden, wenn Haake es war.
Wir saßen beim Kaffee, Haake war bei Eleonore, die sich zurückgezogen hatte, als er mich fragte: „Und Sie sind der Bruder von diesem Nervenbündel hier?“
Ich machte eine zustimmende Bewegung, weil ich im Moment mit einem Keks beschäftigt war.
„Ich kenne Haake schon ziemlich lange, müssen Sie wissen.“ Er öffnete den obersten Knopf seines Hemdes, ihm wurde wohl allmählich warm. Er war im Allgemeinen ein gemütlicher Mensch.
„Haake kam in unser Dorf, das muss kurz nach Ihrem...“ Er stockte. „Er war vollkommen niedergeschlagen. Er sprach damals viel von Ihnen, und schien sich eine gewisse Schuld zu geben an Ihrem Unfall. Aber er brachte eine Menge Geld mit hierher und eine schöne Frau.“
„Wissen Sie, woher das Geld stammt?“
„Wir haben darüber nie gesprochen, zumindest nicht offen. Es geht mich als Hausarzt auch kein bisschen an, doch man macht sich natürlich schon seine Gedanken. All der Luxus, der Pomp, irgend woher muss der Reichtum kommen. Ich glaube, er hat eine Zeitlang ziemlich Glück gehabt im Spekulationsgeschäft.“
Es waren fast dieselben Worte, die auch Haake gewählt hatte.
„Ich finde es ziemlich ungewöhnlich, in solch einer Gegend einen solchen Palast aufzubauen“, merkte ich an.
„In der Tat.“ Er kaute an einem Keks. „Ich würde ebenfalls meine Probleme haben mit diesem Standort. Aber es scheint mir damals, vor knapp zehn Jahren, auch zum Gutteil eine Flucht gewesen zu sein, als Haake mit seiner jungen Frau hierher kam. Vor irgendetwas ist er davongelaufen, so hatte ich den Eindruck.“
„Wovor? Was könnte das gewesen sein?“
„Die Schuld!“ Er war erstaunt, dass ich mir das nicht denken konnte. „Die Schuld, die er sich selbst gab an Ihrem Unfall. Wie haben Sie ihn überlebt? Kein Mensch hier glaubte an Ihre Rückkehr.“
„Ich kann gut schwimmen, Herr Doktor.“ Ich lächelte und irgendetwas ließ den Arzt für einen Moment zusammenzucken.
„Und Sie haben nicht daran gedacht, sich einmal zu melden?“
„Ich habe mich doch gemeldet. Jetzt.“
„Ja, das ist richtig.“ Er wischte sich über den Mund. „Nach über zehn Jahren. Sie hätten das Leiden einiger Menschen abkürzen können.“
„Na, ich weiß nicht recht. Vielleicht hätte ich es auch verstärkt. Doktor, ich hatte mich von einigen herben Schicksalsschlägen zu erholen. Das brauchte seine Zeit.“
Der gute Doktor erhob sich ächzend aus seinem Stuhl. „Wie dem auch sei“, bemerkte er abschließend. „Schön, dass Sie doch noch den Weg hierher gefunden haben. Ich muss hinunter ins Dorf. Dort unten geht Seltsames vor. Eine Bäuerin ist seit letzter Nacht verschwunden, und ihr Mann behauptet, es sei ein Wind gewesen, der durch das Dorf gestürmt ist und seine Frau mitriss. Ich bin in jedem Falle die Nacht wieder hier. Ich will nicht, dass Haake sich zu sehr sorgt um seine Frau.“
Er verließ schlurfend das Zimmer und ich stand auf und trat ans Fenster.
Ich konnte Eleonore unten sehen, wie sie von Haake untergearmt die Allee entlang schlenderte. Der Arzt kam hinzu und sie unterhielten sich kurz. Ich musste unter anderem ihr Thema sein, denn der Doktor blickte kurz herauf, als er intensiv sprach.
Haake schüttelte den Kopf.
Eleonore entband nicht, sie ließ sich Zeit. Was nicht ungewöhnlich war oder gar gefährlich, aber Haake lief aufgelöst und ohne Ruhe durch sämtliche Räume des Hauses und reagierte überaus gereizt, wenn man versuchte, ihn zu beruhigen. Selbst seinen Sicherheitsfimmel schien er für kurze Zeit vergessen zu haben, denn als er von einem Gang ins Dorf zurückkehrte, hatte er wohl vergessen, das Haupttor zu schließen, und löste dadurch nach einer geraumen Zeit einen Höllenalarm aus, auf den er allerdings sehr gelassen reagierte. „Wir sind nicht in Gefahr“, murmelte er mehr zu sich selbst. „Und auch noch nicht jetzt.“
In der Nacht suchte ich mir ein weiteres Opfer. Aber nicht hier, sondern Kontinente entfernt. Denn wenn noch eine Person vermisst würde, hätte es mir gefährlich werden können, obwohl mir nichts gefährlich werden kann in dieser Welt.
Als ich am nächsten Tag die Allee entlang spazierte, kam mir mit demselben Rappen wie vor zwei Tagen, der Bursche entgegen. Offensichtlich war der Gaul schon wieder geflohen.
„Ein sehr freiheitsliebendes Pferd“, rief ich ihm zu, während ich den Finger zum Gruß an die Mütze legte.
Er stoppte und bekam den Zossen mit Mühe gebremst.
„Das nun gerade nicht, Herr“, antwortete er artig. „Er ist sonst ganz ruhig. Die letzten Tage erst verhält er sich so aufmüpfig und scheu. Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist.“
„Vielleicht überträgt sich die Anspannung seines Herrn auf ihn?“
„I wo!“ Das Pferd tänzelte unruhig und zerrte am Halfter. „Er lässt sich von so etwas absolut nicht beeindrucken. Er ist sonst die Ruhe in Person. Aber jetzt...Ich bin völlig ratlos.“
Es wurde mit dem Rappen so schlimm, dass der Bursche ihn davonführen musste. Es war tatsächlich ein sehr eigenwilliges Tier.
Eleonores Bauch hatte stattliche Ausmaße angenommen, und wenn Haake nicht gerade unruhig um sie herumstrich, war sie auch mal imstande entspannt zu lächeln. Der Doktor hatte sie gerade untersucht und so war Haake einigermaßen beruhigt an die Papiere gegangen, die sich schon seit Tagen auf seinem Schreibtisch stapelten, wie er uns versicherte.
„Nun“, fragte sie, als sie auf den Diwan geglitten war. „Wie haben Sie sich hier eingelebt? Werden wir Sie für länger als Gast bei uns haben dürfen?“
„Das wohl eher nicht“, antwortete ich. „Ich glaube, ich werde in den nächsten Tagen wieder abreisen.“
„In den nächsten Tagen schon?“ Ihr Schrecken war echt. Sie war süß, wie sie verblüfft hochschaute. So süß, dass ich sie mir hätte nehmen wollen. „Sie sind doch gerade einmal hier. So vieles noch, was Sie sehen müssen, wir haben Ihnen noch lang nicht alles gezeigt. Wir hatten auch gar keine Zeit, uns richtig um Sie zu kümmern. Ich nicht, wegen meines Zustandes. Und Haake schon gar nicht. Er ist nicht er selbst in dieser Zeit.“
„Ja, warum ist er so aufgelöst? Man sollte meinen, er könnte es gelassener sehen, wo doch für Ihre Gesundheit alles getan ist.“
Sie wandte den Kopf ab. Während sie zu sprechen begann, schaute sie auf den Boden. „Dies ist nicht meine erste Schwangerschaft, müssen Sie wissen. Fast vor genau sechs Jahren wurde uns ein Sohn geschenkt. Er wurde uns geschenkt und dann, zwei Tage nach seiner Geburt, wurde er uns wieder genommen. Er starb, lag tot am Morgen in seinem Kinderbettchen.“
„Plötzlicher Kindstod?“ Es war keine Frage, eine Feststellung.
„Woher wissen Sie?“ Sie schien ehrlich verblüfft, ihre Augen wurden ganz groß und dunkel. Sie wusste genau! Sie wusste so viel mehr als ihr Mann, doch sie wollte es nicht wahrhaben. In ihrem Inneren erkannte sie die Zusammenhänge, obwohl ihr sie nie jemand erklärt hatte. Und sie hatte maßlose Angst vor der Wahrheit, gehetzte, panische Angst. Und das machte sie so unwiderstehlich für mich, so süß.
„Natürlich“, meinte sie dann. „Das ist immer die Erklärung für das nicht Erklärbare. Es war leicht zu erraten. Jedenfalls machten wir beide damals eine schwere Zeit durch. Und ich glaube deshalb ist er so darauf versessen, dass alles klappt bei der Geburt. Und vor allem danach. Wir haben auch die beste Hebamme organisiert, die man für Geld bekommen kann.“
„Hat er deshalb diesen Sicherheitsfimmel?“
„Ich weiß nicht, ob der Grund dafür die Angst um sein Kind ist. Ich weiß aber, dass dieser Fimmel, wie Sie es nennen, umso stärker wird, desto näher der Entbindungstermin rückt.“
„Wovor, denken Sie, hat er Angst?“
Sie versuchte, durch eine Bewegung, eine angenehmere Stellung zu erreichen; sie stöhnte leise auf.
„Ich glaube nicht, dass er sich vor etwas Bestimmtem fürchtet. Ich denke, er sorgt sich nur um sein Kind. Und diese Sorge lässt ihn ein wenig übertrieben reagieren.“
„Gibt es denn etwas, wovor er sich fürchten müsste?“
„Aber bitte! Vor dem plötzlichen Kindstod kann man sich nicht schützen. Er kommt sozusagen über einen.“
„Sie glauben nicht daran, dass Ihr Kind dadurch umgekommen ist?“
Sie schwieg . Ich konnte erkennen, dass sie mit der Versuchung rang, aufzustehen und hinauszugehen. Sie biss sich auf die Unterlippe und kämpfte um Fassung.
„Ich habe mein Kind verloren. Durch irgendeine Macht wurde mir mein Sohn genommen.“ Jetzt blickte sie mir direkt in die Augen. „Ich habe damit weiß Gott noch nicht abgeschlossen, aber ein anderes Kapitel ist aufgeschlagen und ich will ein gesundes Kind zur Welt bringen. Und ich hoffe, bei Gott um den Einsatz meiner Seele hoffe ich inständig, dass mir dieses Kind nicht auch genommen wird.“
Ich horchte auf. Doch Eleonore Dreenstedt, die starke, mutige Eleonore erhob sich mühsam und ging stolz aus dem Raum.
Als es dann losging, stellte Haake mich gerade zur Rede.
„Ich habe die Reederei angerufen, die Eigentümer des Schiffes, mit dem du verunglückt bist.“
Ich wusste, was jetzt kommen würde. Hatte ich einen Einfluss darauf gehabt? Vielleicht auf den Zeitpunkt, wann er es herausfinden würde, aber nicht auf den Fakt selber. Draußen hatte es angefangen zu schneien. Eine dünne Decke lag über allem, weiß und unschuldig, wie eine Kinderseele.
Ich nickte Haake zu.
„Niemand hat sich bei ihnen gemeldet, wegen einer Entschädigung“, fuhr er fort. „Und das ist normalerweise das Erste, wonach die Leute verlangen, sagen sie.“
Er blickte mich abwartend an; erwartete er wirklich eine Antwort?
„Du hast dich also gar nicht als Überlebender gemeldet bei der Reederei. Das wäre sehr ungewöhnlich, sagt man dort. Doch damit nicht genug. Sie sagen, niemand“ – hier machte er eine Pause und starrte mich lauernd an – „niemand, verstehst du, kann dieses Unglück überlebt haben. Null Prozent, keine Chance, da sind sie sich ganz sicher.“
Wir standen uns gegenüber wie zwei lauernde Boxer, wie zwei Ringkämpfer, die auf den Fehler des Anderen warteten. Ich sah, wie sein linkes Auge vor Anspannung flatterte, er knackte mit den Fingern.
Da, ein spitzer Schrei aus den Tiefen des Gebäudes. Haake sprang herum und sah in die Richtung, aus der er gekommen war. Gleich darauf hetzte der Doktor vorbei, mit seiner Instrumententasche unter dem Arm und rief uns zu: „Es geht los, schnell, keine Zeit verlieren!“
Als ihm Haake hinterher rannte, drehte er sich noch einmal kurz zu mir um und rief: „Benachrichtige die Hebamme! Die Telefonnummer findest du auf meinem Schreibtisch.“
Kein Wort mehr von der vorherigen Sache. Er hatte nichts begriffen.
Die Geburt war eine Routinesache. Der Doktor und die Hebamme brachten das Kind zur Welt, wie sie vorher schon vielen anderen auf die Erde verholfen hatten. Haake war mit im Zimmer, aber ich bezweifele, dass er eine große Hilfe war.
Als der Arzt die Nabelschnur trennte, durchfuhr mich ein wohliger Schauer. Ich bekam genau mit, ab wann der Junge selbst atmete, den Zeitpunkt, ab dem er allein war.
Ich saß im Nachbarraum und rauchte.
Unmittelbar nach der Geburt herrschte totale Hektik im Hause. Jeder meinte, herumlaufen und irgendetwas besorgen zu müssen. Niemand beachtete mich in dem allgemeinen Gewusel.
Ich hockte noch immer da und rauchte und beobachtete die Hin- und Herlaufenden. Ich konnte nichts tun.
Als die Hebamme wieder gefahren war, als der Doktor seine Instrumente gewaschen und verpackt hatte und als Eleonore erschöpft und glücklich in einen leichten Schlummer gefallen war, da senkte sich so etwas wie Ruhe über das Anwesen.
Es war weit nach Mitternacht, als ich Haake im Rauchzimmer fand, wo er in einem schweren Ledersessel saß, Cognac trank und zufrieden eine Zigarre rauchte.
Ich setzte mich neben ihn und klopfte ihm auf die Schulter.
„Es ist geschafft“, sagte er erleichtert.
„Ja“, stimmte ich zu. „Das ist es. Bist du glücklich?“
„Oh ja!“ Er strahlte. Doch in seinem Gesicht erschien gleichzeitig ein Ausdruck von leichter Besorgnis, ein Anflug von Bestürzung machte sich breit. Er schien sich in den hintersten, schäbigsten Windungen seines Gehirns endlich daran zu erinnern, worum es hier ging.
Er war betrunken.
Ich ließ ihn noch ein wenig nachdenken. Er starrte in mein Gesicht und versuchte die kleinste Regung darin wahrzunehmen. Doch meine Maske war versteinert; was ich in langen Zeiten gelernt hatte, bewährte sich nun, ich blickte reglos zurück.
Auf seiner Stirn erschienen einzelne Falten, er hatte Verdacht geschöpft, das Leben, war jetzt nicht mehr so rosig, wie noch vor einer Minute. Er spürte den Ernst, den diese Situation für ihn bedeutete. Und er ahnte, dass dies hier alles für mich zu dem Spiel gehörte, das ich spielte und das mich prächtig amüsierte, jetzt und schon die ganze Zeit, seit ich hier war.
Ich freute mich auf das, was kommen musste. Ich war gespannt, jeder winzige Teil meines Körpers vibrierte vor Aufregung und in Fieber auf die kommenden Dinge. Alles, alles wonach ich strebte, meine Existenz, der Grund meines Daseins – lag in diesem Haus.
Haake war noch immer ungläubig.
„Du willst nicht wahrhaben, was dein Innerstes schon akzeptiert hat“. Ich gab mir jetzt keine Mühe mehr, meine Stimme zu verstellen, niemand konnte uns hören.
„Ich bin es“, sagte ich, während ich meine Verkleidung ablegte. Ich zog alles Überflüssige aus und schälte mich aus der Hülle, die mir Maske gewesen war. Schließlich zeigte ich mich ihm so, wie ich erschaffen war. „Erkennst du mich?“
Ich konnte die Umrisse meiner riesigen Gestalt auf dem Glanz seiner schreckgeweiteten Augen erkennen, Ich sah den Widerschein meines Glühens auf seinem Gesicht. Er blickte zu mir auf und war stumm.
„Weißt du, wer ich bin?“ fragte ich noch einmal, und ein Zittern durchlief seinen Körper. „Ich bin dein Partner, dein Kompagnon, der dir gegenübersaß und mit dem du gefeilscht hast. Und ich bin hier, weil wir es so vereinbart hatten.“
Er ließ mich nicht aus seinem Blick. Mit einer beiläufigen Bewegung stellte er sein Glas auf den kleinen Tisch neben sich und legte die Zigarre im Aschenbecher ab. Er schien zu ahnen, worauf es hinauslief, nicht nur Erkennen lag in seiner Miene, Lauern, Abwarten waren darin. Recht so, mein Freund, dachte ich. Lass dir die Hoffnung nicht nehmen, suche nach einem Ausweg. Das macht die Sache viel lustiger.
„Bist du es wirklich?“ Und er machte viel abhängig von meiner Antwort.
Mein Lodern ließ seine Gestalt einen flackernden Schatten an die Wand werfen.
„Du kennst mich“, gab ich zurück. „Du hast mich die ganze Zeit erwartet. Glaubst du vielleicht, diese lächerlichen Mauern hätten mich auch nur eine Sekunde abhalten können, zu dir zu gelangen? Dieser dämliche Sicherheitsfimmel.
Ich war mit Jesus bei den Essenern in Qumran. Er war übrigens der Einzige, der mir widerstand, zu dieser Zeit und danach, in seinen Wanderjahren sowieso; er kam sich damals schon wie ein Heiliger vor. Äh...“ – ich machte eine wegwerfende Bewegung und setzte etwas auf, das er als Grinsen werten würde – „niemand, hörst du, niemand sonst war stärker als ich. Ich kriegte sie alle, die sogenannten Jünger von Jesus, Thomas von Aquin in seiner schwersten Stunde, Martin Luther ohnehin. Doch höre, du Wicht! Zu den anderen musste ich kommen, doch du, mein Freund, du hast mich gerufen.“
Das Zimmer füllte sich mit ohrenbetäubendem Gesumme, Milliarden meiner treuen Gefährten und Diener waren gekommen, um mir beizustehen. Ein für den Menschen bestialischer Gestank breitete sich aus, und er musste würgen.
Schwärme von Fliegen durchzogen das Zimmer, die Luft war dunkel. In jedem Winkel des Raumes schwarze, giftige Wolken.
Die Fliegen setzten sich in jede Körperöffnung des Menschen – seine Augen, seinen Mund, seine Ohren. Er sank nieder auf die Knie und hustete. Er wollte sich übergeben.
Doch bevor das geschah, befahl ich meinen Untertanen, sich zurückzuziehen und im Nu war der Raum frei vom schwarzen Geschwärm und die Luft war für den Menschen atembar.
„Du wolltest alles haben, erinnerst du dich? Alles, alles was du dir vorstellen konntest, wolltest du besitzen, mehr als jeder andere auf der Welt. Und du warst bereit, dafür zu bezahlen. Weißt du noch, wie wir verhandelt haben?“
Er lag nun an der Erde, zusammengekrümmt, wehleidig und jammernd. Er wusste was passieren würde. Die Erkenntnis hatte ihn überrollt, und seine Reaktion darauf war Teil meines Vergnügens.
„Du bist nicht mein Bruder“, würgte er unter Tränen hervor.
„Natürlich nicht“, donnerte ich zurück. „Du Idiot! Dein Bruder ist längst verrottet, von den Fischen gefressen, ebenso wie seine kleine Freundin und die anderen 265 Passagiere und Crewmitglieder. Keine Überlebenden, erinnerst du dich?“
Er rollte sich auf den Rücken und als er mich jetzt anblickte, da war nur noch Flehen in seinen Augen. Ein Genuss.
„Wir haben gehandelt und gefeilscht, aber schließlich warst du bereit, alles zu bezahlen. Selbst das Leben deines einzigen Bruders und das deiner Kinder war es dir wert, zu besitzen.“
Er hielt sich mit den Händen die Ohren zu und wimmerte leise vor sich hin. Ich vermochte trotzdem zu ihm zu reden. Ich tätowierte meine Worte direkt in sein Hirn hinein, er sollte nicht vor der Wahrheit fliehen können. Er sollte hören, wer Schuld war am Tod seines Bruders, seiner beiden Kinder und aller, die er noch zeugen würde und am Unglück seiner Frau!
Das Vorspiel war gut, ich sog mich voll mit den Gefühlen, die im Zimmer herumwirbelten. Doch der Akt, das Ritual würde grandios werden.
Eine weiße, reine Kinderseele ist das Beste.
*
Der Friedhof des Bergdorfes.
Ein trüber, kalter Tag.
Einige schwarzgekleidete Personen stehen um ein offenes Kindergrab herum. Der Dorfpfarrer ihnen gegenüber spricht murmelnd seine Litanei.
Haake Dreenstedt steht direkt an der Grube mit gesenktem Kopf und verschränkten Händen.
Seine Frau Eleonore, mit verhärmtem Gesicht und leergeweinten Augen, steht weit neben ihm. Sie trinkt von des Priesters Barmherzigkeit.
Die Kluft zwischen den Eheleuten scheint gewaltig.
Ende