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Ungeheuer am See
Schon lange steht er dort. Ein bohrender Schmerz in seinem Bauch erinnert ihn daran, dass er seit Ewigkeiten nichts gefangen hat. Seit es hell ist, ist er auf der Jagd, aber bisher ohne Erfolg.
Zuerst hat er lange Zeit in dem kleinen Kanal gestanden, wo das Wasser sonst träge dahindümpelt. Im Sommer ist es brackig und riecht übel, aber nach den Regengüssen der letzten Tage war es braun von der mitgeführten Erde. Wie sollte er da einen Fisch erspähen? Oder andere Beute? Außerdem reichte ihm das Wasser fast bis zum Rumpf und trug in seiner Strömung Treibgut mit sich: knorrige Äste und Zweige mit silbern-pelzigen Früchten, Dinge aus fremdem Material und in unbekannten Formen und immer wieder weiße Blätter. Er stakte durch die Brühe, um auszuweichen, aber als sich ein angespültes Blatt um sein Bein wickelte, wurde es ihm zuviel.
Der Hunger trieb ihn weiter zur Jagd. Ein Stückchen unterhalb fließt der Ablauf des Sees in den Kanal: Plötzlich sprudelnder Tumult! Unterhalb der Einflussstelle zitterten schon nach kurzer Zeit seine Beine bei dem Versuch, gegen die reißende Strömung anzustehen, und er hatte ständig Angst, auf einem schlüpfrigen Stein den Halt zu verlieren und in die Fluten zu stürzen. Krämpfe in seinem Bauch ließen ihn nicht aufgeben, und so suchte er sich eine versteckte Stelle am Ufer.
So steht er dort, braucht dringend Nahrung. Eine Krähe hockt am anderen Ufer, zieht etwas aus dem Wasser. Triumphierend krächzt sie auf, sichert mit einem Fuß den aufgedunsenen Körper einer ertrunkenen Maus. Dann fliegt sie mit ihr im Schnabel davon.
Während er ihr hinterher sieht, spitzt sich seine Lage zu. Ein rotbraunes Monster steht hinter einem Busch und sieht in seine Richtung. Aufrecht auf zwei Beinen steht es wie er, aber mehr als doppelt so groß. Er schwankt noch zwischen Flucht und Weiterjagen, erstarrt einfach, ohne sich zu bewegen. Das Ungeheuer späht mit Raubtieraugen, beide nebeneinander vorn im Gesicht. Was soll er nur tun? Mit unbekannter Sprache redet es auf ihn ein, säuselnd, als wolle es ihm mitteilen, dass er nichts zu befürchten habe. Aber gewiss ist, dass es ihn gesehen hat, dass es ihn meint, und er kann sich nicht mehr rühren vor Schreck. Was nun?
Zeit vergeht, sein Herz rast, und er muss sich zu einer Handlung durchringen. Kann ich sich retten? Wo? Hinüber zum See? Unter den Büschen durch zur Wiese? Stehen bleiben und abwarten? Als das Ungetüm ein Bein bewegt, ist es soweit: er drückt sich vom Boden ab, breitet seine grauen Schwingen aus, streckt den Hals weit vor und fliegt davon.