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Ungewissheit
Sie sah ihn jeden Tag, und doch bemerkte sie ihn schon seit langem nicht mehr. Seit sie sich erinnern konnte, hatte er dagesessen, den fleckigen Hut tief ins Gesicht gezogen, die Beine verschränkt. Im Winter zog er die Arme in die Ärmel seiner Jacke zurück, im Sommer rückte der Hut ein Stückchen höher, doch seine Augen sah sie nie.
Er war ein ebenso fester Bestandteil der Straßenszene wie die an ihm vorbeieilende Masse der Fußgänger. Im Gegensatz zu dem eilig wechselnden Leben der Passanten schien seine Unveränderlichkeit mit der Umgebung zu verschmelzen.
Täglich tauchte er am Rande ihres Blickfeldes auf. Meist war sie jedoch viel zu versunken in ihre eigenen Gedanken. Gedanken, in denen ein stummer Bettler keinen Platz hatte. Gedanken, die darauf ausgerichtet waren, mit dieser sich so schnell verändernden Welt mitzuhalten. Innerlich bereitete sie sich auf die Konfrontation mit anderen Menschen vor. Sie wollte nicht zu sehr auffallen, aber auch nicht untergehen. Es war eine ewige Anstrengung, mit den Anderen mitzuhalten. Den Maßstäben gerecht zu werden. Erfolg zu haben, ständig produktiv, beliebt und interessant zu sein.
In den wenigen ruhigen Stunden, die sie alleine verbrachte, schlich sich der zaghafte Gedanke in ihren Kopf, dass es sie eigentlich nach etwas ganz anderem verlangte. Sie sehnte sich danach, auszubrechen und alles fallen zu lassen. Sich auf eine grüne Wiese zu legen und stundenlang in den blauen Himmel zu starren. Die Gedanken schweifen zu lassen, um der Wahrheit der Dinge auf die Spur zu kommen. Herauszufinden, was sie wirklich wollte vom Leben.
Als der Bettler eines Tages auf einmal nicht mehr da war, beunruhigte er sie. Obgleich sie ihn immer ignoriert hatte, hatte sie doch gewusst, dass ihn etwas von den Anderen unterschied. Er war ausgebrochen aus dem Strom. Doch sie war zu sehr gefangen gewesen in ihren Gewohnheiten, als dass sie gestoppt und sich für ihn interessiert hätte, obwohl er doch eigentlich das war, was sie wollte.
Jetzt war es zu spät.