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Ungewissheit

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23.09.2004
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Ungewissheit

Sie sah ihn jeden Tag, und doch bemerkte sie ihn schon seit langem nicht mehr. Seit sie sich erinnern konnte, hatte er dagesessen, den fleckigen Hut tief ins Gesicht gezogen, die Beine verschränkt. Im Winter zog er die Arme in die Ärmel seiner Jacke zurück, im Sommer rückte der Hut ein Stückchen höher, doch seine Augen sah sie nie.

Er war ein ebenso fester Bestandteil der Straßenszene wie die an ihm vorbeieilende Masse der Fußgänger. Im Gegensatz zu dem eilig wechselnden Leben der Passanten schien seine Unveränderlichkeit mit der Umgebung zu verschmelzen.

Täglich tauchte er am Rande ihres Blickfeldes auf. Meist war sie jedoch viel zu versunken in ihre eigenen Gedanken. Gedanken, in denen ein stummer Bettler keinen Platz hatte. Gedanken, die darauf ausgerichtet waren, mit dieser sich so schnell verändernden Welt mitzuhalten. Innerlich bereitete sie sich auf die Konfrontation mit anderen Menschen vor. Sie wollte nicht zu sehr auffallen, aber auch nicht untergehen. Es war eine ewige Anstrengung, mit den Anderen mitzuhalten. Den Maßstäben gerecht zu werden. Erfolg zu haben, ständig produktiv, beliebt und interessant zu sein.

In den wenigen ruhigen Stunden, die sie alleine verbrachte, schlich sich der zaghafte Gedanke in ihren Kopf, dass es sie eigentlich nach etwas ganz anderem verlangte. Sie sehnte sich danach, auszubrechen und alles fallen zu lassen. Sich auf eine grüne Wiese zu legen und stundenlang in den blauen Himmel zu starren. Die Gedanken schweifen zu lassen, um der Wahrheit der Dinge auf die Spur zu kommen. Herauszufinden, was sie wirklich wollte vom Leben.

Als der Bettler eines Tages auf einmal nicht mehr da war, beunruhigte er sie. Obgleich sie ihn immer ignoriert hatte, hatte sie doch gewusst, dass ihn etwas von den Anderen unterschied. Er war ausgebrochen aus dem Strom. Doch sie war zu sehr gefangen gewesen in ihren Gewohnheiten, als dass sie gestoppt und sich für ihn interessiert hätte, obwohl er doch eigentlich das war, was sie wollte.

Jetzt war es zu spät.

 

Huch, ein wenig kurz, findest du nicht?
Es geht mir weniger um die tatsächliche Länge des Textes als vielmehr um das Verhältnis von Möglicher Erzählbreite und Umsetzung.
Deine text ist mehr eine Einleitung zu einer möglicherweise spannenden Geschichte.
Wer ist der Bettler, wo ist er verblieben, was bedeutet das letztlich für den Protagonisten?
Diese fragen werden angedeutet in deiner Einführung, aber einfach nicht beantwortet.
Das ist ein wenig so wie eine Geschichte zu beenden bevor sie überhaupt angefangen hat.
Ich rate dir dringend dich noch tiefer in deinen Plot hinein zudenken und eine richtige Handlung zu spinnen. Denke zuende was du angefangen hast, dann wird das vielleicht ein richtig netter und spannender Text.

 

Ich finde, der Text passt super in die Ruprik Gesellschaft. Wenn das nur der Anfang wäre, bliebe in der weiteren Geschichte nur eine Intention. So wie es jetzt ist, kann man sich viele denken...

Eine sehr gute Metaphorik wird hier verwendet, wo man viele Interpretationen schweifen lassen kann.
Meiner Meinung nach ist das eine gute Geschichte, allerdings mit einem ein kleines Stück zu kurz geratenem Inhalt.

 

Hi Sheila,

die Protagonistin plagte vielleicht den Gedanken, dass sie ihm nie etwas in den Hut oder den Plastikbecher geworfen hat und es nun zu spät ist?

Aber als Leser weiß man es nicht. Wie man überhaupt fast nichts weiß, weil du uns nichts erzählst. Weder über die Person, die sich nun über den Bettler Gedanken macht wie auch jenen selbst. Mir ist das zu wenig.

Lieber Gruß
bernadette

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo,
danke für die Kritik!! Die Geschichte ist wirklich sehr kurz, aber ich werde mal versuchen, zu erklären, was ich mir dabei gedacht habe:
Der Bettler ist, zumindest äußerlich, eine sehr unauffällige Person. Er lebt aber anders als die meisten. Er ist nicht ständig in Eile, hat wahrscheinlich ganz andere Werte und Dinge, die ihm wichtig sind. Er könnte uns die Augen öffnen, weil er eine ganz andere Sichtweise hat. Das kurze Ende soll zum Denken anregen. In der Realität würde die Protagonistin ja auch nicht wissen, wohin und warum er verschwunden ist. Sie wüsste nur, dass sie eine Chance verpasst hat, einen einzigartigen Menschen kennenzulernen und von ihm zu lernen.
Ich hoffe, das ist jetzt nicht „überinterpretiert“. Ich werde trotzdem mal überlegen, ob ich die Geschichte nicht doch noch ein bisschen länger mache. ;-)
Sheila

 

Hallo Sheila,

das was du im Nachhinein erläuterst - vielleicht schaffst du es noch stärker, es auch durch die Geschichte auszusagen? Denn im Moment muss ich mich bernadette anschließen: das ist mir zu wenig. Für mich wird nicht deutlich, wodurch sich dieser Mann von den zahlreichen anderen unterscheidet.

Außerdem liegt man bei diesem Thema immer nah am Klischee: unaufmerksamer, gedankenloser Passant versäumt es, sich mit der Geschichte dieses armen Bettlers zu befassen. Im Endeffekt bleibt für mich nur die Erkenntnis, dass wir es gar nicht bewerkstelligen können, uns mit all den Menschen zu befassen, die mit uns nichts zu tun haben. Dass dies ein aufmerksames auf andere zugehen nicht ausschließt, ist klar.

Je mehr du erzählst, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass es ins Klischee abdriftet.

Liebe Grüße
Juschi

 

Hey,
ich habe die Geschichte jetzt verlängert und die Figur der Protagonistin ein bisschen ausgebaut.
Ich würde mich über weitere Kritik freuen!!
Viele Grüße
Sheila

 

Hallo,

ich kenne die ursprüngliche, kürzere Fassung der Geschichte nicht, finde diese hier aber auch recht kurz. Noch gerade so an der Grenze. Wie auch immer, ihre Intention ist klar zu erkennen; keine Ahnung, ob das vorher nicht so war.

Folgende Stelle stört mich:

Innerlich bereitete sie sich auf die Konfrontation mit anderen Menschen vor. Sie entwarf Pläne, wie sie den Tag durchstehen könnte, ohne sich zu blamieren. Um nicht zu sehr aufzufallen, aber auch nicht unterzugehen. Es war eine ewige Anstrengung, mit den Anderen mitzuhalten. Den Maßstäben gerecht zu werden. Erfolg zu haben, beliebt und interessant zu sein.

Was du hier geschrieben hast, ist zwar ein generelles Problem, unabhängig vom Alter, aber es klingt hier irgendwie... arg jugendlich. Vielleicht liegt das sogar nur am Wort "blamieren". Da muss ich an eine eher im Abseits stehende Person denken, die sich ständig Sorgen macht, ob sie sich am nächsten Tag in der Schule oder auf irgendwelchen Parties, zu denen sie eh nur eingeladen wird, weil man hinterher lästern will, "richtig" verhält.

LG,
Mario

 

@ Mario: Ich habe das "blamieren" rausgenommen, werde mir über die Stelle aber auch nochmal Gedanken machen. ;-)
Danke
Sheila

 

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