- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Ungewollte Nähe
Dieses Mal brauchte er nicht vorsichtig zu sein, denn er wusste, sie war nicht zu Hause. Trotzdem steckte er fast lautlos den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn bedächtig um, die Ohren gespitzt, die Augen wachsam. Er öffnete die Tür einen Spalt und steckte zuerst seine Nase durch die Öffnung der Wohnungstür. Immer noch auf der Fußmatte stehend.
Er kannte den Geruch ihrer Wohnung, wenn sie da war. Sie duftete warm nach ihrer Haut, ihrem blumigen Parfüm, das sie stets benutzte und gleichzeitig roch es nach undefinierbaren, exotischen Gewürzen, die sie zum Kochen benutzte. Es war ein seltsamer Kontrast, der zu niemandem passte, außer zu ihr. Und seine Nase bestätigte ihm: Sie war nicht da. Denn ihm kam ein kalter Geruch entgegen.
Aber er wollte sich nicht mit Vergangenem aufhalten. Er war ja auch nicht hier, um sie zu treffen. Im Gegenteil. Er wollte sie überhaupt nicht mehr sehen. Nicht diese Frau.
Er konnte jetzt tiefer durchatmen und trat ein, wobei er noch einmal ins Treppenhaus zurückschaute. Dann schloss er bedächtig die Tür hinter sich und durchschritt unsicher den Flur. Dabei betrachtete aufmerksam die Gegenstände, die sich dort befanden: Ein Kästchen, eine kleine Skulptur, einen Kerzenleuchter, ein Spiegel, Bilder. Er betrachtete sie so, als ob er sie noch nie gesehen hätte. Und tatsächlich, er prüfte sie jetzt mit einem anderen, eher geschäftsmäßigen Interesse.
Die Wohnung war wie sie: aufgeräumt, kühl. Das wenige Gefühl, das sie hatte, bezeugten lediglich die Postkarten von Freunden, die sie an die Pinnwand geheftet hatte. Ansonsten war sie wie ihr Sternzeichen: Fisch.
Er hatte befürchtet, sie hätte sich vielleicht ein neues Schloss einbauen lassen. Aber möglicherweise hatte sie noch gar nicht bemerkt, dass er sich einen Nachschlüssel für ihre Wohnung hatte machen lassen. Er lachte kurz und unfreundlich auf. Er war eben immer schlauer als sie dachte.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, hob er kurz seine Füße nacheinander hoch und betrachtete seine Schuhsohlen. Er befürchtete, dass sich irgendetwas unter seine Fußsohlen geheftet hatte, das Spuren hinterlassen könnte. Aber unter den Schuhsohlen war lediglich Straßenstaub.
Halbrechts befand sich das Schlafzimmer. Er lehnte sich kurz gegen den Türrahmen und ließ seinen Blick hineinschweifen. Er bemerkte neidvoll, dass sie sich ein neues, breites Bett zugelegt hatte und zog die Augenbrauen verächtlich hoch, wobei er einen scharfen Zischlaut ausstieß.
Im Wohnzimmer ließ er sich schwer atmend in den schweren Ohrensessel, der neben dem Fenster stand, fallen und fuhr sich über das schmierige, stumpfe Haar. Dann legte er den Kopf zurück und unwillentlich überkam ihn die Erinnerung an früher, als er genau an diesem Platz gesessen hatte. Die Kinder hatten im Garten gespielt und er hatte ihnen zugesehen während er es sich bequem gemacht hatte.
Oft hatte sie, während er hier saß, den Raum betreten, den großen Holzlöffel in der Hand haltend und hatte gesagt: „Koste doch mal, Markus und sage mir, ob noch etwas fehlt.“ Meistens fehlte nichts. Sie war ja so verdammt tüchtig. Es hatte ihm zum Hals herausgehangen. Und es war ihm, als stiege der Geruch irgendeiner marokkanischen Spezialität in seine Nase. Und im Rausgehen hatte sie ihm dann prompt gefragt:
„Deckst du schon mal den Tisch und rufst die Kinder rein?“
Sie konnte ihn nie in Ruhe lassen. Sie konnte überhaupt nie gelassen sein.
„Du kannst mich wohl nicht sitzen sehen, was?“ hatte er dann immer geantwortet.
Er schloss für einen Moment die Augen. Eine Zigarette wäre jetzt nicht schlecht. Aber das ging natürlich nicht.
Er seufzte. Diese Zeiten waren vorbei. Gott sei Dank. Das Leben jetzt war gar nicht so schlecht. Man musste nur seine Ansprüche zurückschrauben. Hauptsache, man war frei. Frei von diesen ständigen Vorwürfen. Frei von diesen ständigen Forderungen. Frei sein hieß: Seine Ruhe zu haben. Das war gut. So fühlte sich Unabhängigkeit an.
Nun kam ihm eine andere Erinnerung in den Sinn. Ihre ständige Nörgelei:
„Suche dir endlich eine Arbeit!“
Ihre Appelle waren immer unverschämter geworden. Sie wollte und wollte nicht verstehen, dass es bei der heutigen Arbeitslosigkeit unmöglich war, einen Job zu finden. Schließlich hatte sie sogar von ihm verlangt, als Erntehelfer aufs Feld zu gehen. Für 5,-- € die Stunde.
„Da kommst du wenigstens mal an die frische Luft“, hatte sie ihn angeschrieen. Da hatte er sich zum ersten Mal Respekt verschafft.
„Anschreien tut mich keiner, hörst du“, hatte er zurückgebrüllt.
„So etwas macht keiner mit mir. Nicht mit Markus Federmann.“
Mächtig Schiss hatte sie da gekriegt.
Noch während er im Sessel saß, ließ er seinen Blick erneut schweifen: Bücher, Bücher, Bücher, Bücher. Mein Gott, was wollte sie mit all diesem Zeug? Hatte sie neuerdings Zeit für so etwas?
Dann viel sein Blick auf eine Achat-Scheibe und ein Glasgefäß in dem sich viele kleine Halbedelsteine befanden, die sie vor die Bücher platziert hatte. Langsam aber zielstrebig erhob er sich. Sein Schritt war etwas sicherer geworden. Er nahm die Scheibe in die Hand und hielt sie gegen das Licht. Doch. Das war etwas, was er gebrauchen konnte. Er ließ sie mit den Steinen in seine Jackentasche gleiten. Seine Laune stieg. Leise fing er an zu pfeifen. Und was war mit den CD’s? Da mussten doch auch noch ein paar gute Sachen dabei sein. Er war wach geworden.
Ein Gefühl der Genugtuung überkam ihn, als er die CD’s in den mitgebrachten Plastikbeutel steckte. Das hatte sie nun von ihren ständigen Störfeuern. Er konnte auch anders. Diese Aktion hier machte alle Demütigungen wett.
„Du bist kein Mann, du bist ein verantwortungsloses Kind. Verdammt noch mal, werde endlich erwachsen“ oder „Ich weiß, ich weiß. Es sind wieder die anderen Schuld.“ All diese Sachen hatte sie zu ihm gesagt. Kalt wie eine Hundeschnauze. Ja, so war sie.
So etwas konnte er sich natürlich nicht bieten lassen. Und als sie dann noch die Freunde gegen ihn aufgehetzt hatte, war er endgültig mit ihr Schlitten gefahren. Die Freunde hatten ihr geraten, sich die Hämatome von einem Arzt bescheinigen zu lassen. Scheißfreunde waren das. Alle hatte sie auf ihre Seite gekriegt. Aber scheiden lassen, das hätte er sich nie. Es hieß doch immer: In guten und in schlechten Tagen. Und die Ehe war doch heilig, war doch ein Sakrament. Die Scheidung, auch das war ihr Werk gewesen.
Eine erneute Blickwanderung sagte ihm, dass hier sonst aber nichts war, was er hätte gebrauchen können. Aber er konnte ja wiederkommen. Es wusste ja keiner, dass er den Schlüssel hatte. Sie konnte ihm nichts mehr anhaben. Sie konnte seinen Bierkonsum nicht mehr kontrollieren. Sie konnte ihm nicht mehr mit ihrem Vorschlag, er solle eine Therapie machen, das Leben erschweren. Nie mehr. Sie hatte verloren. Sie war eine Null, ein Nichts.
Schon wollte er wieder gehen, aber da viel ihm ein: Was war mit den Sachen, die sich in den Schränken befanden? Auf die Idee, dort einmal nachzusehen, war er noch nicht gekommen. Widerwillig und gleichzeitig entschlossen ging er noch einmal ins Schlafzimmer zurück, das breite Bett nun ignorierend, und zog nacheinander alle Schubladen auf. Schließlich fand er in einer kleinen Schachtel das, was ihn beglückt, aber verhalten aufschreien ließ. Hier waren sie noch, ihre Ringe, Die würden bestimmt 40,-- € pro Stück bringen. Es war nicht viel, aber bis zum nächsten Ersten würde es wahrscheinlich reichen.
Ein triumphales Gefühl überkam ihn. Sollte sie doch zum Anwalt rennen und ihm die Ohren voll säuseln, dass sie Geld für die Kinder bräuchte. Keinen Pfennig würde er zahlen. Wovon auch? Von Hartz IV? Er würde sie ins Leere laufen lassen.
Jetzt war er derjenige, der die Macht hatte. Und das Schöne war, sie wusste es noch nicht einmal. Ein breites Grinsen ging über sein Gesicht. Ihren neuen Freund würde sie verdächtigen. Und wer weiß, was dann aus den beiden würde. Ja, das hatte sie nun davon. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.
Mit breiter Brust verließ er die Wohnung. Jetzt musste er nur noch aufpassen, dass ihn keiner von diesen widerwärtigen Nachbarn weggehen sah.