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Unglück

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02.11.2007
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Unglück

Bereits seit zwei Tagen kann er nichts mehr essen. Nun liegt er im Bett, hellwach. Viel geschlafen hatte er diese Nacht nicht, denn er musste die ganze Zeit an sie denken. Er schaut auf den Wecker und richtet sich auf. Heute ist es nun soweit, der große Tag, heute wird er sie Treffen.

Nach all den schweren Zeiten, die er durchgemacht hat, hat nun auch er endlich das Glück gefunden. Er war sein ganzes Leben ein Außenseiter. Es hatte im Kindergarten begonnen als er bei den anderen nicht mitspielen durfte, in der Grundschule stand er in der Pause alleine, während die anderen Fußball spielten. Als er auf das Gymnasium kam hofft er nun endlich Freunde zu finden, doch auch hier wurde er nur gehänselt. Seine Freizeit verbrachte er stets Zuhause, wo er Bilder malte, viel las und Geschichten schrieb. Während seines Studiums fand er auch keinen Anschluss zu den anderen, doch nun wurde er wenigstens nichtmehr gehänselt. Das änderte sich jedoch wieder als er zu Arbeiten begann und seine Kollegen merkten, dass er ein leichtes Opfer war.

Freundschaft und Liebe kannte er nur aus Filmen und Büchern. Er hatte Angst vor Frauen. Ein einziges mal hatte er sich getraut ein Mädchen anzusprechen, sie ließ ihn abblitzen, alle haben es mitbekommen und alle haben gelacht. Seit dem ging er Frauen aus dem Weg, doch sein sehnlichster Wunsch war es eine Familie zu haben. Aus diesem Grund hatte er sich vor einem Jahr einen Computer und einen Internetzugang besorgt. Er hatte davon in der Zeitung gelesen: Immer mehr Menschen lernen sich über das Internet kennen und angeblich kann dort jeder einen passenden Partner finden. Er hatte gleich gespürt, dass auch er so noch zu einer Frau kommen wird, gleich am nächsten Tag ist er losgegangen und hat sich einen Computer gekauft. Es dauerte eine Weile, bis er alles beherrschte, doch er war stolz, sich alles selbst beigebracht zu haben. Der Erfolg bei den Partnerbörsen lies auch nicht lange auf sich warten und zum ersten mal in seinem Leben bekam er – wenn auch nur virtuelle – Post einer Frau, die Interesse an ihm hat. Im Grund hatte er sich unter den 12 Zuschriften, die er bekam sofort entschieden. Er war ein Mensch der schnellen und guten Entscheidungen. Jeden Abend verbrachte er nun damit, mit ihr zu schrieben. Sie tauschten Bilder aus und unterhielten sich über das Leben, Gott und die Welt.

Er erlangte hierdurch ein großes Selbstbewusstsein, was sein ganzes Leben zu verändern schien. Die Kollegen hackten nicht mehr auf ihm herum, die Angst vor Frauen verschwand immer mehr und auch sonst schien er in jeglicher Hinsicht ein anderer Mensch zu sein. Vor zwei Tagen haben sie sich nun für ein Treffen verabredet. Seit diesem Moment ist er nervös, bringt keinen Bissen mehr hinunter und er kann nun verstehen was „Schmetterlinge im Bauch“ bedeutet. Auch wenn er schon 43 ist, springt er nun schon seit einiger Zeit fröhlich durch seine Wohnung und freut sich wie ein Kind. Er hat diese Frau noch nie gesehen doch er weiß, dass sie die richtige ist.

Er steht auf und geht ins Badezimmer um sich zu rasieren, heute muss er einfach perfekt aussehen. Er ist bei weitem kein Schönling, vielleicht war das auch mit ein Grund für sein Außenseiterdasein, doch seit er Kontakt mit dieser Frau hat, hat er etwas wichtigeres als Schönheit, er hat Ausstrahlung. Wenn man morgens mit einem Lächeln aufsteht und abends mit einem lächeln ins Bett geht, dann bekommt man mit der Zeit das, was man als Charisma bezeichnet. Nach dem er sich geduscht hat, zieht er sich die gestern gekaufte Hose und den Pulli an, darüber das neue Sakko. Das neue Aftershave sorgt für den maskulinen Geruch. Er hatte ganze fünf Verkäuferinnen nach ihrer Meinung gefragt. Auch neue Schuhe hatte er sich geleistet und beim Friseur hat er sich einen modischen Schnitt verpassen lassen. Er hatte einmal gelesen, das der erste Eindruck alles entscheidend ist und dass dieser bereits nach dem Bruchteil einer Sekunde entsteht. Aussehen, Duft und einige andere Komponenten bestimmen, ob wir jemanden sympathisch finden oder eben nicht. Da man ihn nachträglich nur schwer verändern kann hat er keinen Kosten und Mühen gescheut am heutigen Tag perfekt vorbereitet zu sein um einen perfekten ersten Eindruck zu hinterlassen.
Nun hat er noch 30 Minuten zeit, er will auf gar keinen Fall zu spät kommen. Von seinem Haus bis zum Treffpunkt sind es zu Fuß gerade einmal 10 Minuten, doch was kann nicht alles passieren denkt er und entschließt sich schon jetzt gemütlich loszulaufen. Doch zuvor überprüft er noch einmal sein Aussehen im Spiegel den schließlich soll alles perfekt sein.

Er hatte extra aufgeräumt und seine sonst so leere und triste Wohnung etwas lebensfroher gestaltet, wer weiß was nach dem Treffen noch passiert. Er ist wahrhaftig ein anderer Mensch geworden und befindet sich nun auf dem Höhepunkt seines Lebens. Er fühlte, dass wenn das mit dieser Frau nichts wird, er nie mehr jemanden finden wird. Er verschließt die Türe schaut noch einmal auf die Uhr und macht sich auf den Weg. Die Welt scheint auf einmal so bunt und lebendig,vor wenigen Monaten noch war sie triste und tot, wie die Liebe doch die ganze Sichtweise eines Menschen verändert denkt er und überprüft noch einmal sein Erscheinungsbild in einem spiegelnden Schaufenster. Er schaut auf die Uhr: Noch 15 Minuten.

Als er nach dem gemütlichen Spaziergang am Treffpunkt ankommt, sind es noch fünf Minuten bis zur verabredeten Zeit. Er konnte sie jedoch noch nicht sehen. Es war Spätherbst, doch das Wetter war wie geschaffen für diesen fröhlichen Tag: Ein wolkenloser Himmel und eine noch tief stehende Sonne, die sich langsam aber sicher nach oben kämpft. Auf dem Boden liegen überall bunte Blätter, die Luft ist angenehm kühl. Die Kirchenuhr schlägt neun, es ist Samstag.

Er ist nun immer aufgeregter, es ist bereits neun Uhr doch er kann sie nirgends sehen. Wird sie vielleicht doch nicht kommen? Er lässt den Blick umherschweifen und plötzlich sieht er sie, sie steht auf der gegenüberliegenden Straßenseite und starrt erwartungsvoll die Straße hinauf. Sie ist noch schöner als auf den zahlreichen Bildern die sie ihm geschickt hat. Mit ihren blonden Haaren und dem weißen Mantel sieht sie aus wie ein Engel. Nun sieht sie ihn auch und lächelt ihn an. Er rennt los, er rennt so schnell er kann, alle Nervosität verfliegt und er spürt zum ersten mal in seinem Leben das Gefühl von absolutem Glück, von absoluter Freiheit. Die Straßenbahn sieht er nicht. Die Ärzte können nichts mehr für ihn tun, er stirbt am Unfallort.

 

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