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Unliebsame Kunden
Unliebsame Kunden
Es gibt sie tatsächlich, diese Tage, an denen man immer kalt erwischt wird.
Um neun Uhr öffnete der Salon, und um Viertel nach neun wusste Daniela bereits, dass heute wieder solch ein Tag war. Genau zu diesem Zeitpunkt riss nämlich die feuchte Filtertüte vom Vortag, die sie gerade aus der Kaffeemaschine genommen hatte, und klebriger Kaffeesatz verstreute sich bis in die entferntesten Winkel des Hinterzimmers. Während Daniela auf dem Boden kniend die Brösel zusammenfegte, fragte sie sich zum wiederholten Male, warum in drei Teufels Namen den Kunden beim Frisör immer Kaffee angeboten werden musste. Sollten die Leute doch gefälligst zu Hause ihren Kaffee trinken! In einem fort mussten Frisörinnen Kaffeemaschinen füllen, Tassen hin- und hertragen und Spülmaschinen ein- und ausräumen. Schließlich waren sie doch nicht zum Kaffeekochen da, oder? Sie hatten wirklich genug damit zu tun, sich um die Haare der Leute zu kümmern!
Daniela öffnete den Kühlschrank. Oje! Es war kaum noch Milch da! Wenn der Chef gleich kam, musste sie sofort gehen und neue besorgen, denn bestimmt – und darauf wagte sie jede Wette – hatte Fred nicht daran gedacht, Milch mitzubringen. Waschpulver brauchten sie auch. Für die unzähligen Handtücher, die täglich gewaschen werden mussten. Und wer wusch die? Natürlich sie!
Für den Salon einzukaufen würde ihr heute noch viel weniger Spaß machen als sonst, denn gerade fing es wieder an zu regnen. Was heißt hier „regnen“? „Gießen“ wäre sicherlich der passendere Ausdruck! Aber sie wollte nicht ungerecht sein. Schließlich hatte es ja gestern nur einmal geschüttet: nämlich vom Morgen bis zum Abend!
Die Kaffeemaschine fing an, leise zu zischen und zu brodeln, und die ersten spärlichen Tropfen fielen in die Kaffeekanne. Daniela wollte den Kaffeeduft gerade angenehm finden, als die Ladenglocke ging. Auch das noch! Es war eine von Freds Stammkundinnen, und sicher hatte sie heute einen Termin. Sie würde nicht begeistert sein, dass der Chef noch nicht da war. Vielleicht konnten eine Zeitschrift und eine Tasse Kaffee sie bei Laune zu halten, bis Fred kam.
Daniela zwang sich zu einem freundlichen Gesicht, als sie auf die Kundin zuging. Die Frau hatte eine übergroße spitze Nase und einen ganz schmalen Mund. Daniela fand Menschen mit solchen Nasen und Lippen äußerst unsympathisch. Anscheinend zu Recht, denn auch diese Frau benahm sich genau so, wie sie aussah.
„Wo ist der Chef?“, fuhr sie Daniela an.
Danielas Wangenmuskulatur verkrampfte sich zu einem Lächeln.
„Er muss jeden Augenblick kommen“, sagte sie. „Darf ich Ihnen inzwischen schon mal eine Tasse Kaffee anbieten?“
„Aber mit viel Milch!“
Danielas Lächeln gefror. Nun trank diese Person auch noch die letzte Milch weg!
Wo der Chef bloß blieb? Lange würde diese Kundin nicht stillhalten! Immer heftiger blätterte sie die Seiten ihrer Zeitschrift um, und immer lauter klirrte das Geschirr, wenn sie ihre Tasse auf dem Unterteller absetzte.
Na endlich! Da fuhr sein Wagen auf den Parkplatz vor dem Salon. Daniela schloss eine Wette mit sich ab, dass die Kundin dem lieben guten Fred keine Vorwürfe machen würde. Für so was musste immer sie herhalten.
Sie gewann diese Wette. Die Kundin verzog ihre fadenförmigen Lippen zu einem süßlichen Lächeln, als Fred sich liebenswürdig bei ihr entschuldigte, obwohl er eigentlich gar nichts für seine Verspätung konnte, weil er in einem Stau gestanden hatte, der durch einen Unfall entstanden war, den ein LKW verursacht hatte, und so weiter, und so weiter. Daniela hörte nicht länger zu.
Ihr blieb sowieso keine Zeit, sich über den Wahrheitsgehalt von Freds Geschichte Gedanken zu machen, denn es kam Laufkundschaft. Eine Kundin mit heftig tropfendem Schirm betrat das Geschäft. Kurz darauf erschien ein Mann, dessen Schuhsohlen in Sekundenschnelle den ganzen Eingangsbereich verschmutzten. Fred warf Daniela einen auffordernden Blick zu. Ja, ja, sie hatte es bemerkt! Er brauchte sie gar nicht so anzusehen! Sie wollte sowieso schnell dort wischen. Mürrisch holte sie Eimer und Wischmopp.
Und dann, weil Fred so ewig mit dieser spitznasigen, dünnlippigen Person beschäftigt war, kümmerte sie sich um die beiden anderen Kunden.
Die Kopfhaut der Frau war mit einer weißlichen Borke überzogen, und auch noch nach einer speziellen Haarwäsche und einer Packung für schuppiges Haar rieselten Daniela Unmengen ekliger Flocken durch die Finger, während sie der Frau die Haare fönte und frisierte.
Der Mann hatte glitschige, fettige Haare, die nach ranzigem Öl stanken, und verlangte – man fasste es nicht – trotzdem einen Trockenhaarschnitt.
Eins aber hatten diese zwei Kunden gemeinsam: ein Trinkgeld gaben sie ihr beide nicht. Umso inständiger hoffte Daniela, sie niemals wiederzusehen.
Sie beseitigte die letzten Spuren dieser unliebsamen Kunden und nahm deshalb gar nicht wahr, dass ein junger Mann hereinkam und sich direkt auf einen der Plätze vor dem großen Spiegel setzte. Zu diesem Zeitpunkt war Daniela nämlich schon mit sich, ihrem Beruf und überhaupt mit der ganzen Welt fertig. Und als sie diesen neuen Kunden bemerkte, wurde es auch nicht besser. Wie lange wollte Fred eigentlich noch an seiner Kundin herumzupfen? Daniela hatte nicht die geringste Lust, jetzt auch noch diesen Verrückten zu bedienen. Sie machte sich erst an der Empfangstheke zu schaffen, räumte dann die Kaffeetasse von Freds Kundin weg und holte schließlich noch einen Stapel neuer Handtücher. Dabei beobachtete sie missmutig den jungen Mann im Spiegel.
Er war nicht nur bleich, sondern seine Haut sah geradezu wächsern aus. Der Kontrast, in dem die dunkelvioletten Ringe unter seinen Augen zu seiner gelblichen Gesichtsfarbe standen, war schockierend. Das kommt davon, dachte Daniela unfreundlich, wenn man nächtelang irgendwo versumpft und zu wenig schläft. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie sich letzten Sonntag gefühlt hatte, als sie erst morgens aus der Altstadt nach Hause gekommen war. Und möglicherweise hatte sie nach dieser durchfeierten Nacht auch nicht viel besser ausgesehen als dieser junge Mann hier.
Er war recht groß und hatte auffallend große Füße. Daniela stellte missbilligend fest, dass er mit seinen nassen, klobigen Stiefeln den Boden um seinem Stuhl herum schmutzig gemacht hatte. Wenn man ihn so ansah, musste man sich beinahe wundern, dass er genug Kraft besaß, diese schweren Stiefel zu tragen. Seine weit geschnittenen Hosen und sein locker fallendes, schwarzes Sweatshirt konnten kaum verbergen, wie hager er war. Vor allem seine Handgelenke und seine langen dürren Finger schienen nur aus Knochen zu bestehen, die mit Haut überzogen waren. Tja, dachte Daniela giftig, das kommt davon, wenn man statt Nahrung lieber Hasch oder Ecstasy oder wer weiß was sonst noch so alles zu sich nimmt.
Aber das Lächerlichste an ihm, das waren nun wirklich seine Haare! So etwas hatte Daniela in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen! Wie konnte ein Skelett mit dunkelvioletten Ringen unter den Augenhöhlen bloß auf den Gedanken kommen, sich eine Punkfrisur zuzulegen und sich den stacheligen Hahnenkamm obendrein auch noch knallgrün zu färben! Glaubte diese armselige Figur wirklich, auf diese Weise attraktiver auszusehen? Warum hatten Frisöre es eigentlich so oft mit Irren zu tun, fragte sie sich ärgerlich. Denn dass dieser junge Mann übergeschnappt sein musste, daran zweifelte sie keinen Augenblick. Auch Fred und seiner Kundin war er schon aufgefallen. Daniela bemerkte, dass sie des öfteren heimlich zu ihm hinübersahen.
Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig als ihr offizielles Berufsgesicht aufzusetzen und hinter ihn zu treten. Als sie ihm über die Schulter blickte, wäre sie beinahe in Gelächter ausgebrochen. Da las doch diese jämmerliche Gestalt tatsächlich in der Motorradzeitschrift, die Fred immer in den Salon mitbrachte! Als ob dieser Hänfling jemals auf einem Motorrad sitzen könnte! Ein leiser Windhauch würde genügen, um ihn sofort vom Sitz zu wehen! Und man stelle sich bloß vor, wie sein Kopf auf dem dürren Hals wackeln würde, wenn er einen schweren Motorradhelm trüge!
Vielleicht bemerkte der junge Mann den höhnischen Glanz in ihren Augen. Wie ertappt schlug er die Zeitschrift zu und schob sie hastig unter einen Stapel anderer Illustrierten.
„Guten Tag! Was kann ich für Sie tun?“, fragte Daniela höflich, aber kühl.
Vermutlich nicht viel, dachte sie dabei verächtlich. Bei dem ist sowieso Hopfen und Malz verloren.
Der junge Mann räusperte sich. „Guten Tag!“, sagte er. Seine Stimme klang unerwartet tief. „Ich möchte, dass Sie mir die Haare abrasieren.“
Daniela war sich nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte.
„Wie? Ganz abrasieren?“
„Ja.“
„Sie wollen wirklich eine Glatze haben?“, fragte Daniela ungläubig.
„Ja.“
Daniela ging erst einmal fort, um einen Frisierumhang zu holen. Warum wollte dieser Wahnsinnige bloß einen glattrasierten Schädel haben? Bildete er sich vielleicht ein, damit männlicher auszusehen? Oder wollte er etwa von den Punks zu den Rockern überwechseln? Mit einer Rockerbande nachts auf Motorrädern über Landstraßen rasen? Sie gluckste in sich hinein. Na, über dieses neue Mitglied würden sich die Rocker aber sicher freuen!
Sie legte ihm den Umhang um die Schultern und begann mit der Rasur. Der junge Mann sah auf seine Hände hinunter und blickte nicht ein einziges Mal hoch. Als Freds Kundin endlich den Laden verließ, war Daniela mit ihrer Arbeit schon fast fertig. Der Kopf des jungen Mannes war kahl, jedoch schien es, als läge immer noch ein leicht grünlicher Schimmer über dem Schädel.
Leider, leider, dachte Daniela spöttisch, macht eine grünliche Glatze noch keinen Mann aus! Im Gegenteil! Sein Kopf wirkte nun viel kleiner als vorher und irgendwie zerbrechlich.
Der Himmel hatte sich inzwischen vollständig zugezogen, und der Regen rauschte immer stärker. Im Laden war es so düster geworden, dass man meinen konnte, es wäre Abend. Fred schaltete das Neonlicht ein, und der junge Mann hob kurz seinen Kopf. Daniela zuckte unwillkürlich zurück. Für einen Augenblick hatte sie das Gefühl, als würden ihre Finger einen Totenschädel berühren.
Da schepperte schon wieder die altmodische Glocke über der Ladentür. Daniela kannte die Frau nicht, die hereinkam. Um die würde Fred sich wohl kümmern müssen. Daniela hatte erst mal genug von Kunden. Warum lief heute eigentlich alles zum Frisör, fragte sie sich mürrisch.
Die Frau steuerte geradewegs auf sie zu. Daniela sah ihr entgegen. Hatte sie diese Kundin doch schon einmal bedient?
„Fertig?“, fragte die Frau.
„Ja, gleich“, antwortete der junge Mann.
Daniela nahm ihm den Frisierumhang ab.
„Das steht dir doch gar nicht so schlecht!“ Die Frau blickte prüfend in den Spiegel.
Der junge Mann zuckte mit den Schultern.
„Nein wirklich, das sieht gar nicht übel aus!“ In ihrer Stimme klang so etwas wie Erleichterung.
„Zumindest ist es besser als Haarbüschel im Waschbecken“, sagte der junge Mann.
Erst jetzt sah Daniela, dass die Frau ihm ihren Arm hinhielt, um ihm aufzuhelfen. Mühsam kämpfte sich der junge Mann aus seinem Sessel hoch.
„Wir hatten geglaubt, es wäre vorbei“, erklärte die Frau. „Aber nun braucht er doch wieder eine Chemotherapie.“
„Mutter!“, unterbrach der junge Mann sie unwirsch. „Lass doch! Komm jetzt!“ Damit wandte er sich zum Gehen.
Während seine Mutter an der Kasse bezahlte, sah er Daniela nicht ein einziges Mal an.