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unnütz
"Du bist die geborene Miss Leverkusen", frozzelt mein Bruder, "Immer die zweite: Tinchen ist viel schöner und klüger als du!".
Die blöde Gans, die dumme Kuh. Ich kann es nicht mehr hören.
Man glaubt ja gar nicht, was auf einem Bauernhof so alles an nützlichem Zeug herumliegt. Ich habe das selbst erst bemerkt, als ich nach etwas Hilfe für Tina suchte.
Beim ersten Gedanken an Tina denke ich an Schweine und stolpere direkt neben der Stalltür über eine Tüte Hormone. Papa sagt, das Zeug sorgt dafür, dass die Schweine riesig wachsen und ganz schnell fett werden. Das Fett-Werden gefällt mir ja ganz gut, nur das Wachsen ist bedenklich, so krame ich weiter. Eiweiß und Soja klingen auch wenig hilfreich, auch nicht Ferkelmast, Zwischenmast oder - ich hab' mir das abgeschrieben und Papa vorlesen lassen - Vitamingrundmischung. Am Ende vermisse ich zwar das Futter für die Schweine, aber das ist mir egal, hungrig sehen sie ja wirklich nicht aus. Eher wie rosa Luftballons, die an der Decke kleben. Nur der Boden ist die Decke, mit Wolkenstroh und die Schnur ringelt sich nach oben. Und stinkt.
Beim nächsten Gedanken an Tina muss ich an unsere Rindviecher denken. In Reihe und Glied angekettet scheißen sie jedes Mal dumm um die Wette und machen sich einen Spaß daraus, ein paar Mistfliegen an die Wände zu spritzen. Manchmal haben die Spritzer auch mich erwischt. Kühe sind komisch. Papa sagt, zuerst fressen sie, dann würgen sie es hoch, kauen es dann nochmal und schlucken es wieder hinunter. Ich hab das auch schon mal probiert, aber ich konnte das dann wirklich nicht kauen. Hier sah ich weniger Nützliches, nur etwas für mehr Milch und Futter für die Kälber. Die Kälber mag ich, denen will ich nichts wegnehmen, die sind nicht so fett wie die Schweine. Das mit der Milch ist nichts für Tina. Am Schluss kann sie das auch noch.
Wegen Tina denke ich dann an Hühner. Und Gänse. Für Hühner haben wir nur Futter, das eklig stark nach Fisch stinkt. Im Mund ist es trocken und staubig und es schmeckt immer noch nach Fisch, ganz anders wie die Fischstäbchen von Mami. Schade, dass die Gänse kein eigenes Futter bekommen. Ich stelle mir gerade vor, wie Tina schnattern würde, doch so würde sie höchstens gackern. Aber um richtig zu gackern muss sie sicher ganz viel essen - nur Tina mag keinen Fisch.
Ich überlege mir, Tina zu verhexen und zu verwünschen, so richtig schlimm wie im Märchen. Im Märchen kommt aber immer der Prinz und befreit die verwunschene Prinzessin; die Hexe wird dann gebraten. Das will ich nicht. Ich will keine Prinzessin Tina. Und selber auch nicht braten.
Da komme ich an Papi's Werkstatt vorbei. An die habe ich vorher noch nicht gedacht. Links an der Wand ist ein Regal mit lauter kleinen Kanistern und überall sind fremde Wörter und gelbe Symbole mit schwarzen Knochen darauf. Papa hat gemeint, das macht die unnützen Pflanzen kaputt. Ich hab' ihn dann gefragt, welche Pflanzen denn unnütz sind, und Papa hat auf die Blumen auf dem Acker gezeigt und gesagt, die sind unnütz. Ich sagte, die sind doch schön und nicht unnütz. Papa hat das nicht verstanden. Die Kanister würden bei Tina nicht helfen, höchstens bei mir, schließlich sagen ja alle, ich bin zu nichts nütze. Ich bin die Blume im Acker, schön und unnütz, und Tina ist mein Kanister.
Daneben stehen Benzin und Öl für den Rasenmäher, aber die Dinge sind nur was für die Jungs. Da darf ich nicht ran. Mit Hammer und Nägeln und dem anderen Zeug ist wenig anzufangen, das braucht Papa immer, da will ich nichts nehmen, weil er sonst recht sauer ist.
Ich stöbere gerade neben der Kreissäge, als mich Opi fragt, ob ich nicht wieder mit zum Angeln möchte. Also suche ich unter dem Holz nach Regenwürmern. Als ich schon ein paar gefunden habe, kommt Mammi vorbei und meint, ich solle doch heute Abend zu Müllers 'rüber gehen, ich wäre zum Abendessen eingeladen, Spaghetti. 'Spaghetti?' denke ich mir noch und werfe einen Blick schräg hinunter auf die Regenwürmer. Eigentlich will ich nicht mehr zu Müllers gehen, weil bei Müllers wohnt Tina, aber nun ist die Einladung toll.
Zwei Stunden später stehe ich mit trockenem Mund vor der Türe von Müllers. Mein Herz pocht mir bis zum Hals und in meiner Hosentasche ringelt es sich verdächtig. Ich wundere mich, dass Frau Müller die Tür öffnete und nicht Tina. Ich gehe in die Stube und finde Tina auf einem Kissen mit einer dicken Schiene am Bein. Ich zögere, doch dann sehe ich in ihr Gesicht. Sie hat Schmerzen. Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll.
"Tut's weh?"
"Nnn, geht schon."
"Kannst du ... noch laufen?"
"Ich darf nicht."
"Dann kannst du morgen nicht zur Schule?"
"Nein, erst wieder nach den Ferien."
"Dann hast du ja jetzt schon Ferien!"
"Ich weiß nicht - ich werd' morgen operiert", antwortet sie bedrückt.
Darauf muss ich kurz schweigen und sehe in ihr ängstliches Gesicht. Ich selbst habe furchtbare Angst davor, dass mich einmal ein Doktor aufschneiden muss. Ihr werden sie am Bein herum schneiden. Sie tut mir Leid. Die Regenwürmer in meiner Tasche fühlen sich nun sonderbar kalt und eklig an.
“Wollt ihr schon eure Spaghetti?“, fragt Frau Müller.
“Au ja!“, rufen wir beide.
“Hilfst du mir, Susi?“, fragt sie freundlich und blickt dann auf einen kleinen Stapel leerer Teller am Tisch und auf die dampfenden Töpfe auf dem Herd.
Die Regenwürmer in meiner Tasche fühlen sich nun sogar richtig doof an. Ich zögere etwas.
“Hmm?“, sie nickt mir noch einmal auffordernd zu und winkt mich mit ihren Augenbrauen zu sich.
Ohne weiter nachzudenken stehe ich auf und unbemerkt von mir rutschen zwei Würmer aus der Tasche auf den Küchenboden.
“Was hast du denn da?“, fragt sie mich, aber ich verstehe nicht sofort, was sie meint.
“Na da, auf dem Boden“, sagt sie.
“Iiiihh“, ekelt sich Tina.
Betreten blicke ich zu Boden und schäme mich für meine Gemeinheit. Frau Müller grinst mich an. Ein dicker Kloß steckt in meinem Hals und verhindert, dass ich etwas sagen kann. Mein Kopf wird heiß, ich fühle mich durchschaut und will am liebsten verschwinden, aber Frau Müller sagt:
“Du gehst sicher mit deinem Opa morgen wieder angeln?“
Überrascht blicke ich sie an. Woher weiß sie, dass ich mit Opi angle?
“Deine Mutter hat mir erzählt, dass du gerne mit ihm zum Angeln gehst.“
Erleichtert atme ich auf und nicke so zustimmend wie ich kann.
“Hier, pack' die da rein“, sagt sie und drückt mir ein leeres Soßenglas in die Hand. Mit einem leichten Kopfschütteln und einem belustigten Grinsen beobachtet sie mich, während ich die beiden Würmer vom Boden und noch etwa zehn andere aus meiner Tasche in das Glas fülle.
“Danke!“, sage ich. Als die Würmer in Sicherheit sind, geht es mir besser.
“Wasch dir aber noch die Hände“, sagt sie, “bevor du mir mit den Nudeln hilfst“.
Zwei Minuten später sind meine Hände sauber und ich helfe Frau Müller, das Essen auf den Tellern zu verteilen. Tina und ich beginnen zu essen und wieder miteinander zu sprechen.
"Kommst du mich besuchen?", fragt sie.
"Im Krankenhaus?"
"Nein, hier, ich bleib' nicht lange dort, hat Mama gesagt."
Ich denke kurz nach. Tina will etwas von mir. Sie will sogar mich. Mich und nicht irgend jemand. Das habe ich nicht erwartet.
"Wünschst du dir das wirklich?", frage ich vorsichtig.
"Ja", sagt sie und nickt.
"Aber klar doch!", freue ich mich.
Ich bleibe noch viel länger an diesem Tag, und als ich gehe, da weiß ich nun endlich, dass ich nicht unnütz bin.