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Unscheinbar
Unscheinbar
Das Quietschen der Reifen noch immer in den Ohren, stehe ich wie versteinert mit erhobenen Händen da. Einer der Polizisten drängt mich schnell an die Wand und durchsucht mich. Mein Herz schlägt nicht schneller, denn ich habe noch nicht realisiert, was hier gerade passiert. Ich höre das Rufen der Polizei. Es kommt mir vor als würde ich träumen. Die blauen Lichter, die über die Wände tanzen, geben mir ein Gefühl der Bestätigung. Ich grinse. Der Polizist vor mir sieht mich verwundert und gleichzeitig wütend an. Er schreit mich an, aber seine Worte dringen nicht zu mir hindurch. Ich grinse einfach weiter. Fühle mich gut. Stark. Mächtig. Die Leute starren mich an. Ihr Blick verrät mir, dass sie mich für verrückt halten. Vielleicht bin ich es. Wahrscheinlich komme ich für meine Tat nicht einmal ins Gefängnis, sondern in die Psychiatrie. Aber das ist mir egal. Es wäre mir immer egal gewesen, aber ganz besonders jetzt.
Denn das war es mir wert. Als gleichwertig angesehen und einmal respektiert zu werden. Ich hatte den Augenblick der Überlegenheit richtig genossen.
Den Augenblick, als mich der beliebte Martin voller Angst ansah.
Den Augenblick, als seine Augen mich anflehten ihn am Leben zu lassen und den er sich für all das Leid, dass er mir zugefügt hatte, entschuldigte.
Den Augenblick, als ich abdrückte.
Das Blut. Sein schmerzverzehrtes Gesicht. Die entsetzten Schreie meiner Mitschüler. Einige fingen sogar an zu heulen. Nein, ich hatte ihn nicht erschossen. Ich wollte nur, dass er für all die Sachen bezahlt, die er mir über Jahre angetan hatte, deshalb schoss ich ihm nur ins Bein. Die Wut und die Verzweiflung, endlich konnte ich sie denen zeigen, die dafür verantwortlich waren. Erst gestern hatte mich Martin wieder einmal vor der ganzen Klasse gedemütigt, indem er den Mülleimer auf meinem Tisch entleerte. Kein einziger Schüler verteidigte mich. Alle hatten gelacht. Kein Wunder, ich war schon seit Jahren der Außenseiter in unserer Klasse. In Sport immer der Letzte der gewählt wurde, bei Gruppenarbeit immer allein. Der, der keinen einzigen Freund hatte. Der seelische Schmerz war unerträglich.
Die Polizei führt mich in einen Polizeiwagen und nimmt mich mit auf das Revier. Wir fahren an den vertrauten Gebäuden vorbei, scheinbar hat sich nichts verändert. Aber es scheint nur so. Rein äußerlich. Unter der Oberfläche brodelt es weiter. Es wird wieder Schüler oder Studenten geben, die noch viel mehr Opfer fordern. Die sogar den Tod anderer und ihren eigenen nicht als Hindernis sehen sich zu rächen. Die für dieses eine, kurze Gefühl der Überlegenheit das Leben sehr vieler Menschen ruinieren werden.
Es fängt an zu regnen. Ich beobachte die Wassertropfen, die an meiner Fensterscheibe hinunterlaufen. Der Wagen hält. Wir sind da. Ich steige aus. Ich fühle mich wie ein Held. Das ist ein kranker Gedanke, das weiß ich, aber es ist ein Gefühl.
Es wird ein Verhör folgen. Es wird nicht lange dauern. Ich werde gestehen. Die Polizei wird meine Eltern, meine Mitschüler, mein ganzes Umfeld über mich befragen. Alle werden sagen: „Von dem hätte ich das nicht gedacht, der wirkte immer so unscheinbar!“