- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Unten
Er wollte dort nicht hinunter. Nichts auf der Welt konnte ihn dazu bewegen, die in Dunkelheit übergehenden Stufen vor ihm hinab zu steigen. Dort unten, in weiter Ferne, sah er ein winziges helles Licht flackern, wie ein fett gewordener Stern in einer klaren Sommernacht. Allein die Vorstellung, nicht genau zu wissen, wieviel Stufen es eigentlich hinabging, bereitete ihm Unbehagen. Die vor ihm liegende Gruft, der modrige Geruch, der zu ihm drang, die Dunkelheit, all das und die vielen unbewußten Befürchtungen, die ihm durchs Gehirn zuckten, schreckten ihn ab hinabzugehen.
Mitunter war ihm sogar, als höre er jemanden Rufen, irgendwie klagend und drohend zugleich. Rief da nicht jemand seinen Namen?
Er stand auf einem schmalen Plateau, kaum größer, als sein Körper lang war. Hinter ihm war vor wenigen Augenblicken die Tür mit dumpfem Geräusch zugefallen. Zu beiden Seiten ging es steil hinab. Blaß schimmerten manchmal rötlichgelbe Flammenzungen an den schroffen Wänden zu ihm empor. Über ihm, in großer Höhe, war der Ausschnitt eines vergangenen Sommertages zu sehen.
Er setzte sich. Hier werde ich bleiben, dachte er, bis in alle Ewigkeit. Nichts wird mich daran hindern, niemand wird mich hinabstoßen, ich kann in tausend Jahren noch hier sitzen.
Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als er das Geräusch näher kommender Schritte hörte. Langsam stieg jemand mit schwerem Gang zu ihm hinauf. Das Geräusch war noch weit weg, manchmal war es gar nicht zu hören, als ob der Steiger eine Verschnaufpause einlegte.
Er hatte sich langsam erhoben und mit dem Rücken fest an die grobe aus massivem Stein gehauene Tür gestellt. Ganz dicht, als könne sie ihn schützen, als hätte sie die Kraft, ihn fest zu halten, ihn in sich aufzusaugen, ihn zu unverrückbarem Fels zu machen. Wahrscheinlich vergingen Jahre, bis die Schritte sich so weit genähert hatten, daß er allmählich in der Finsternis eine Gestalt zu erahnen glaubte. Was für ein langer Weg, dachte er, wie gut, daß ich ihn nicht gegangen bin, wie mühevoll wäre er für mich, wie quälend langsam muß man hinabsteigen – und wenn ich erst einmal hinabgestiegen bin, gibt es keinen Rückweg mehr. Jede Stufe, die ich nach unten nehme, verschwindet hinter mir, so habe ich es im Traum erfahren. - Wieder verging eine lange Zeit und endlich waren die Umrisse einer Person zu erkennen, die wie unter großen Mühen und mit nun hörbarem, lautem Schnaufen und Seufzen, sich ihm näherte. Je näher sie kam, desto gewaltiger erschien sie ihm. Ein Riese von Gestalt mußte das sein. Er spürte keine Furcht mehr, denn hier brauchte ja niemand Angst zu haben. Er hatte keine Sorge, was mit ihm geschehen würde, denn man hatte es ihm ja überlassen, zu gehen oder zu bleiben.
Dann entschloss er sich, die Person anzurufen: „Hallo!“ rief er und wunderte sich wie flach und hohl seine Stimme geworden war. Die Schritte hörten auf, die Umrisse schienen sich aufzurichten, etwas wie ein Gesicht blickte zu ihm auf. Er beugte sich so weit es ging vor, setzte den rechten Fuß nach vorn, bis an den Rand des Plateaus, da wo die erste Stufe begann, und starrte hinunter.
„Hallo“, rief er erneut, „können Sie mich hören?“
Das Schnaufen wurde wieder hörbar, ging in ein unverständliches Brummen über, das sich aber so anhörte, als antworte man ihm. Er registrierte eine Bewegung, etwas kam auf ihn zu, drang in den erkennbaren Bereich vor, es war eine große Hand, die sich ihm entgegen streckte. Er wich zurück, duckte sich, als sie nach ihm griff. Er hatte nicht viel Spielraum ihr auszuweichen.
„Was wollen Sie denn von mir?“ rief er so laut er konnte. Eine knurrige Antwort kam aus der Tiefe, eine Art Wolfsgrollen. Die suchenden Bewegungen der Hand wurden heftiger, streiften ihn. Ihm blieb kaum eine Chance, ihr auszuweichen. Und wenn er sich greifen lassen würde? Unweigerlich würde er in die Tiefe gezogen. Er spürte die Kraft dieser Hand, ohne dass sie ihn zu berühren brauchte.
Wäre es nicht besser, ihr zu folgen, als ein Sturz ins Flammenmeer, in die Glut der Hölle? Könnte dieses Licht in der tiefen Ferne, der fette Stern, nicht auch eine Annäherung ans Paradies sein? Kam man, um ihn dorthin zu führen?
Eine ganze Weile dauerte dieses Spiel, er bewegte sich wie ein in Ekstase geratener Tänzer hin und her, geriet oft an den einen oder anderen Rand des Plateaus und sah im schwachen Schein des Höllenfeuers seinen verzerrten Schatten an den kalten Wänden wachsen und schrumpfen. Plötzlich wurde die Hand zurück gezogen. Noch einmal erklang dieser unmenschliche Laut. Wieder begannen die Schritte, langsam entfernten sie sich, hielten an, erklangen wieder, leise und leiser werdend, ein jahrelanges Abwärtsschreiten eines Abgesandten der ewigen Mächte.
Er lauschte den kaum noch hörbaren Geräuschen nach, bis sie endgültig verstummt waren.
Dann gab es einen Knall. Laut und heftig. Direkt vor ihm. Dann zu beiden Seiten. Er nahm war, wie noch schwärzere Dunkelheit ihn umgab. Er streckte seine Hand aus. Sie stieß gegen eine Wand. Undurchdringlicher Stein, ewiger Fels, tote Materie. Er warf einen kurzen Blick nach oben. Der Ausschnitt des blauen Himmels wurde kleiner, wurde scheinbar weg geschoben. Etwas wurde über ihm geschlossen.
Sein Grab war nun fertig. Er dachte: Wie im Leben, wieder eine Chance nicht genutzt.