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Unter grauem Himmel
Der Himmel ist grau, wie immer.
Deutlich kann ich ihn zwischen den Silhouetten der hohen Häuser sehen. Ich spüre den Wind in meinem Gesicht, spüre wie eine längst vergessene Leichtigkeit meinen Körper erfüllt.
Wann kam ich hierher?
Und warum?
Meine Erinnerungen sind spärlich und unklar, wie Träume, die man nach dem Aufwachen wieder vergisst als wären sie bedeutungslos. Aber mein Leben hatte einen Sinn. Ich war nicht immer hinter dunklen Mauern. Ich war... anderswo. Ich kann mich nur nicht mehr daran erinnern.
Wer bin ich?
Ich habe meinen Namen vergessen. Immer wieder betrachtete ich meine Hände, als würde in ihnen etwas stecken, was mich erinnern machen würde. Doch da ist nichts.
Seit wann bin ich hier?
Die Zeit vergeht so langsam und nimmt doch so viel mit.
»Langsam«, höre ich von hinten ein Zischen und plötzlich rumpelt jemand gegen meinen Rücken. Wir fallen gemeinsam zu Boden. Zwischen meinen Fingern fühle ich die Kälte, die vom Asphalt aufsteigt.
Ich drehe mich herum, voller Panik, und balle meine Fäuste. Kurz bevor ich zuschlage, erkenne ich den Mann, der nun auf mir liegt.
»Frederick«, entfährt es mir.
»Was hast du denn gedacht?« fragt er mich und steht wieder auf. Er klopft sich Staub von seiner Kleidung.
Nach und nach kommen auch andere Männer aus dem kleinen Loch in der Wand und sammeln sich in den Schatten. Dicht scharren sie sich aneinander, wie Kinder, die in eine fremde Umgebung gebracht wurden. Ich kenne die Männer nicht, die dort kauern, aber es ist mir auch egal.
Ich wische mir über die Nase und Rotz klebt an meinen Fingern. Gestern noch habe ich Blut gehustet.
Frederick kommt auf mich zu. »Es sind zu viele«, flüstert er mir ins Ohr. »Es sind viel zu viele. Wir werden es nicht schaffen.«
Ich sehe in seine leeren Augen und betrachte sein zusammengesunkenes Gesicht, das einst so voller Leben war. Dann gleitet mein Blick durch die Gasse.
Die Gebäude hier sind so hoch, dass man ihr Ende nicht erkennen kann, die Gassen eng und verwinkelt. Und ganz oben ist dieser graue Himmel. Er ist mir lieber als rußschwarze, niedrige Decken, lieber als heiße Luft, die wie Wasser in die Lungen drückt.
Früher, dringt es aus den Erinnerungen, die tief in meinem Hirn verborgen liegen, unter Angst, Hass und Wut, da kannte ich einen anderen Himmel.
Aber die Bilder sind lange fort. Viel zu lange.
»Wir gehen zu dritt«, sagt Frederick und reißt mich aus meinen Gedanken. »Ich und du und er.« Er deutet auf einen Fremden, den ich nie zuvor gesehen habe. Ich werde ihn in Gedanken Tom nennen, denn ich erinnere mich an diesen Namen. War es mein eigener?
Unsere Chance ist gering, aber sie ist da. Und ich klammere mich daran wie ein schlafender Vogel an die Stange.
Dann gehen wir los.
Die dunklen Hallen aus Stein.
Anfangs lag ich unter vielen und hörte das Stöhnen der Menschen, das Reiben der Körper aneinander, das Wehklagen. Ich roch den Schweiß und den Gestank von Hunderten und spürte Schmerzen.
Mein Bewusstsein war wie ausgeschaltet, an den Rand meines Gehirns gedrängt und ich verbrachte die Zeit wie im Rausch, ich zählte weder Tage noch Stunden und verlebte die Sekunden in stiller Agonie, fern jeder Emotion im Meer aus menschliche Leibern.
Noch heute höre ich den Chor der Schreie.
Hätten wir nur mehr Licht.
Zu dritt huschen wir durch die einsamen, verlassenen Straßen dieser Stadt. Alles wirkt so gigantisch und wir darin so klein. Wir sind wie Zwerge, die durch eine Stadt der Riesen laufen. Doch die Riesen haben diese Stadt verlassen und nur die Einsamkeit ist noch hier. Und die Kälte.
Frederick rennt voran und ich folge ihm. Nie vergeude ich auch nur einen einzigen Blick an meinen Hintermann, Tom. Vielleicht ist er schon lange weg, es kümmert mich nicht.
Alles ist grau oder dunkel. Die Gebäude haben keine Fenster oder Türen, es sind riesige Blöcke. Ich habe ihre Oberfläche mit meinen Händen berührt, doch ich fühlte nur Stein, glatt und kalt wie Eis.
Müdigkeit kämpft meine Sinne nieder, der reine Willen hält mich bei Bewusstsein. Ich darf nicht einschlafen. Keine Träume, nicht mehr.
Gibt es Tag oder Nacht an diesem Ort? Oder ist diese graue Dämmerung ein permanenter Zustand? Ich erinnere mich an die Sonne, aber nicht mehr an ihr Licht oder an ihre Wärme. Zu lange ist es her, dass ich es zuletzt sah.
Wir hören ein Heulen, das sich durch die Straßen windet und leise in unseren Ohren hallt. Frederick hebt seinen Kopf und saugt die Luft in seine geblähten Nasenflügel. Er schnuppert wie ein Tier, seine Rücken wie bei einer Katze nach außen gedrückt, die Hände bebend. Er macht mir Angst.
Tom ist noch da, direkt hinter mir. Sein Gesicht ist dem meinen ein Spiegel. Müde sieht er aus, und ohne Kraft.
»Sie werden kommen«, zischt Frederick und sieht mich an. Aus dem Grinsen in seinem Gesicht spricht der Wahnsinn.
Der Andere, Tom, lehnt sich gegen die Wand und sinkt langsam nach unten, seine Augen geschlossen, die Lider zitternd. Er umfasst seine angewinkelten Beine mit den Armen und lässt seinen Kopf auf die Knie sinken. An wen erinnert er mich?
Ich stütze mich auf meine Oberschenkel und atme tief durch.
Frederick schüttelt den Kopf und in sein hämisches Kichern mischt sich ein anderes Geräusch, fern und leise, aber drohend. Hohe Schreie jagen durch die Luft und reizten schmerzhaft meine Ohren.
Sie kommen. Frederick hatte Recht.
Der Ruß brannte in meinen Augen, aber ich arbeitete weiter. Ich schaufelte und schaufelte, bis meine Hände voller Blut waren. War es mein Blut?
Hinter mir waren Grunzen und fremde Sprachen. Ich wurde angetrieben von den fremdartigen Wächtern, die der Gestank umkreiste wie der Mond die Erde.
Ich schaufelte weiter. Schaufelte tote Wesen in die großen Öfen, deren Glut sich in meine Netzhaut brannte. Ich beobachtete wie die Flammen Hände fraßen, Füße, Köpfe, Augen, Flügel, Klauen, wie die dunkle Glut Gewebe zersetze und die Luft zum Flirren brachte.
Abends weinte ich, bis mir die Tränen versiegten. Dann sank ich in einen tiefen Schlaf, der mir weder Träume noch Erlösung brachte.
Ein Flattern von Millionen Flügeln peitscht durch die Luft und Dunkelheit schiebt sich über den grauen Himmel.
Schreie gellen in unseren Ohren und mischen sich mit dem schrillen Kichern Fredericks.
»Ja«, schreit er, »ja, kommt, kommt nur!«
Und sie gehorchen.
Sie sind groß wie Hunde, ihr Maul ist voll mit spitzen Zähnen, dazwischen tanzt eine blutrote Zunge, ihr Fell glänzt dunkel und ihre Schwingen können einen Mann zu Boden werfen.
Sie stürzten sich auf den anderen, auf Tom. Seine Schmerzen müssen qualvoll sein, denn er schreit so laut, dass ich ihn trotz des Lärms noch hören kann. Sein Geschrei fährt ohne Umwege sofort in meinen Magen, alles verkrampft sich in mir und ich stürzte zu Boden.
Eine feste Hand reißt mich wieder auf die Beine. Frederick!
Er packt mich und zieht mich davon.
Eine der Luftbestien hat uns entdeckt und hüpft auf ihren kleinen Pfoten hinter uns her, fauchend wie eine Katze, ihre Krallen klicken auf dem harten Asphalt. So zieht sie die Aufmerksamkeit einiger ihrer Artgenossen auf uns.
Wir rennen so schnell wir können und kommen doch kaum vorwärts, meine Kraft ist am Ende, meine Muskeln brennen bei jedem Schritt. Wir werden es nicht schaffen.
»Man vergisst alles, wenn man hier ist«, sagte eine Stimme über mir.
Ich warf einen Blick gegen die Decke meines Stockbetts und schwieg.
»Ich weiß nicht mehr, woher ich komme, ich weiß nicht mehr, wie ich heiße, ich weiß nicht einmal, warum ich hier bin.«
Noch immer schwieg ich, das Gesicht nass von Tränen.
»Man muss sich erinnern«, sagte eine Stimme neben mir. Ich wagte es nicht, mich zur Seite zu drehen. »Man muss sich erinnern, weil es alles ist, was bleibt. Ich erinnere mich an die Stadt, aus der ich komme, an die Menschen, die dort waren. Ich erinnere mich an die grünen Wiesen, die voller Wärme waren und voller Duft. Ich habe nichts vergessen.«
»Und wie kamst du hierher?« höhnte die Stimme über mir.
Der Mann neben mir schwieg einen Moment.
»Ich weiß, wie ich heiße«, sagte er dann.
So traf ich Frederick.
»Schnell«, keucht Frederick, sein Gesicht vor Schweiß glänzend. Er reißt den Gullydeckel mit aller Kraft zur Seite und deutet nach unten.
Der Gestank ist wie eine Mauer, als ich nach unten springe, doch der Boden der Kanals ist noch viel härter. Ich stürze und versinke in einer dunklen Flüssigkeit, die zäh ist wie Honig und schlimmer stink als Fäkalien. Ich drehe mich zur Seite, gerade rechtzeitig, bevor Frederick neben mir aufschlägt. Eine Sekunde später und er wäre direkt auf mir gelandet.
Ich übergebe mich und kotze so lange bis ich nur noch würgen kann.
Dann werfe ich einen Blick nach oben. Im grauen Himmel tanzten die Luftbestien und singen ihre Wutschreie. Es klingt wie Musik, wie ein grausamer Walzer, der uns zu Ehren gespielt wird.
Ihr seid uns entkommen, singen sie, aber ihr seid trotzdem am Ende.
»Komm«, sagt Frederick.
Ich lehne mich gegen die Wand und schüttle den Kopf.
Frederick zuckt mit den Achseln. »Dann eben nicht«, sagt er und stampft davon.
Ich sehe ihm nach und hebe die Hand. »Warte«, rufe ich. »Warte.«
Als er sich umdreht, springe ich gegen ihn.
Die Wut hat mich wieder kräftig gemacht. Ich drücke ihn in die ekelhafte Brühe, reiße an seinen Haaren, schlage ihm ins Gesicht, keuchend, stöhnend, mit meiner letzten Kraft.
Was bildet er sich eigentlich ein? Wieso meint er, mich hier allein zurücklassen zu dürfen?
Ich schlage zu. Wieder und wieder.
Dann wehrt er sich.
Seine Faust trifft mein rechtes Auge und Schmerz explodiert in meinem Kopf. Der nächste Schlag trifft meine Magengrube und ich sacke nach vorne. Mein Kiefer fühlt sich an, als würde es brechen, als er mich zum dritten Mal trifft.
Dann bleibe ich regungslos in dem Unrat liegen, der hier unten fließt. Bei Gott, ich habe etwas davon geschluckt.
»Geht es wieder?« fragt Frederick.
Ich sah Menschen, die keine Gefangenen waren.
Doch sie waren anders als wir. Ihre Augen waren von fremdartigen, warmen Farben und doch kalt und ein Blick eines dieser Geschöpfe ließ mich erschaudern und den Kopf demütig senken.
Diese Menschen hatten nichts Menschliches mehr an sich.
Und doch beneidete ich sie.
Endlos laufen wir dahin, mein Blick ist starr auf Fredericks Füße vor mir gerichtet.
Warum sind wir eigentlich geflohen?
Frederick erreicht eine Leiter, die in die Wand eingelassen ist, klettert nach oben und schiebt den Gullydeckel zur Seite.
Der Gestank ist inzwischen nebensächlich geworden. Ich nehme ihn gar nicht mehr wahr.
Als ich wieder den grauen Himmel über mir sehe, kann ich nicht anders als lachen. Ich lache laut auf und steige die Leiter nach oben an die Luft.
Frederick steht schon oben und sieht sich um. Sein Gesicht wirkt finster.
Auch ich lasse meinen Blick schweifen.
Die Stadt ist so groß und doch so verlassen. Die Gebäude sind höher als alles, was ich kenne, die Straßen eng. Wieder habe ich den Eindruck, winzig zu sein.
»Was wenn es kein Ende gibt?« fragt Frederick. »Was, wenn diese Stadt keine Grenzen hat?«
Ich starre ihn einfach nur an, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll.
»Vielleicht...«, sagt Frederick, »ist es sinnlos, vielleicht kann man gar nicht entkommen, hast du dir das schon einmal überlegt?«
Ich sitze auf dem Boden, weil ich zu schwach bin, um aufzustehen. »Ich habe nie darüber nachgedacht«, antworte ich. »Ich habe schon lange nicht mehr nachgedacht.«
Frederick starrt mich lange an. Dann lächelt er.
Sein Schatten an der Wand ist groß und dunkel. Aber wie kann Schatten sein unter grauem Himmel ohne Licht?
Ein schmatzendes Geräusch ertönt, als sich der Schatten bewegt. Eine Gestalt gebiert sich aus der Mauer, mit dem Kopf voran kämpft es sich von dem nackten Stein. Frederick weicht zurück.
Das Wesen bleibt Schatten, wandelt aber wie ein Mensch, ohne länger an die Mauer gebunden zu sein. Es hat weder Augen, noch Ohren, doch sein Maul schnappt auf und zu. Die Stimme klingt fremd, wirkt verzerrt und verstärkt, ich bin nicht sicher, ob ich höre oder einfach nur verstehe.
»Iiiiihhr«, zischt es, »Weeer glaubt iiiihhr zu sssein?«
Es nähert sich uns und seine Hände werden spitz wie Messer. Ein kalter Hauch weht mir entgegen, als das Wesen auf uns zukommt und ich spüre lähmende Angst, meine Muskeln versagen jeden Befehl.
»Wiiieee heiiißßßt du?« fragt der Schatten Frederick.
Frederick bleibt einfach stehen. Der Trotz weicht aus seinen Gesichtszügen und lässt sie entstellt zurück.
»Frederick«, sagt Frederick.
Der Schatten schreit auf, beugt sich nach hinten und wirbelt durch die Luft auf Frederick zu. Schwarze Krallen bohren sich in Fredericks Brust und Blut spritzt aus den frischen Wunden, durchdringt den Schatten als böte er keinen Widerstand und benetzt mein Gesicht. Warmes, rotes Blut. Die Farbe wirkt so lebendig in der grauen Umgebung.
Frederick schreit auf und geht in die Knie. Sein Schrei wird zu einem Gurgeln, als Blut aus seinem Mund schießt. Wie ein Springbrunnen brodelt es aus seiner Kehle und befleckt den dunkeln Asphalt zu seinen Füßen. Seine Augen weiten sich und er versucht, den Schatten zu packen, von sich zu stoßen, doch es gelingt ihm nicht, seine Hände gleiten durch den Körper des Wesen wie durch Rauch.
Schließlich lässt der Schatten von ihm ab und Frederick sinkt zurück, noch immer lebendig. Welche Kraft muss in dem Mann stecken, dass er sich immer noch aufrecht halten kann?
Der Schatten stößt ein meckerndes Gelächter aus.
Seine Gestalt zieht sich in die Länge und er wird dünner und dünner, bis schließlich nicht mehr viel von ihm übrig ist. Dann kriecht er in Fredericks Mund. Frederick würgt und kämpft gegen den Eindringling an, doch vergebens.
Der Schatten ist nun in ihm. Fredericks Bauch bläht sich auf, seine Augen quellen hervor und er versucht einen letzten Schrei, der aber in einem leisen Gurgeln erstickt. Dann sackt er zu Boden, die Augen offen, das Gesicht im eigenen Blut.
Und der Schatten steht plötzlich vor mir.
Mit seinen Krallen fährt er über mein Gesicht, kalt ist seine Berührung und seine Finger sind scharf wie Messer, ich schmecke Blut in meinem Mund.
»Und du?« zischt er. Er beugt sich nahe an mich heran. »Wiiiiee heiiiißßßßt du?«
»Ich weiß es nicht«, antworte ich.
Er sieht mich an und fast ist es, als würde er lachen.
»Gut«, sagt er dann.
Er packt mit beiden Klauen mein Gesicht und schließlich dringt er auch in mich hinein, bahnt sich den Weg durch meinen Mund, ignoriert mein Würgen und Ringen nach Atemluft und ich spüre wie er, einem großen, schlecht gekautem Brocken Essen gleich, den Weg durch meinen Hals findet. Ich schlage gegen meine Brust, doch vergebens.
Plötzlich hört der Schmerz auf.
Ungläubig sehe ich auf Fredericks Leiche, die noch immer vor mir liegt.
Ich richte mich langsam auf.
Da höre ich Stimmen und Leben füllt die Straßen. Ich sehe Menschen, Menschen, wie ich sie schon einmal sah. Doch nun ist die Kälte aus ihren farbigen Augen gewichen und sie lachen mich an.
Ich sehe nach oben und der graue Himmel ist plötzlich nicht mehr grau.
Ein Mann kommt auf mich zu und schüttelt meine Hand.
»Wie heißt du?« fragt er mich.
Ich kenne die Antwort.