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Unterwegs

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21.03.2005
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Unterwegs

Die Fahrt musste irgendwann enden. Er wusste es. Doch wann? Und wo? Und war es überhaupt wichtig, das zu wissen? Er fuhr seit sechs Stunden – irgendwann mussten diese Dinge doch ihre Wichtigkeit verlieren.
Sechs Stunden Gleichförmigkeit. Tanken, fahren, essen, fahren, pissen, tanken, fahren.

Um 21.23 Uhr fing es an zu regnen.
Einmal war er für einige Sekunden eingenickt und nur durch das dröhnende Hupen eines Trucks wieder aufgeschreckt. Voller Bitterkeit hatte er daran gedacht, wie zynisch es wäre, wenn er jetzt bei einem Autounfall sterben würde.

An der letzten Raststätte hatte er überlegt, sich eine Flasche Bourbon zu kaufen, den Gedanken aber wieder verworfen, weil er einen klaren Kopf brauchte. Nein – weil er einen klaren Kopf wollte. Ziellos streifte er durch die Gänge zwischen den Regalen voller Süßigkeiten, Chips und Zeitschriften.
Schließlich kaufte er zwei Flaschen Bourbon. Außerdem ein Thunfisch-Sandwich und Schokoriegel. Und Zigaretten. Er rauchte seit fünf Jahren nicht mehr, fand aber, dass heute eine gute Nacht sei, um wieder damit anzufangen. Er stieg wieder ins Auto und zündete sich eine an. Er nahm einen tiefen Zug und inhalierte langsam. Der Rauch schmerzte in seinen Atemwegen und schien für einen Moment jede Atemluft aus seinen Lungen zu verdrängen. Er kämpfte den Hustenreiz nieder und zwang sich, ruhig zu atmen. Dann merkte er, wie sich das Nikotin in seinem Gehirn festsetzte und ihm wurde schwindelig. Der Hustenreiz ließ nach und er zog noch einmal an der Zigarette. Diesmal musste er nicht mehr husten. Er nahm einen kräftigen Schluck Bourbon aus der Flasche und ließ den Motor an.

Um 22.47 Uhr regnete es noch immer. Im Lichtkegel seiner Scheinwerfer tauchte eine junge Frau am Straßenrand auf und er hielt an, um die Anhalterin mitzunehmen. Solche Dinge tat er sonst nie, aber was hatte er in dieser Nacht schon zu verlieren? Er musterte sie kurz beim Einsteigen, bevor er wieder auf die Straße einbog. Eine klassische Schönheit war sie nicht, aber sie hatte volle, sinnliche Lippen. Er überlegte, dass sie wahrscheinlich gut blies.
Sie erzählte ihm Dinge aus ihrem Leben. Dinge, die ihn irritierten. Musste er das wissen? Interessierte es ihn? Die Antwort fiel klar aus. Die Frau interessierte ihn nicht im Geringsten. Mochte sie drei Kinder von unterschiedlichen Männern oder Vergewaltigern haben – es interessierte ihn nicht. Er bot ihr den Bourbon an, weil er wollte, dass sie die Fresse hielt. Sie nahm einen großen Schluck und für eine kostbare Sekunde war es still. Doch dann hob sie wieder an.
Er sagte, dass es ihn nicht interessiere.
Konsterniert und verletzt sah sie ihn an und verstummte. Nach einem längeren Schweigen und einem kurzen Halt stieß er sie wieder aus seinem Leben.

Warum nur war das Leben immer an ihm abgeprallt? Es war an ihm abgeperlt wie Gischt von Ölzeug. Sechsunddreißig Jahre lang. Zeit genug, das Leben zu spüren.
Die Geburt seines Kindes – ein kurzer Moment. Ein Herzschlag Verantwortung, die für ihn nicht mehr war als regelmäßige Unterhaltszahlungen. Die Scheidung von seiner Frau – belanglos. Viel Stress. Die blöde Kuh hatte nicht aufgepasst. Hatte bald einen dicken Bauch mit sich herumgeschleppt, weil sie zu blöd war, die Pille zu nehmen. Hatte ihn einen emotionalen Krüppel genannt. Wahrscheinlich zu Recht. Nachdem er weg war, hatte sie bald einen neuen Daddy gefunden.
Wie lange war er schon auf der Flucht? Wie lange schon versuchte er, die Dämonen abzuschütteln? Die Dämonen seines Lebens. Alkohol hatte nicht geholfen. Valium hatte sie zwar zum Schweigen gebracht, ihm aber das Gehirn erweicht. Mit Valium spürte er das Leben noch weniger als ohne. Kein Valium.

Der Mann war müde. Seit Stunden schon streiften seine Gedanken ziellos wie Irrlichter durch die Nacht. Seine Hände schienen mit dem Steuer verwachsen zu sein. Sie lenkten ohne ihn.
Schlafen. Er konnte nicht mehr lange weiterfahren.
Autos kamen ihm entgegen, aber er sah keine Lichter mehr. Für ihn waren es weiße Linien, die sich für einen Augenblick in sein Blickfeld drängten und dann vorüber waren. Die letzte Zigarette war ihm im Sekundenschlaf zwischen die Beine gefallen und hatte ein hässliches Loch in seine Hose gebrannt.

Er war am Ende seiner Kräfte und die Leuchtreklame, die auf ein Motel hinwies, kam ihm vor wie eine Erscheinung. Seine Hände steuerten den Wagen auf die Ausfahrt und parkten den Wagen vor dem Empfangsbüro. Der Mann musste die kleine Silberklingel dreimal betätigen, bevor eine hagere Frau mittleren Alters hinter der Rezeption erschien. Sie hatte schon geschlafen. Als Mr. Smith bezog er das Appartement mit der Nummer Sieben. Sie wusste, dass das nicht sein richtiger Name war. Und er wusste, dass sie es wusste. Aber es war ihm egal. Namen waren völlig unwichtig.

In seinem Zimmer zog er sich aus und stieg unter die Dusche. Das Wasser war so heiß, dass seine Haut rot wurde, aber er merkte die Hitze nicht. Es prasselte auf ihn herunter und spülte seine Gedanken fort. Weg, den Ausguss hinunter. Er stand länger als eine halbe Stunde in der Dusche. Blieb auch noch unter dem Duschkopf stehen, als er das Wasser schon abgedreht hatte. Dichte Dampfschwaden zogen durch das Badezimmer und zu hören war nichts außer dem Tropfen des Duschkopfes und dem Ticken seiner Armbanduhr, die er auf die Ablage über dem Waschbecken gelegt hatte.
Schließlich trocknete er sich ab, zog seine Boxershorts an und legte sich schlafen.
Alpträume in der Nacht. Frühstück um acht Uhr dreißig.

Sollte er weiterfahren? Aber wohin?
Er blieb. Legte sich zurück ins Bett und schlief bis drei Uhr nachmittags.
Um fünf Uhr kam die Prostituierte. Sie fing an, ihm einen zu blasen, aber er bekam keinen hoch. Scham und Wut brachten ihn dazu, das Mädchen zu ohrfeigen. Sie saß heulend auf der Bettkante und zog sich wieder an. Er empfand plötzlich Reue. Er bereute, sie geschlagen zu haben und er bereute es mehr als er es je bei seiner Ehefrau getan hatte. Eine gemurmelte Entschuldigung, die ihm nie aufrichtiger über die Lippen gekommen war.
Später am Abend holte sie ihm einen runter. Vorsichtig, behutsam, als wäre er ein Junge. Er kam auf ihrem Bauch. Danach lagen sie nackt nebeneinander und sie streichelte sein Haar. Keiner sagte ein Wort. Sie hatte den Arm um ihn gelegt und sein unrasiertes Kinn lag auf ihrem Busen. Für einen Moment hatte er das Gefühl, in dieser Umarmung läge die Lösung all seiner Probleme. Mitten in der Nacht wachte er auf. Das Mädchen lag noch neben ihm. Er löste sich aus der Wärme ihres Körpers und stand auf. Durchquerte das Zimmer und griff in die Seitentasche seiner Jacke, die über einer Stuhllehne hing. Er sah das Mädchen im Bett an, das noch immer schlief, und ihm fiel auf, wie schön sie in ihrer offenen Nacktheit war. Für einen kurzen Moment gab er sich der Vision hin, mit ihr abzuhauen. Sie zu retten aus ihrem Elend und mit ihr wegzugehen. Dorthin, wo immer die Sonne scheint.
Er schüttelte den Kopf, um die Gedanken los zu werden.

Er lauschte kurz auf die Kojoten, die draußen die Mülltonnen durchwühlten und fuhr dann fort, die Patrone in die Trommel zu schieben.
Er wusste, dass er nicht weiterfahren würde.
Er sah noch einmal auf die Uhr bevor er abdrückte - drei Uhr achtundvierzig.

 

Hallo Der Weg,


solide geschrieben, aber das Ende hat mich dann doch enttäuscht.

Dass das ganze auf Selbstmord hinausläuft, hatte ich zwischenzeitlich ja bereits vermutet. Dann stellte ich mir aber die Frage: warum muss er denn bei all seiner Müdigkeit unbedingt noch durch die halbe Welt fahren. Tja, und darauf habe ich leider keine Antwort in deiner Geschichte bekommen. Umbringen können hätte er sich doch auch an dem Ort, wo die Fahrt begann, und Prostituierte und Motel gibt es doch auch überall ...


Noch ein paar Kleinigkeiten:

Schließlich kaufte er zwei Flaschen Bourbon
Also hat er den Gedanken doch nicht wieder verworfen, wie du ein paar Sätze zuvor geschrieben hast. Vielleicht solltest du da schreiben, dass er den Gedanken, Alkohol zu kaufen, nur "zunächst" verwirft.

um wieder damit anzufangen. Er stieg wieder ins Auto
Zweimal "wieder" klingt nicht gut.

Der Hustenreiz ließ nach, und er zog noch einmal an der Zigarette

, und er hielt an

, und zu hören war nichts

, und sie streichelte sein Haar

, und sein unrasiertes Kinn lag auf ihrem Busen

Viele Grüße
Tom

 

Hallo Der Weg

seine Story hat mir gut gefallen.
Nach den ersten paar Zeilen kam mir schon der Gedanke an einen Selbstmord. Doch ich vermutete eher einen von ihm verursachten Crash mit dem Auto.

Wie das Leben vor seinem inneren Auge nochmals abläuft, vor allem die wichtigsten Moment wie Ehe und Kind, und wie er versucht durch Alkohol und Tabletten die schwermütigen Gedanken zu vertreiben. Dies alles hast du recht fließend und anschaulich rübergebracht.

Alles in allem finde ich die Geschichte gut gelungen.

Viele Grüße

bambu

 

Hi Tom,

danke für die Kritik.
Nun ja, prinzipiell hast Du sicher Recht: er hätte sich auch auf dem heimischen Dachstuhl aufknüpfen können.
Vielleicht liegt in dieser nächtlichen Ausfahrt aber auch ein letzter verzweifelter Versuch, aus allem auszubrechen, vor allem davonzulaufen, dabei die Gedanken zu sortieren.
Oder er wollte dem Tod irgendwo entgegentreten, wo nicht der Schmutz der Vergangenheit herumliegt.
Ich finde es jedenfalls nicht unstimmig.

Auch Bambu: vielen Dank für's Lesen und Kommentieren. Freut mich, dass es Dir gefallen hat.

Gruß,
M.

 

Hallo Der Weg,

mir ging es ein bisschen wie Tom. Andererseits könnte man natürlich sagen, die ganze Fahrt spiegelt ein bisschen die Sinnlosigkeit wieder, die dein Prot in seinem Leben sieht.
Davonlaufen tut er natürlich in jedem Fall, denn auch die Kugel, die er sich gibt, ist ja ein Davonlaufen.

Andererseits scheint mir auch der Suizid gar nicht motiviert. Es gibt hier ja eine Menge an Suizidgeschichten. Entweder ist es die eigenen Auseiandersetzung "Könnte ich das?", die dabei den Reiz ausmacht, oder es ist der (Irr)Glaube, dass negative, traurige Themen und Geschichten mehr Tiefe haben. Bei den meisten habe ich jedenfalls nicht den Eindruck der Auseinandersetzung. Bei deiner leider auch nicht.
Das liegt vor allem daran, dass du nur die letzten Stunden des Prot beschriebst, also die Zeit, bis er es tut und wie er die Zeit nutzt. Interessanter an einer solchen Auseinandersetzung ist doch aber die Frage: Was muss passieren, damit ich es kann? Was bringt Menschen dazu, diesen Schritt zu gehen. Nur die Beantwortung solcher Fragen erfordert eine ganz andere Vorraussetzung.
So bleibt, egal, wie deine Geschichte geschrieben ist, einfach Leere hinter einer leeren Tat.

Das ist natürlich nun eine sehr generelle Kritik an diese Geschichten. Deine hast du stilistisch recht gut beschrieben. Nur das Thema langweilt mich in dieser Form der Aufbereitung halt nur noch.

Lieben Gruß, sim

 

Hi sim,

na, Deine - sagen wir Überdosierung bezüglich Suizidgeschichten konnte ich ja schon bei einer anderen Geschichte von mir herausschmecken.
Lass Dir jedoch versichert sein, dass meine Geschichten weder durch das eine (negative Geschichten haben mehr Tiefgang), noch durch das andere (Auseinandersetzung - "Könnte ich das?") motiviert sind.
Nenn' es von mir aus eine Grundaffinität zum Thema. Im Tod liegen Ruhe und Schlaf - zwei Dinge, die mich immer wieder bewegen. Todessehnsucht würde ich es vielleicht nicht gleich nennen wollen, was mich dazu treibt, aber die Geschichten sind schon so etwas wie die Verlängerung meiner Gedanken.

Gruß,
M.
P.S.: Nächtliche Autofahrten ohne Sinn und Ziel spielen in meinen Geschichten ebenfalls immer wieder eine Rolle. Dabei frage ich mich auch nicht "Wohin soll's gehen?". Ist einfach mein persönlicher Stil/Geschmack.

 

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