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Untot ist, wenn man trotzdem lebt
Fliegen und Würmer begleiteten Korl auf all seinen Wegen. Nicht, weil Korl selbst so schmackhaft gewesen wäre, an ihm war nichts mehr dran, was sich zu fressen lohnte. Und nicht mal der abgebrühteste Kadaververwerter würde sich an dem vergreifen, was noch übrig war. Nein, der Tross aus Schmarotzern hatte es auf Korls nächtliche Opfer abgesehen. Wo immer er hinging, gab es mit Sicherheit bald etwas zu futtern.
„Külln!“, grollte Korl und marschierte stoisch voran. „Külln!“
Der gute Korl merkte auf seine alten Tage nicht mehr allzuviel von dem, was um ihn herum vorging. So war er einmal zwölf Nächte lang im Kreis durch die selben Gänge marschiert, ohne dass es ihn im geringsten angeödet hatte. Sogar seinem parasitären Geleitservice wäre es beinahe zu langweilig geworden, doch im letzten Moment tauchte ein schwertbewehrter Abenteurer auf, um von Korl niedergemacht zu werden.
„Külln!“, schrie er damals. „Külln!“
Ja, so hat jeder seine Angewohnheiten.
„Sieh!“, rief der Glücksritter seinem treuen Begleiter zu, einem trächtigen Maultierrüden. „Ein skelettierter Vampirzombie! Wir müssen ihn töten, für König Ruchard den Erstbesten, und für Herzog Malachias von Irgendwo, und für die Krone und die Glorie des Reiches von Armanien und zu Ehren von Lord Baron und Konsorten!“
Es ist nicht überliefert, ob Lord Baron und Konsorten sich besonders geehrt gefühlt hatten, angesichts des völlig sinnlosen und grauenvollen Todes ihres Gefolgsmannes. Aber man hatte schon weitaus würdelosere letzte Worte gehört in dem vorsintflutlichen Gemäuer, das Korl so beharrlich durchstreifte. Etwa: „Oh nein, das war meine letzte saubere Unterhose!“ Oder: „Da, hinter dir! Ein mumifizierter Werwolfsdrachen!“ Oder: „Der da hat dich Wanderaas genannt! Ich hab’s genau gehört. Er war’s! Nimm den! Nicht mich! Nicht mich!“.
Wenn Korl irgendeine Form von Gedächtnis gehabt hätte, dann hätte er sich sicher von Zeit zu Zeit an solche amüsanten Anekdoten erinnert und vergnügt in sich hinein gekichert. Aber so, wie es aussah, stapfte er bloß weiter durch die weitläufigen Verliese und postulierte hin und wieder: „Külln! Külln!“
So war es auch heute. Mit schweren Schritten trabte er durch die Stollen und kreischte gelegentlich. Alles wie immer. Wäre da nicht der Ausgang gewesen. Jener Ausgang, der aus Korls Behausung hinaus in die Freiheit führte. Selbstverständlich war das nur eine relative Freiheit. Im Grunde genommen war die Welt nur eine größere Version von Korls einsamer Zitadelle. Riesenhaft und gewaltig, sehr verwirrend, meistens kalt, und der einzige Ausweg führte in einen noch gewaltigeren, noch verwirrenderen und noch kälteren Bereich. Verglichen mit der Außenwelt war Korls Kastell geradezu behaglich. Aber davon ahnte er natürlich nichts. Unbeirrbar stiefelte er auf das Portal zu und krakeelte dabei.
Die Festung, die er gemeinsam mit acht Millionen Ratten und einer Handvoll verschüchterter Bestialmonster bewohnte, enthielt in ihrem Innersten eine geheime Kammer, und diese Kammer enthielt die Antwort auf alle Rätsel des Universums und außerdem ganz schön viel Gold. Jedenfalls wenn man den frei erfundenen Geschichten Glauben schenken wollte, die ein berüchtigter Schelm einst aus lauter Jux und Dollerei in die Welt gesetzt hatte. Was die Burg tatsächlich enthielt, war das Geheimnis der Unsterblichkeit. Und zwar in Gestalt von Korl. Leider hatte bisher jeder Pechvogel, der in Korls Residenz eingedrungen war, das genaue Gegenteil dieses Geheimnisses erfahren.
„Külln!“, grölte der Untote, während er über die Zugbrücke schlurfte. „Külln!“
Draußen war Nacht. Aber auch das Tageslicht hätte Korl nichts ausgemacht. Die Jahrhunderte hatten sein Gerippe mit einer dicken Patina aus Gammel überzogen, durch die kein Sonnenstrahl zu dringen vermochte. Obendrein war das Gerücht, dass direkte Sonneneinstrahlung für Vampirzombies tödlich sei, auch noch unwahr. Es wurde von dem selben neckischen Schelm verbreitet, von dem auch die Legende stammte, man könne Vampirzombies mit einem geweihten Schilfhalm vertreiben. Eine Mär, die schon vielen Abenteurern das Leben gekostet hatte, die mit einem heiligen Riedbündel in der Hand in die Bastion gestürmt waren.
Korls Insekteneskorte schwirrte verwundert umher. Der vertraute Geruch der Fäulnis war verflogen, die Nachtluft war kühl und frisch, der Vollmond schien sanft auf den umliegenden Morast. Leise zirpten die Untiere in der Dunkelheit. Allerdings bekam Korl von all dem rein gar nichts mit. Konsequent marschierte er geradeaus weiter, durch den Wald der neunhundertvierunddreißig Gefahren, wo er einige Räuber hinmordete, anschließend durch den Sumpf des Umkommens und das Tal des Lebensendes. In der Wüste des Entschlafens metzelte er voller Gleichmut eine Karawane von Händlern nieder, im Gebirge des ewigen Hopsgehens massakrierte er mehrere Schafherden. Die Jahre vergingen. Ab und zu versuchten einige besonders Wagemutige, die gemächlich dahinschreitende Schreckgestalt einzufangen. Aber das war kein Problem für Korl.
„Külln!“, rief er bei solchen Gelegenheiten. „Külln!“
Anfangs bewegte er sich meist in unbewohnten Gegenden jenseits der Zivilisation. Nicht, dass ihm das etwas ausgemacht hätte. Korl war lange über den Punkt hinaus, an dem er noch irgendeine Form von Nahrung benötigte. Alles, was das wandelnde Knochengerüst noch wünschte, war umherzustreifen und vielleicht dann und wann jemanden zu zermalmen. Rastlos durchquerte Korl die Welt, vorbei an Kriegen und Aufständen, über Schlachtfelder, auf denen er nicht weiter auffiel, vorbei an pestgeplagten Dörfern, deren Bewohner ihn den „grimmen Schnitter“ nannten, an Gebäuden, die neu errichtet wurden, oder einstürzten, oder deren Bewohner Korl beiläufig totschlug; über grüne Hügel und weiße Gipfel und rote Gefechtsschauplätze, durch Eiswüsten und tropische Wälder, bei Regen, Schnee und Erdbeben, gelegentlich blutige Besuche auf Volksfesten und Musikdarbietungen, vorbei an soeben aufgestellten Telegrafenmasten und frisch verlegten Schienen, über asphaltierte Straßen und Plätze, amoklaufend über die Autobahnen, am Himmel über dem knochigen Schädel die Kondensstreifen, unter den Füßen die stählernen Taue eines Fangnetzes, überall Panzer und bewaffnete Einheiten und ein Helikopter; gleitend durch die Lüfte, über die Wipfel der Bäume und die Giebel der Häuser und quer über das Firmament.
„Külln!“, brüllte Korl, und hing schlaff in den unzerstörbaren Trossen. „Külln!“
Damit hatte die lange Wanderung ihr vorläufiges Ende gefunden. Festgezurrt und in ein geheimes Labor der Regierung verfrachtet. Begonnen hatte sie vor vielen Jahrhunderten, als Korl noch ein ganz normaler Mensch gewesen war, ein Fürst. Es war ein Leben in Saus und Braus gewesen: Untertanen pfählen lassen, in Jungfrauenblut baden, die Götter verfluchen, und was Fürsten sonst noch den ganzen lieben langen Tag taten. Heute besaß Korl, wie auch an alles andere, keinerlei Erinnerung mehr an diese Zeit.
Der genaue Grund für Korls posthumes Fortleben war nicht bekannt. Theorien reichten von einem Zigeunerfluch über den Biss einer tropischen Affenspinne bis zum gotteslästerlichen Umgang mit geweihten Kerzen. Fest stand nur, dass er unsterblich war. Und genau dieser Umstand interessierte nun die Wissenschaft.
„Verscheucht doch mal diese Fliegen!“, rief einer der Forscher.
„Und wenn ihr gerade dabei sein, tut auch gleich etwas gegen die Würmer“, fügte ein anderer hinzu.
„Falls es euch interessiert: Meine Tests haben ergeben, dass dieses Wesen aller Wahrscheinlichkeit nach mehrere hundert Jahre alt ist“, sagte ein dritter. „Vielleicht ist es sogar unsterblich.“
„Das müssen wir unbedingt geheimhalten!“, sagte das Militär. Und so geschah es auch.
Es blieb sogar noch geheimer, als beabsichtigt. Kurz nach Korls Gefangennahme brach ein brandneuer Krieg aus, das unterirdische Labor wurde mit Giftgas geflutet und die Lungen der Forscher fielen in sich zusammen und blähten sich wieder auf, kollabierten, schwollen wieder an, platzten und zerbröselten.
„Külln!“, stieß Korl hervor, der von alledem nichts mitbekam. „Külln!“
Einige Jahrhunderte lang geriet die Ruine des unterirdischen Labors, und somit auch der Vampirzombie, in Vergessenheit. Mit der Zeit korrodierten die Halterungen, die ihn an der Wand fixieren sollten. Sie waren stümperhaft verarbeitet, und schon nach fünfhundert Jahren war Korl wieder frei. Umgehend machte er sich auf den Weg.
Anfangs war es ihm nur möglich, im Labor seine Runden zu drehen. Doch nur wenige Dekaden später wurde seine Unruhestätte von Archäologen geöffnet. Teilnahmslos mähte Korl seine Entdecker nieder, und wie es der Zufall so wollte, marschierte er kurz darauf in Richtung des Ausgangs, auf und davon. Er kam gerade rechtzeitig zum Untergang der menschlichen Zivilisation. Nicht, dass ihn das in irgendeiner Weise interessiert hätte.
Die globale Erwärmung trat langsam in die kritische Phase ein. Hersteller von Klimaanlagen beherrschten die Welt, die Population verringerte sich täglich, gewaltige Kriege brachen aus, Besiedelungsversuche anderer Himmelskörper scheiterten jammervoll, und schließlich starben alle, zuletzt die Hersteller von Klimaanlagen.
Gleichgültig zog Korl durch die von Krieg und Naturkatastrophen verwüstete Landschaft.
„Külln!“, erschallte sein Ruf über die Ebene. „Külln!“
Auf Hitze folgte Kälte. Nuklearer Winter, dann nuklearer Frühling, nuklearer Sommer, nuklearer Herbst, nukleare Vorweihnachtszeit, wieder Winter, und bereits nach einigen läppischen Millenia begann der Sand zu schmelzen. Korl konnte nur noch mühsam trotten, seine Gebeine sanken ein, die Fliegen und Würmer hatten ihn schon vor Ewigkeiten verlassen. Er begriff nichts davon. Die Jahrmillionen gingen ins Land, und als die Sonne immer weiter anschwoll, kam seine Wanderung ins Stocken. Uninteressante Feuersbrünste und belanglose Magmaströme umfingen Korls klapperdürren Körper.
„Külln!“, schrie er aus vollen Halswirbeln, „Külln!“
Seine Laute gingen im allgemeinen Höllenlärm unter, doch er machte unerschütterlich weiter, auch wenn er schon seit endloser Zeit niemanden mehr umgebracht hatte. Natürlich wusste er das nicht. Ihm war das sogar vollkommen gleich. Die Erde löste sich langsam auf und wurde Teil einer enormen Supernova, die das Sonnensystem schluckte. Korl ignorierte die unfassbare Hitze und wurde schließlich in einem gewaltigen Schwall von Solarmaterie ins Weltall hinausgeschleudert.
„Külln!“, dachte Korl und schwebte im eiskalten Vakuum. „Külln!“
Kosmische Strahlung nagte an seinen gefrorenen Knochen, hin und wieder wurde er von Meteoriten getroffen, doch im Großen und Ganzen ging es Korl gut. Er durchlebte die Jahrmilliarden eingeschlossen in einen Eisblock und strafte die unfassbaren Vorgänge, die sich in seiner Umgebung abspielten, mit Nichtbeachtung. Die Vernichtung von Alphalpha Centauri durch gasartige Gammastrahlen ging ihn nichts an, er übersah die Implosion der gesamten Hühnerkopfwolke und interessierte sich kein Bisschen für die ungeheure Kollision zwischen einem beigen Gnomstern und ihm selbst. Als letzten Endes die Entropie damit begann, das Universum zu fressen, sämtliche Materie in unendlich kleine Partikel zerfaserte und sich gleichmäßig verteilte, die Gesamtmasse des Alls sich zusammenzog und wieder auseinanderbarst, sich der Raum faltete und nochmals faltete und in sich krümmte und dann wieder streckte, einen Knoten machte und schließlich mit einem unhörbaren Wimmern in Nichts auflöste, da war es um Korls Unsterblichkeit geschehen.
Und es war ihm egal.