Unverhoffte Begegnung
An einem warmen Sommerabend beschlossen Monika und Peter noch eine kleine Rundfahrt mit dem neuen Auto zu machen. Auf ihrem Rückweg bogen sie von der Hauptstraße ab, um eine unbekannte Nebenstrecke zu erkunden. Plötzlich starb der Motor ab und ließ sich nicht mehr starten. Peters Versuche, den Wagen wieder flott zu bekommen, schlugen fehl. Fluchend warf er die Motorhaube zu. Monika zündete sich nervös eine Zigarette an. Es war längst dunkel geworden und die Nacht mit ihren unheimlichen Geräuschen jagte ihr Angst ein.
"Und was jetzt!" rief sie verzweifelt. "Sollen wir etwa hier im Auto übernachten?"
"Ich hoffe nicht, Schatz", beruhigte Peter seine Frau, dabei sah er sich um. Die Gegend war nur dünn besiedelt, doch sie hatten Glück. Etwa hundert Meter von der Stelle, an der sie standen, sahen sie ein Licht durch die Bäume schimmern. "Monika, bleib du beim Auto, ich laufe schnell zu dem Haus und versuche von dort die Werkstatt anzurufen."
"Beeil dich."
Peter gab seiner Frau noch schnell einen Kuss und verschwand in der Nacht. Monika verriegelte die Türen und starrte in die Dunkelheit. Ein paar Minuten später sah sie ein paar Lichter mehr durch die Bäume schimmern. Peter musste Glück gehabt haben.
Unruhig wartete sie auf die Rückkehr ihres Mannes. Sie sah dauernd auf die Uhr, die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Endlich hörte sie Schritte – es war Peter. Sie entriegelte die Türen, er stieg ein und schlug die Tür zu. Im schwachen Licht der Autolampe konnte
Monika erkennen, dass er blass war. Peter sagte kein Wort, schüttelte immer wieder mit dem Kopf, seine Hände zitterten. Langsam beruhigte er sich, sah seine Frau merkwürdig an und sagte: "Entschuldige, Schatz, ich hab dich hoffentlich nicht erschreckt! Aber du
wirst nicht glauben, was ich eben gesehen habe."
"Was ist passiert?" fragte Monika besorgt.
"Wart´s ab, ich erzähle dir alles der Reihe nach. Er nahm Monikas Hände in die seinen und begann zu erzählen: "In dem Haus wohnt Familie Becker. Ich brauchte nicht lange zu warten, bis auf mein Klingeln jemand reagierte. Es war Herr Becker, er hörte sich
unser Problem an, dann bat er mich ins Haus. Der Mann ist nett, ungefähr in meinem Alter. Er zeigte mir das Telefon und gab mir gleich noch die Telefonnummer einer Werkstatt hier in der Nähe, die haben Tag und Nacht Bereitschaft. Ich wollte gerade die Nummer wählen, als seine Frau dazukam – da fiel mir vor Schreck der Hörer aus der Hand. Ich starrte sie an, stammelte eine Entschuldigung und raste aus dem Haus, als hätte ich ein Gespenst gesehen. Die müssen mich jetzt für einen Trottel halten."
"Um Himmels willen, was ist denn an dieser Frau so schrecklich, dass es dich derart aus der Fassung bringt?"
Peter sah sie an und sagte: "Sie sieht aus wie du, haargenau wie du. Die Augen, der Mund, die gleiche Frisur, und sie hat wie du jetzt eine weiße Caprihose und ein blaues T-Shirt an."
Ungläubig starrte Monika ihren Mann an, dann sah sie zum Haus. Dort brannten noch immer alle Lichter. Wortlos sprang sie aus dem Auto und rannte los. Peter blieb nichts weiter übrig, als den Wagen zu verschließen und hinterherzulaufen. Doch was er
beim Haus zu sehen bekam verblüffte ihn. Er schaute zusammen mit Herrn Becker auf die beiden Frauen. Monika war atemlos beim Haus angekommen, Beckers standen noch draußen. Monika starrte auf ihr Ebenbild.
"Sabine?" fragte sie und die Andere nickte. Dann fielen sie sich weinend in die Arme.
Herr Becker zog Peter mit sich ins Haus, dabei sagte er: "Komm, Schwager, hier werden wir erst mal nicht gebraucht, und du siehst aus, als könntest du einen Schnaps vertragen."
Der Mann hatte Recht, Peter verstand gar nichts mehr. Er ließ sich wortlos in einen Sessel fallen und nahm einen kräftigen Schluck von dem Weinbrand, den ihm Herr Becker gereicht hatte.
Herr Becker ließ seinem Gast ein wenig Zeit, sich zu sammeln, dann sagte er lächelnd:
"Es muss verwirrend für dich sein, aber ich erkläre es dir. Die beiden Frauen sind Zwillingsschwestern, was unschwer zu übersehen ist. Jetzt begreife ich auch, warum du vorhin bei Sabines Anblick so verwirrt weggerannt bist. Die Kinder waren gerade fünf Jahre alt, als ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall getötet wurden. Es gab keine Angehörigen, und so brachte man sie in ein Heim. Weil niemand die beiden Mädchen
zusammen adoptieren wollte, trennte man die Geschwister. Sabines Eltern sind inzwischen tot, ihre Mutter starb vor einem halben Jahr. Im Nachlass fanden wir Dokumente, die belegen, dass Sabine adoptiert wurde, wer ihre leiblichen Eltern waren, und dass sie eine Zwillingsschwester mit Namen Monika hat. Als der erste Schock vorbei war, erinnerte sich Sabine plötzlich bruchstückhaft an ihre Kinderzeit. Sie hatte es die ganze Zeit verdrängt, wahrscheinlich eine Art Selbstschutz, weil man sie von ihrer Schwester getrennt hatte. Wir haben dann alles versucht, um Monika zu finden, doch bisher leider vergeblich. Tja, und nun bringt euch eine Autopanne direkt zu uns. Da sage noch mal einer, es gibt keine Wunder. Ich heiße übrigens Joachim."
"Ich bin Peter, ich fass´ es nicht, da kriege ich auf einen Schlag einen Schwager und eine Schwägerin."
"Hm, und in sechs Monaten noch einen Neffen oder eine Nichte."
"Das ist Klasse, unser Sprössling kommt auch in sechs Monaten."
Aus dem Garten war helles Lachen zu hören. Joachim füllte vier Gläser mit Sekt, dann gesellten sich die Männer wieder zu ihren Frauen. Sabine hatte ihrer Schwester inzwischen ebenfalls die ganze Geschichte erzählt. Gemeinsam freuten sie sich auf ihre Babys. Ans Schlafengehen dachte in dieser Sommernacht niemand, dazu war die Aufregung viel zu groß.
© by Germona Barowsky