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Unvorteilhafte Demaskierung
Einzelrichter Roman Claglüna eröffnet am Bezirksgericht Plessur in Chur das Verfahren gegen die Angeklagte Regina à Porta aus Valbella, vertreten durch ihren Anwalt Leza Donatsch. Als Anklagepunkte werden verlesen: Verstoss gegen das Strassenverkehrsgesetz, Mängel in der Identitätspflicht sowie Widerstand gegen die Staatsgewalt. Grundlage bildet der Polizeibericht. Darin ist festgehalten, dass am 17. Juni 2010, um 19:32 Uhr, ein roter Audi A4 mit überhöhter Geschwindigkeit von 14 Stundenkilometern, nach Abzug der Messtoleranz, auf der Autobahnausfahrt Chur-Süd stadteinwärts fuhr. Der Wagen konnte erst nach ungefähr 600 Metern zur Überprüfung des Lenkers gestoppt werden. Es ergab, dass es sich um eine weibliche Person handelte, die sich handgreiflich weigerte, eine Gesichtsbedeckung abzunehmen. Erst auf eindringliche Intervention legte sie ihr Gesicht frei. Eine Identifikation vor Ort war nicht möglich, da keine ausreichende Ähnlichkeit mit dem Foto des Führerausweises erkennbar war, weshalb sie zur Überprüfung ihrer Identität auf die Wache mitgenommen wurde. Erst nach drei Stunden gelang es, ihre Personalien einwandfrei zu klären, es handelte sich um Frau Regina à Porta, wie im Führerausweis angeführt. Die Polizei erstattete beim Bezirksgericht Anzeige.
Ich habe nichts Unrechtes getan. Mir, Regina à Porta, steht das Recht zu, meine Würde zu wahren und zu schützen, wenn nötig auch gegen eine staatliche Obrigkeit. Wenn sie heute über mich zu Gericht sitzen, müssen sie dies anerkennen.
Auf der Besuchergalerie war einzig ein Volontär vom «Bündner Tagblatt» anwesend. Die Anzeige des öffentlichen Gerichtstermins wies auf geringe Verstösse hin, weshalb Schaulustige ausblieben.
«Frau à Porta bleibt der Verhandlung fern, da ihre Anträge auf Ausschluss der Öffentlichkeit und mit bedecktem Gesicht aufzutreten, abgelehnt worden sind», äusserte sich der Verteidiger zur Abwesenheit seiner Klientin.
Ob sie jedoch objektiv sind bezweifle ich, da sie meine Würde in diesem Gremium nicht für Achtenswert hielten.
«Herr Donatsch», sprach Richter Claglüna den Anwalt an. «Ich denke, die Sachverhalte sind klar und sollten meines Erachtens in einem Schnellverfahren abgehandelt werden können. Das von Ihnen zur Entlastung der Angeklagten eingereichte Material habe ich durchgesehen, erkenne aber keinen ausreichenden Bezug zu den Anklagepunkten.»
Donatsch erwartete einen solchen Einwand durch Richter Claglüna. Er kannte seine juristischen Taktiken, da sie schon in etlichen Rechtsfällen die Klingen kreuzten. Im vorliegenden Fall dünkte ihn jedoch dessen politische Haltung gewichtig, da sie indirekt als Voreingenommenheit seine Meinung beeinflussen könnte.
«Herr Richter, ich bin mit Ihnen einig, dass diese Angelegenheit in einem kurzen Verfahren beigelegt werden sollte. Im vorliegenden Fall handelt es sich doch um geringfügige und aus Gründen der Menschlichkeit entschuldbare Vergehen.»
Mein Anwalt ist der Meinung, der Vorfall sei eher lapidar und werde für mich glimpflich ausgehen. Aber wieso dann erst eine Gerichtsverhandlung? Es ist doch anzunehmen, dass hier ein Exempel statuiert werden soll. Aber es fragt sich gegen wen es sich richten soll?
«Als geringfügig, erachte ich es nicht, wenn jemand mit verdecktem Gesicht durch die Gegend fährt und sich der Kontrolle durch die Polizei widersetzt. Die Polizisten mussten situativ die Möglichkeit erwägen, eine Terroristin vor Ausübung eines Gewaltaktes gestellt zu haben.»
Das war ein Schlüsselsatz, auf den Donatsch seinerseits taktisch wartete. «Ich stimme Ihnen zu, dass es für einen Polizisten sicher kein beruhigendes Gefühl ist, einer Person mit verdecktem Gesicht gegenüberzustehen. Tatsächlich sind aber täglich etliche Verkehrsteilnehmer unterwegs, auf die dieser Sachverhalt zutrifft, ohne dass sie als Eventualtäter qualifiziert werden.»
Richter Claglüna setzte ein hämisches Gesicht auf. «Es ist mir nicht bekannt, dass in unserer Region ein Aufkommen von Autofahrerinnen mit Burkas festzustellen ist. Auch wenn auf Bundesebene ebenso wie in ganz Europa Bestrebungen im Gange sind, solche Maskeraden in der Öffentlichkeit gesetzlich zu verbieten.»
Donatsch war zufrieden, Claglüna hatte angebissen. «Ich weise darauf hin, dass in unserem Land kein Verbot existiert sich das Gesicht abzudecken. Ausnahmen bilden Vermummungsverbote bei Demonstrationen. Wenn ich von etlichen Verkehrsteilnehmern sprach, deren Gesicht nicht erkennbar ist, meinte ich insbesondere Motorradfahrer etwa mit Integralhelmen. Würde man diesen das Tragen solcher verbieten, wäre es ein öffentliches Politikum. Im Fall meiner Klientin macht es absolut keinen Sinn, einem politisch motivierten Burka-Reflex zu erliegen.»
Richter Claglüna war verärgert und zugleich verunsichert, wie Donatsch an seiner Miene zu erkennen meinte. Er wusste, dass der Richter es als Tabubruch taxierte, vor Gericht wegen seiner politischen Haltung angesprochen zu werden. Letztlich war er logischen Argumenten aber nicht unzugänglich und konnte persönliche Befindlichkeiten hintenanstellen, wenn es um die Rechtsprechung ging.
«Sie vergessen eines, Herr Anwalt, die Angeklagte hatte sich gegenüber den kontrollierenden Polizisten renitent verhalten.» Der Ton mit dem Claglüna dies vorbrachte, war nuanciert schärfer.
Erst bemerkte ich das Polizeiauto ja gar nicht, bis es mich überholte und abrupt zum Halten zwang. Wäre ich nicht geistesgegenwärtig gewesen, hätte dies leicht zu einem Unfall führen können.
«Es war sicherlich ungeschickt von Frau à Porta, den Grund ihrer Gesichtsabdeckung gegenüber den Polizisten nicht umgehend aufzuklären. Doch sie wurde durch die bisher noch nie eingetretene Sachlage überfordert und war dadurch in einer emotionalen Notwehrsituation. Dem von mir eingereichten Entlastungsmaterial liegt auch ein ärztliches Gutachten bei, dass dies bestätigt, und die von ihr gewünschte Abdeckung ihres Gesichts in der Öffentlichkeit ausdrücklich befürwortet. Der Leumund meiner Klientin ist einwandfrei und es liegt ihr fern, öffentliches Aufsehen zu erregen. Ein unaufschiebbarer Arzttermin in Zürich veranlasste sie, sich selbst ans Steuer zu setzen, da an diesem Tag keine Bezugsperson verfügbar war.»
Auf beiden Seiten des Wagens standen sie, die Hände an den Waffen, als ob ich eine Schwerverbrecherin wäre. Gut, vielleicht war ich wirklich etwas zu schnell, aber dies gefährdete niemanden. Keine Bewegung, rief der Polizist. Dann öffnete er mit der linken Hand die Türe und verlangte die Ausweispapiere. Es waren mir aber nur langsame Bewegungen erlaubt. Die Maske ab, herrschte er mich dann an, in einem Tonfall, der an sich schon beleidigend war. Meine Erklärung dies nicht zu tun, da es mir klar ersichtlich schien, dass ich sie infolge medizinischer Gründe trug, liess ihn beinah hysterisch reagieren. Er herrschte mich nochmals an und versuchte dann sie mir zu entreissen. Dies war Gewalt, aber von Obrigkeitlicher Seite, nicht von mir, wie mir dann vorgeworfen wurde. Ich hatte nur schützend die Arme vor mein Gesicht gehalten, die Gefahr abwehrend. Sein Kollege griff dann Situationsberuhigend ein, sprach mit ihm und dann mit mir, die absurde Situation entwirrend. Dass das Foto im Ausweis nicht übereinstimmend sein konnte, war wirklich nicht erklärungsbedürftig.
Richter Claglüna blätterte in den Akten. Beim Entlastungsmaterial, welches Donatsch einbrachte, lag obenauf eine Kurzmeldung des «Bündner Tagblatt» vom 7. Mai 2009: «Gestern Abend ist auf der kurvenreichen Strasse zwischen Bergün und Preda ein Auto infolge heftiger Bremsung von der Fahrbahn abgekommen. Bei der Kollision mit einem Felsbrocken fing das Auto Feuer. Die Insassin erlitt schwere Brandverletzungen. Dem Chauffeur eines dazukommenden Postautos gelang es, die Verletzte zu bergen und Erste Hilfe zu leisten.» Die weiteren Beweisstücke waren eine Kopie des damaligen Polizeirapports über den Unfall sowie ein medizinisches Gutachten des Universitätsspitals Zürich. Dem Gutachten waren auch Fotos beigefügt, die das Gesicht der Verletzten unmittelbar nach Einlieferung und ein Jahr später zeigten. Es war schwer entstellt und wird Jahre dauern bis Wiederherstellungschirurgie es wieder ansehnlich erscheinen lassen kann.
Eine Verurteilung wegen des Tragens einer Maske oder Widerstand gegen die Staatsgewalt werden wir bestimmt nicht respektieren, hat Donatsch gesagt. Er würde es vor das Bundesgericht und wenn nötig vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bringen, falls unsere Argumentation nicht durchkomme. Denn hier gehe es um eine Grundsatzfrage.
Claglüna räusperte sich, er hatte sich zu einer Entscheidung durchgerungen. «Wir kommen zur Urteilsverkündung. In meiner Eigenschaft als Einzelrichter am Bezirksgericht Plessur ergeht in der Anklage gegen Frau Regina à Porta folgendes Urteil: Die Angeklagte wird in Abwesenheit wegen Geschwindigkeitsübertretung zu einer Ordnungsbusse von einhundertsechzig Franken verurteilt. In den übrigen Anklagepunkten wird sie unter Berücksichtigung mildernder Umstände freigesprochen. Die Kosten des Verfahrens trägt der Kanton Graubünden.»
Nach kurzer Sprechpause fuhr er fort. «Das Urteil begründet sich wie folgt. Frau à Porta versuchte sich rechtswidrig der polizeilichen Überprüfung zu entziehen, doch befand sie sich in einem starken psychischen Ausnahmezustand. Infolge einer Gesichtsverletzung, die sie bei einem Unfall im vergangenen Jahr zuzog, ist ihr Gesicht derzeit noch in einem Ausmass entstellt, dass eine öffentliche Zurschaustellung Aufsehen erregen würde. Das Tragen einer weissen Gesichtsmaske hat für Frau à Porta in diesem Fall keinen opportunistischen Hintergrund. Aus medizinischer und psychologischer Sicht wie auch aus humanitärer Überlegung erscheint ihre Massnahme einer Gesichtsabdeckung angemessen und gerechtfertigt. Sie ist jedoch gehalten, nach Möglichkeit sich durch Dritte fahren zu lassen. Zudem hat sie sich bei ihrer Einwohnergemeinde um ausreichend legitimierende Ausweispapiere zu bemühen. Bei einer allfällig künftigen Verkehrskontrolle hat sie den Weisungen der Polizei umgehend Folge zu leisten und unaufgefordert die Gründe ihrer Maskierung offen zu legen.»
Die Besuchertribüne war inzwischen leer und Donatsch trat auf Claglüna zu, um sich persönlich zu verabschieden. Dieser schaute ihn nachdenklich an. «Ich hoffe, Sie versuchen nicht, politisches Kapital aus diesem Urteil zu schlagen. Dieses Urteil war ganz auf Frau à Porta zugeschnitten und bildet keine Basis für einen Präzedenzfall.»
Donatsch konnte ein Grinsen nicht verbergen. «Aber Sie werden mir zugestehen müssen, dass das Beispiel der Integralhelme die Diskussion um Burkas, von denen mir in unserem Land zudem noch nie eine begegnet ist, ad absurdum führt.»
Claglüna schaute ihn einen Moment forsch an, dann breitete sich auch auf seinem Gesicht ein Lächeln aus. «Nun ja, es gibt auch unvorteilhafte Demaskierungen.»