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Unvorteilhafte Demaskierung

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29.01.2010
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Unvorteilhafte Demaskierung

Einzelrichter Roman Claglüna eröffnet am Bezirksgericht Plessur in Chur das Verfahren gegen die Angeklagte Regina à Porta aus Valbella, vertreten durch ihren Anwalt Leza Donatsch. Als Anklagepunkte werden verlesen: Verstoss gegen das Strassenverkehrsgesetz, Mängel in der Identitätspflicht sowie Widerstand gegen die Staatsgewalt. Grundlage bildet der Polizeibericht. Darin ist festgehalten, dass am 17. Juni 2010, um 19:32 Uhr, ein roter Audi A4 mit überhöhter Geschwindigkeit von 14 Stundenkilometern, nach Abzug der Messtoleranz, auf der Autobahnausfahrt Chur-Süd stadteinwärts fuhr. Der Wagen konnte erst nach ungefähr 600 Metern zur Überprüfung des Lenkers gestoppt werden. Es ergab, dass es sich um eine weibliche Person handelte, die sich handgreiflich weigerte, eine Gesichtsbedeckung abzunehmen. Erst auf eindringliche Intervention legte sie ihr Gesicht frei. Eine Identifikation vor Ort war nicht möglich, da keine ausreichende Ähnlichkeit mit dem Foto des Führerausweises erkennbar war, weshalb sie zur Überprüfung ihrer Identität auf die Wache mitgenommen wurde. Erst nach drei Stunden gelang es, ihre Personalien einwandfrei zu klären, es handelte sich um Frau Regina à Porta, wie im Führerausweis angeführt. Die Polizei erstattete beim Bezirksgericht Anzeige.

Ich habe nichts Unrechtes getan. Mir, Regina à Porta, steht das Recht zu, meine Würde zu wahren und zu schützen, wenn nötig auch gegen eine staatliche Obrigkeit. Wenn sie heute über mich zu Gericht sitzen, müssen sie dies anerkennen.

Auf der Besuchergalerie war einzig ein Volontär vom «Bündner Tagblatt» anwesend. Die Anzeige des öffentlichen Gerichtstermins wies auf geringe Verstösse hin, weshalb Schaulustige ausblieben.

«Frau à Porta bleibt der Verhandlung fern, da ihre Anträge auf Ausschluss der Öffentlichkeit und mit bedecktem Gesicht aufzutreten, abgelehnt worden sind», äusserte sich der Verteidiger zur Abwesenheit seiner Klientin.

Ob sie jedoch objektiv sind bezweifle ich, da sie meine Würde in diesem Gremium nicht für Achtenswert hielten.

«Herr Donatsch», sprach Richter Claglüna den Anwalt an. «Ich denke, die Sachverhalte sind klar und sollten meines Erachtens in einem Schnellverfahren abgehandelt werden können. Das von Ihnen zur Entlastung der Angeklagten eingereichte Material habe ich durchgesehen, erkenne aber keinen ausreichenden Bezug zu den Anklagepunkten.»

Donatsch erwartete einen solchen Einwand durch Richter Claglüna. Er kannte seine juristischen Taktiken, da sie schon in etlichen Rechtsfällen die Klingen kreuzten. Im vorliegenden Fall dünkte ihn jedoch dessen politische Haltung gewichtig, da sie indirekt als Voreingenommenheit seine Meinung beeinflussen könnte.

«Herr Richter, ich bin mit Ihnen einig, dass diese Angelegenheit in einem kurzen Verfahren beigelegt werden sollte. Im vorliegenden Fall handelt es sich doch um geringfügige und aus Gründen der Menschlichkeit entschuldbare Vergehen.»

Mein Anwalt ist der Meinung, der Vorfall sei eher lapidar und werde für mich glimpflich ausgehen. Aber wieso dann erst eine Gerichtsverhandlung? Es ist doch anzunehmen, dass hier ein Exempel statuiert werden soll. Aber es fragt sich gegen wen es sich richten soll?

«Als geringfügig, erachte ich es nicht, wenn jemand mit verdecktem Gesicht durch die Gegend fährt und sich der Kontrolle durch die Polizei widersetzt. Die Polizisten mussten situativ die Möglichkeit erwägen, eine Terroristin vor Ausübung eines Gewaltaktes gestellt zu haben.»

Das war ein Schlüsselsatz, auf den Donatsch seinerseits taktisch wartete. «Ich stimme Ihnen zu, dass es für einen Polizisten sicher kein beruhigendes Gefühl ist, einer Person mit verdecktem Gesicht gegenüberzustehen. Tatsächlich sind aber täglich etliche Verkehrsteilnehmer unterwegs, auf die dieser Sachverhalt zutrifft, ohne dass sie als Eventualtäter qualifiziert werden.»

Richter Claglüna setzte ein hämisches Gesicht auf. «Es ist mir nicht bekannt, dass in unserer Region ein Aufkommen von Autofahrerinnen mit Burkas festzustellen ist. Auch wenn auf Bundesebene ebenso wie in ganz Europa Bestrebungen im Gange sind, solche Maskeraden in der Öffentlichkeit gesetzlich zu verbieten.»

Donatsch war zufrieden, Claglüna hatte angebissen. «Ich weise darauf hin, dass in unserem Land kein Verbot existiert sich das Gesicht abzudecken. Ausnahmen bilden Vermummungsverbote bei Demonstrationen. Wenn ich von etlichen Verkehrsteilnehmern sprach, deren Gesicht nicht erkennbar ist, meinte ich insbesondere Motorradfahrer etwa mit Integralhelmen. Würde man diesen das Tragen solcher verbieten, wäre es ein öffentliches Politikum. Im Fall meiner Klientin macht es absolut keinen Sinn, einem politisch motivierten Burka-Reflex zu erliegen.»

Richter Claglüna war verärgert und zugleich verunsichert, wie Donatsch an seiner Miene zu erkennen meinte. Er wusste, dass der Richter es als Tabubruch taxierte, vor Gericht wegen seiner politischen Haltung angesprochen zu werden. Letztlich war er logischen Argumenten aber nicht unzugänglich und konnte persönliche Befindlichkeiten hintenanstellen, wenn es um die Rechtsprechung ging.

«Sie vergessen eines, Herr Anwalt, die Angeklagte hatte sich gegenüber den kontrollierenden Polizisten renitent verhalten.» Der Ton mit dem Claglüna dies vorbrachte, war nuanciert schärfer.

Erst bemerkte ich das Polizeiauto ja gar nicht, bis es mich überholte und abrupt zum Halten zwang. Wäre ich nicht geistesgegenwärtig gewesen, hätte dies leicht zu einem Unfall führen können.

«Es war sicherlich ungeschickt von Frau à Porta, den Grund ihrer Gesichtsabdeckung gegenüber den Polizisten nicht umgehend aufzuklären. Doch sie wurde durch die bisher noch nie eingetretene Sachlage überfordert und war dadurch in einer emotionalen Notwehrsituation. Dem von mir eingereichten Entlastungsmaterial liegt auch ein ärztliches Gutachten bei, dass dies bestätigt, und die von ihr gewünschte Abdeckung ihres Gesichts in der Öffentlichkeit ausdrücklich befürwortet. Der Leumund meiner Klientin ist einwandfrei und es liegt ihr fern, öffentliches Aufsehen zu erregen. Ein unaufschiebbarer Arzttermin in Zürich veranlasste sie, sich selbst ans Steuer zu setzen, da an diesem Tag keine Bezugsperson verfügbar war.»

Auf beiden Seiten des Wagens standen sie, die Hände an den Waffen, als ob ich eine Schwerverbrecherin wäre. Gut, vielleicht war ich wirklich etwas zu schnell, aber dies gefährdete niemanden. Keine Bewegung, rief der Polizist. Dann öffnete er mit der linken Hand die Türe und verlangte die Ausweispapiere. Es waren mir aber nur langsame Bewegungen erlaubt. Die Maske ab, herrschte er mich dann an, in einem Tonfall, der an sich schon beleidigend war. Meine Erklärung dies nicht zu tun, da es mir klar ersichtlich schien, dass ich sie infolge medizinischer Gründe trug, liess ihn beinah hysterisch reagieren. Er herrschte mich nochmals an und versuchte dann sie mir zu entreissen. Dies war Gewalt, aber von Obrigkeitlicher Seite, nicht von mir, wie mir dann vorgeworfen wurde. Ich hatte nur schützend die Arme vor mein Gesicht gehalten, die Gefahr abwehrend. Sein Kollege griff dann Situationsberuhigend ein, sprach mit ihm und dann mit mir, die absurde Situation entwirrend. Dass das Foto im Ausweis nicht übereinstimmend sein konnte, war wirklich nicht erklärungsbedürftig.

Richter Claglüna blätterte in den Akten. Beim Entlastungsmaterial, welches Donatsch einbrachte, lag obenauf eine Kurzmeldung des «Bündner Tagblatt» vom 7. Mai 2009: «Gestern Abend ist auf der kurvenreichen Strasse zwischen Bergün und Preda ein Auto infolge heftiger Bremsung von der Fahrbahn abgekommen. Bei der Kollision mit einem Felsbrocken fing das Auto Feuer. Die Insassin erlitt schwere Brandverletzungen. Dem Chauffeur eines dazukommenden Postautos gelang es, die Verletzte zu bergen und Erste Hilfe zu leisten.» Die weiteren Beweisstücke waren eine Kopie des damaligen Polizeirapports über den Unfall sowie ein medizinisches Gutachten des Universitätsspitals Zürich. Dem Gutachten waren auch Fotos beigefügt, die das Gesicht der Verletzten unmittelbar nach Einlieferung und ein Jahr später zeigten. Es war schwer entstellt und wird Jahre dauern bis Wiederherstellungschirurgie es wieder ansehnlich erscheinen lassen kann.

Eine Verurteilung wegen des Tragens einer Maske oder Widerstand gegen die Staatsgewalt werden wir bestimmt nicht respektieren, hat Donatsch gesagt. Er würde es vor das Bundesgericht und wenn nötig vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bringen, falls unsere Argumentation nicht durchkomme. Denn hier gehe es um eine Grundsatzfrage.

Claglüna räusperte sich, er hatte sich zu einer Entscheidung durchgerungen. «Wir kommen zur Urteilsverkündung. In meiner Eigenschaft als Einzelrichter am Bezirksgericht Plessur ergeht in der Anklage gegen Frau Regina à Porta folgendes Urteil: Die Angeklagte wird in Abwesenheit wegen Geschwindigkeitsübertretung zu einer Ordnungsbusse von einhundertsechzig Franken verurteilt. In den übrigen Anklagepunkten wird sie unter Berücksichtigung mildernder Umstände freigesprochen. Die Kosten des Verfahrens trägt der Kanton Graubünden.»

Nach kurzer Sprechpause fuhr er fort. «Das Urteil begründet sich wie folgt. Frau à Porta versuchte sich rechtswidrig der polizeilichen Überprüfung zu entziehen, doch befand sie sich in einem starken psychischen Ausnahmezustand. Infolge einer Gesichtsverletzung, die sie bei einem Unfall im vergangenen Jahr zuzog, ist ihr Gesicht derzeit noch in einem Ausmass entstellt, dass eine öffentliche Zurschaustellung Aufsehen erregen würde. Das Tragen einer weissen Gesichtsmaske hat für Frau à Porta in diesem Fall keinen opportunistischen Hintergrund. Aus medizinischer und psychologischer Sicht wie auch aus humanitärer Überlegung erscheint ihre Massnahme einer Gesichtsabdeckung angemessen und gerechtfertigt. Sie ist jedoch gehalten, nach Möglichkeit sich durch Dritte fahren zu lassen. Zudem hat sie sich bei ihrer Einwohnergemeinde um ausreichend legitimierende Ausweispapiere zu bemühen. Bei einer allfällig künftigen Verkehrskontrolle hat sie den Weisungen der Polizei umgehend Folge zu leisten und unaufgefordert die Gründe ihrer Maskierung offen zu legen.»

Die Besuchertribüne war inzwischen leer und Donatsch trat auf Claglüna zu, um sich persönlich zu verabschieden. Dieser schaute ihn nachdenklich an. «Ich hoffe, Sie versuchen nicht, politisches Kapital aus diesem Urteil zu schlagen. Dieses Urteil war ganz auf Frau à Porta zugeschnitten und bildet keine Basis für einen Präzedenzfall.»

Donatsch konnte ein Grinsen nicht verbergen. «Aber Sie werden mir zugestehen müssen, dass das Beispiel der Integralhelme die Diskussion um Burkas, von denen mir in unserem Land zudem noch nie eine begegnet ist, ad absurdum führt.»

Claglüna schaute ihn einen Moment forsch an, dann breitete sich auch auf seinem Gesicht ein Lächeln aus. «Nun ja, es gibt auch unvorteilhafte Demaskierungen.»

 

Hallo Anakreon,

ich komm noch mal drauf zurück. Ich find die Diskussion mehr als interessant und an einem schönen Beispiel aufgetan, vorweg aber schon mal'n paar Schnitzer (ohne Gewähr auf Vollständigkeit).

Erst nach drei Stunden gelang esKOMMA ihre Personalien einwandfrei zu klären, ...
Ja, ich glaube zu wissen, dass es in Bünden - gleich welcher Sprachlehre man folgt - kein einheimisches Wort fürs Komma gebe. Freilich hat Herr Konrad Duden nicht nur preußische und Reichsgebiete usurpiert und unter sein gestrenges Regiment gebracht. Nach der letzten großen Reformation ist der Infinitivsatz in seiner überwiegenden Erscheinungsform unter eine kann-Regelung gestellt worden (wo wir schon mal vor Gericht stehn: warum gibt's unter den Sprach- und Schriftgelehrten nicht so etwas feines, wie eine soll-Regelung, die machen doch erst richtig Spaß!) mit einer gehörigen Zahl von Ausnahmen (siehe unter K 117, Duden Bd. 1). die immer noch unter muss-Regelungen fallen, wie der zitierte Satz. Beim öffentl. Aufsehen weiter unten gehts doch ...

Auf der Besuchergalerie war einzig ein Volontär vom «Bündner Tagblatt» Platz anwesend.
Platz zu viel oder was zu wenig?

Dem von mir eingereichten Entlastungsmaterial liegt auch ein ärztliches Gutachten bei, dass dies bestätigtKOMMA und die ...

Die Angeklagte wird in Abwesenheit, wegen Geschwindigkeitsübertretung zu einer Ordnungsbusse von einhundertsechzig Franken verurteilt.
Zur Abwechselung ists Komma entbehrlich.

Und außer der Reihe - was ihr ein lustig' Völkchen seid:

"Polizei-Verfügung No. 2046 vom 29. Oktober 1866

Herr Keller, Staatsschreiber, an der Kirchgasse No. 33, hat vom 27/28t Oktob. 66, Nachts 1 ½ Uhr, in betrunkenem Zustande, an der Storchengasse durch Lärmen & Poltern an der Haustüre des Café littérrire, die nächtl. Ruhe gestöret u. beschimpfte die Polizisten, welche ihn warnten, auf insolente Weise“

zitiert nach "Leben, um von zu erzählen, dass kein Krieg um Troia sei", Kapitel V

Gruß vom langsam auftauenden

Friedel

 

Hallo Friedel

Dies ärgert mich jetzt aber. Beim mehrfachen Durchlesen bin ich mit diesem schaulustigen Platz im Gerichtssaal doch auf die Nase gefallen, einfach nicht mehr wahrgenommen. Dabei meinte ich, dieses Wort bei den diversen Umstellungen gelöscht zu haben. Ich verordne mir gleich ein Wahrnehmungstraining. Auch die neuen Kommaregeln bläue ich mir nun endlich ein, damit ich zumindest hier keine Kapriolen mehr schlage.

Eigentlich erwartete ich Hiebe für den freudschen Versprecher, den ich Calglüna scherzhaft in den Mund legte, hin und her überlegend, ob ich mir dies wirklich noch leisten kann. - Aber was nicht ist, kann ja noch werden.

Unglaublich, was der Gottfried Keller in seinem Beruf alles erleben musste. In der engen Storchengasse musste dies damals zu nächtlicher Stunde ja recht laut geklungen haben. Auch hundert Jahre nach der Polizei-Verfügung No. 2046 gab es ein Café Littéraire in Zürich, allerdings nicht mehr an der Storchengasse. Doch hatte es den Ruf, dass galante junge Herren von reiferen Damen gern zum Kaffee eingeladen wurden. Heute gibt es diesen Ort nicht mehr. Ja, ja, was es so alles gibt, der Schweizer Keller ist doch ein wahrer Fundus.

Auf den weiteren Diskurs zum Stück bin ich ja recht gespannt, den Du ankündigst. Ich war darauf gewappnet, mit dem Thema nicht nur auf Gegenliebe zu stossen. Aber wenn die Gegner es nicht wie die Bauern machen, die spritzen etwa Gülle, wenn ihnen etwas nicht passt, halte ich meinen Kopf zur Gegenrede hin.

Gruss zu mitternächtlicher Stunde

Anakreon

 

… Ich war darauf gewappnet, mit dem Thema nicht nur auf Gegenliebe zu stossen. Aber wenn die Gegner es nicht wie die Bauern machen, die spritzen etwa Gülle, wenn ihnen etwas nicht passt, halte ich meinen Kopf zur Gegenrede hin,
< was Du gar nicht bräuchtest,

lieber Anakreon,

denn was uns hier geboten wird, ist ein geradezu klassisches Kammerspiel (in der Einheit von Zeit & Ort) mit einem überschaubaren Personal, als da wären
das Publikum, vertreten allein durch einen Volontär vom

«Bündner Tagblatt»
(und – natürlich unsichtbar, wie die Hauptperson – der geneigte Leser, der ja mitliest, was der Praktikant da berichten wird, und doch nicht vorzeitig den Text verlässt),
der Einzelrichter
Roman Claglüna
und
Leza Donatsch
, der Anwalt der verklagten Hauptperson,
aber abwesenden
Regina à Porta
, in der sich das ganze moderne Elend unseres an Jahrhundertereignissen so reichen Jahrtausends, pardon, Jahrzehnts seit 9/11 sammelt, denn es wird genügend Leute geben, die einen Felsbrocken an sich schon für eine Naturkatastrophe halten wie den altehrwürdigen Baum, der sich dem einen oder andern Fahrer schon mal völlig überraschend in den Weg stellt ….

Bisher kannt ich nur das Chur aus dem Dreißigjährigen Krieg, wie’s im Jörg Jenatsch beschrieben wird, doch nun lerne ich auch etwas über die moderne Dritte Gewalt, die freilich nicht wesentlich anders zu sein scheint als hierorts. Schad, dass die Gerichtssprache Neuhochdeutsch ist, hätte mir gern ein wenig Churwelsch gegönnt. Aber auch so ist’s köstlich: eine überhöhte Geschwindigkeit

von 14 Stundenkilometer
[+ n] führt zu einer kleinen Gerichtsposse in der Linie
Gesichtsbedeckung / weisse Gesichtsmaske (vermutlich ein Verband?) – Integralhelm – Burka – Vermummung
, wobei sich ein altbewährtes Gesetz bestätigt: Angst vorm Fremden spielt vor allem dort eine (auch politische) Rolle, wo das Fremde erst sehr schleierhaft (ich will’s mal „burkesk“ nennen) bis gar nicht aufgetaucht ist. Von Xenophobie lassen sich selbst „aufgeklärte“ Intellektuelle – hier vertreten durch den Richte C. - nicht freisprechen, vor allem, wenn es ihrer Argumentation dient, was mich erst mal wieder auf abschweifende Wege bringt, die – da bin ich mir sicher – in den Text zurückführen.

Nach einer regierungsamtlichen Marketingtheorie ist jedermann nicht nur König Kunde, äh, Konsument, der zu fressen habe, was ihm geboten wird, sondern zugleich potentieller Terrorist. Zufolge eines unbestimmten Gerüchtes aus gemeinhin wohlunterrichteten Kreisen, soll es mehr Terroristen als Einwohner geben. Da ist die Logik schon messerscharf, wer nix zu verbergen habe, brauche sich auch nicht vermummen, wer vermummt sei, mache sich schon verdächtig. Möge der Winter in Sibirien bleiben!

Nun, das Drama beginnt mehr als ein Jahr vorm Schauspiel, dem wir beiwohnen. Das Gesicht der beklagten Frau Porta, die sicherlich von südländischem Temperament und exotischer Schönheit ist, war durch einen Unfall schwer entstellt, dass sie eher als Mumie, denn gebrandmarkte Schönheit ihren weiteren Lebensweg beschreitet.
407 Tage nach der Tragödie gerät sie wieder mit Polizei zusammen, eben bezeichneter Geschwindigkeitsüberschreitung von Sage und schreibe 14 km/h, dass der verfolgenden Streife erst nach 600 m gelingt, die „rasende“ Frau zu stoppen … Werden da Vorurteile über die Schweizer Langsamkeit bedient? Aber wichtiger ist die Frage: Was eine

eindringliche Intervention
der wahrscheinlich hilflosen Streifenpolizisten bedeuten könne.

Nun erst beginnt das Kammerspiel, dem wir beiwohnen: Richter und Anwalt kennen sich. Ein Schnellverfahren wird durchgezogen, der Anwalt fürchtet aber, dass die politische Haltung des Richters eine Rolle spielen werde – und so kommt’s:

«Als geringfügig, erachte ich es nicht, wenn jemand mit verdecktem Gesicht durch die Gegend fährt und sich der Kontrolle durch die Polizei widersetzt. Die Polizisten mussten situativ die Möglichkeit erwägen, eine Terroristin vor Ausübung eines Gewaltaktes gestellt zu haben»,
was noch verstärkt wird durch sein Statement, es sei ihm bekannt
« …, dass in unserer Region ein Aufkommen von Autofahrerinnen mit Burkas festzustellen ist ...»

So viel oder so wenig für heute, denn der Text sollte keineswegs nur "ein Publikum" haben wie das Schnellverfahren ...

Gruß

Friedel

 

Lieber Friedel

Den scherzhaft erwähnten Güllenspritzer erwartete ich natürlich nicht von Dir, er hat denn mehr damit zu tun, wie die Idee zu dieser Geschichte zustande kam. Vor einigen Monaten hatte ich öffentlich mein Verständnis für Hans Saner ausgedrückt, den Basler Philosophen. Er war sehr betroffen, über das vom Volk gesprochene Minarettverbot in der Schweiz. Sein Schwiegersohn ist im islamischen Glauben geboren. Meine Äusserung wurde mit einem güllenspritzerartigen Pamphlet quittiert, dass ich eines Morgens dem Briefkasten entnehmen durfte. – Ein Zeitgeist, den einzufangen ich mir nicht entgehen lassen wollte.

Schön, wie Du dieses kleine ironische Stück in Kellerscher Manier interpretierst. Ich betrachte es nun beinah mit erweiterter Perspektive. Mit Churwelsch hätte ich allerdings meine liebe Not gehabt. Meine eigene Sprache ist ein Gemisch verschiedener Dialekte, der man eine frühere Unrast bei den Domizilen entnehmen könnte.

Ach gut Güte, die Zeit hat es wieder eilig, ich muss ...

Gruß

Anakreon

 

Hi Anakreon!

Zwei Kleinigkeiten:

erscheint ihre Massnahme einer Gesichtsabdeckung

Maßnahme (auch nach der Reform, da langsam gesprochen)

Dieser schaute ihn Nachdenklich an

nachdenklich


Ein wenig störte meinen Lesefluss dieses förmliche Geplänkel zwischen Anwalt und Richter, aber das war ja bestimmt gewollt.

Hervorragend, dass sich mal jemand dieses literarisch sicher nicht leicht zu verarbeitenden Stoffs annimmt. Quo vadis Schweiz?

 

Hallo T Anin

Danke für deine Hinweise und Kommentare.

Die Schweizer sind zuweilen in verschiedener Hinsicht Querulanten oder Querdenker, weshalb sie sich auch nach der Reform mit Billigung der zuständigen Entscheidungsträgern generell gegen das „ß" sträuben. :D

Das Gefäss einer Gerichtsverhandlung wählte ich nach verschiedenen andern Versuchen, die heikle Thematik zu verpacken. Mehr Dramatik hätte den Rahmen der Kurzgeschichte schnell gesprengt, was eine personennahe Darlegung verunmöglichte. Auch wollte ich den politischen Aspekt dahinter eher verdeckt-witzig durchklingen lassen. Der Preis war, wie du richtig siehst, eine eher förmliche Verhandlung, doch mit hohem Realitätsbezug bis zum Bussgeldbetrag.

Wohin die Schweiz geht? Nun, die föderalistische Schweiz ist in ihrer heutigen 162jährigen Staatsform und auch zuvor, so manchen Umweg gegangen. Sie wird auch aus den momentanen Irrungen und Wirrungen wieder herausfinden.

Deine letztlich positive Einschätzung, dieses Thema abgehandelt zu haben, freut mich.

Gruss

Anakreon

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo T Anin,

die Ausnahme wird im Duden Bd. 1, K160 1, abgehandelt,wo's heißt:Fehlt das ß auf der Tastatur …, schreibt man dafür ss. In der Schweiz kann das ß generell durch ss ersetzt werden.
Hier finden sich auch Querverweise ins eigentliche Reformwerk, dass am Ende des Bandes abgedruckt ist.

Zudem kann ich Anankreons Anmerkung zur Schweiz nur bestätigen. die sich freilich nicht der Globalisierung entziehen kann - genauso wie umgekehrt (siehe Diskussion hierzulande um Bürgerbegehren u. dgl. Die Kommunarden vom März 1871 wollten die frz. Republik nach Schweizer Vorbild umformen.

Muss nun doch noch einmal auf dieses schöne Kammerspiel zurückkommen,

lieber Anakreon,

denn das ist das schöne an der Kopftuchdebatte, dass sie immer wieder im christlichen Abendland belebt wird. Dabei wird auch immer wieder darauf hingewiesen, nicht alle muslimischen Frauen trügen ein Kopftuch, geschweige denn die Burka. Dieser Hinweis soll den Trägern von Kopftuch/Burka erschweren, gar unmöglich machen, sich auf Glaubens- und Religionsfreiheit zu berufen. Freilich sinds individuelle Freiheiten, dass den Trägern ziemlich schnurz sein kann, was andere denken oder auch tun. Oder wer würde sich vorschreiben lassen, wie er die Händchen zum Gebet zu falten habe und wenn er sie in der Hosentasche behielte?!
Das weiß der Richter und daraus gewinnt die Komödie ihren eigentlichen Reiz, da er selbst keine Burkas im Straßenverkehr kennt

«Es ist mir nicht bekannt, dass in unserer Region ein Aufkommen von Autofahrerinnen mit Burkas festzustellen ist,
andererseits er um das entstellte Gesicht und der Eitelkeit der Beklagten weiß, und es doch nicht als geringfügig erachtet und die wahrscheinlich anfangs medizinisch notwendige Vermummung des verunzierten Gesichtes in Zusammenhang mit dem Vermummungsverbot bei Demonstrationen bringt
wenn jemand mit verdecktem Gesicht durch die Gegend fährt und sich der Kontrolle durch die Polizei widersetzt. Die Polizisten mussten situativ die Möglichkeit erwägen, eine Terroristin vor Ausübung eines Gewaltaktes gestellt zu haben
kurz: der
Burka-Reflex
ist in meinem Wortschatz angekommen.
Jetzt wäre nur noch der Duden zu erobern ...

Gruß

Friedel

 

Hallo Friedel

Der Burka-Reflex

ist in meinem Wortschatz angekommen.
Jetzt wäre nur noch der Duden zu erobern ...
Da hinkt Duden ja Microsoft hintennach, denn dort ist er schon angekommen. (Meinen alten PC mit 45 Minuten Startzeit deponierte ich auf der Ebene von Martha, und der Neue hat das Office 10, welches zeitweise nachfragt, ob er meine „Unwörter“ an das Zentrum von Bill weitergeben darf.) Dementgegen erklärten die helvetischen Populisten nach ihrem jüngsten Schachzug vom vergangenen Sonntag, dass die Islamisten für sie keine Priorität mehr hätten. Dabei berühren diese mich eigentlich genau so viel wie gefaltete Händchen oder Politik, nämlich gar nicht oder einfach nur respektierend, wenn sie diesen verdienen. Aber die despektierlichen, einzig an politischer Machtgewinnung orientierten Haltungen sind mir suspekt genug, mich darüber zu mokieren und ab und an das rein poetische Terrain zu verlassen um ins Fettnäpfchen zu trampen. Doch meinen Füsschen geht es nach dieser Geschichte noch wohlan, und ich lache mir heimlich immer noch ins Fäustchen.

Das nächste Ränkespiel steht demnächst an, weit entfernt von Glaubenssätzen und sogar noch Jugendfrei, obwohl die Moral nicht ganz so lupenrein ist. Aber nach dem Fleddern an Martha, bin ich demutsvoll in mich versunken, habe gestrichen und gekehrt, dass kein Kamm-Stein, hoffe ich, mich zur geteerten und gefederten Schnecke machen mag.

Danke für Deinen Tenor zur Demaskierung.

Gruss

Anakreon

 

Hallo Anakreon,

ich finde die Form des Dialogs im Gericht, wobei die thematische Hauptfigur auch noch durch einen Anwalt vertreten wird, nicht sehr geschickt. Im Effekt fand ich die Geschichte, trotz ihrer gesellschaftlichen Relevanz, stinklangweilig und ich werde sie gewiss bald wieder vergessen haben.

Ich rege an, dass du einen zweiten Handlungsstrang nach dem Reißverschlussprinzip einwebst, in dem die Protagonistin und der Polizist sich in der konkreten Situation dargestellt werden.


Viele Grüße,
-- floritiv.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Floritiv

Dass du der kleinen Geschichte keine Zuneigung zuzugestehen vermagst, ja sie trotz ihrer gesellschaftlichen Relevanz stinklangweilig bewertest, bedaure ich. Doch es gibt mir eine Parallele an den „Wallenstein“ von Golo Mann. Durch Fachliteratur gewohnt mich durch trockene Werke zu beissen, kämpfte ich mich seinerzeit, als er neu herauskam, durch diesen Wälzer. Zu meiner Überraschung fand er neben kritischen auch begeisterte Stimmen. Aber so sind wir Leser, mal zu-, mal abgeneigt, aber nur selten homogen.

Deine Idee, nach dem Reissverschlussprinzip die Protagonistin gegenwärtiger einzuweben, ist mir nun ein Floh im Pelz. Vor meinem inneren Auge eröffnete sich das Geschehen auf einer Bühne, in Sequenzen verdunkeln die Lichter und die sichtbare Szene stockt, auf anderer Handlungsebene sind die Stimmen des Polizisten und der Frau vernehmbar, die Situation eskaliert. Es könnte gehen, in der KG natürlich angepasst, da keine Scheinwerfer gedimmt werden können.

Ich werde versuchen den Floh baldmöglichst abzuschütteln und Frau à Porta eine persönliche Stimme zu geben. Doch vorläufig falle ich zurück in die Horizontale, dem Virus seinen egozentrischen Labsal gewährend, der mich seit einer Woche mit Grippe ans Bett bindet.

Danke für deinen Tipp.

Gruss

Anakreon


Nachtrag:

Regina à Porta spricht (Kursiv) im Zeitpunkt der Gerichtsverhandlung, zwar abwesend, doch zu Hause darüber sinnierend. Bildlich kann man es sich in einem Theaterstück vorstellen, in dem sie nicht auftritt, ihre Stimme jedoch hörbar wird.

 

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