Unwetter naht
Endlich ist es soweit. Heute ist das große Spiel: Deutschland gegen Polen; und ich werde dabei sein, ganz nah an den großen Fußballhelden. Philipp Lahm, Michael Ballack und Jens Lehmann werden fast zum Greifen nahe sein. Schon sehe ich mich umringt von einer euphorischen Menschenmasse, allesamt in schwarz, rot, goldenen Farben eingehüllt, jubelnd und feiernd.
In bester Stimmung male ich mir liebevoll unsere Flagge auf beide Wangen, überlege kurz, ob ich nicht vielleicht doch mein gesamtes Gesicht in diese drei Farben einteilen soll, verwerfe diese Idee dann aber wieder.
Zum einen, weil ich mir nicht sicher bin, ob die Schminke dazu noch ausreichen wird, zum anderen, weil ich hinblicklich des guten Wetters nicht in Gefahr laufen will, dass mir der gesamte chemische Farbstoff bei einem, natürlich freudebedingten, Schweißausbruch in die Augen läuft.
Weiter geht es mit meinem frisch gebügelten Deutschland-Trikot, den neu gekauften Deutschland-Socken, der Deutschland-Kappe und zum Schluss dann die Vollendung durch die große Deutschland-Flagge. Patriotismus hin oder her!
Stolz bewundere ich mich kurz im Spiegel unserer Garderobe, schaue noch einmal auf die Uhr, nur um sicher zu gehen, dass ich auch wirklich noch genug Zeit habe, verabschiede mich schnell von meiner Frau und mache mich auf den Weg zum Stadion direkt in Dortmund.
Kaum bin ich auf der Straße, stoße ich bereits auf die ersten „Gleichgesinnten“, falle alsbald in ihre Loblieder bei und lasse mich geradezu die letzten Meter ins Stadion treiben.
Die Stimmung ist gut. Ach, was sage ich, atemberaubend, angespannt und ansteckend. Ich suche meinen Platz auf der Tribüne, finde ihn und entschließe mich schließlich noch etwas zu Trinken zu besorgen. Nach einer weiteren halben Stunde vielleicht, habe ich mich endlich mit einem kühlen Bier in der einen, die Flagge in der anderen Hand, zurück zu meinem Sitz gekämpft.
Der Anpfiff, das Spiel beginnt. Die ersten 45 Minuten verlaufen zwar spannend, aber ohne einen Torschuss. Doch der Atmosphäre bereitet das keinen Abbruch, immer wieder singen wir, die deutschen Fans, ermutigen die Spieler. Halbzeit. Ein neues Bier muss her.
Ich treffe auf dem Weg zurück zur Tribüne einen alten Bekannten, wir unterhalten uns kurz über das Spiel, tauschen schließlich sogar Telefonnummern aus. Doch mehr aus dem einfachen Grund, dass wir beide das Gespräch möglichst schnell verlassen möchten, um nichts zu verpassen, als dass wir wirklich die Absicht hätten uns bei dem anderen zu melden.
Die zweite Halbzeit beginnt und somit konzentrieren sich meine Gedanken wieder völlig auf das Spiel. Die Polen werden stärker, kommen zu guten Torchancen. Noch immer steht es 0:0.
Ernüchterung macht sich breit. Als sich dieser Zustand in der 88 Minuten immer noch nicht gebessert hat, bin auch ich allmählich frustriert. Schon gehe ich weiter, fühle mich um meinen vorgestellten Sieg betrogen, um das dadurch entstehende Glücksgefühl. Ich spüre Wut in mir aufsteigen. Fast kommt es mir so vor, als das man mich ärgern will, nur unentschieden spielt, um mich zu kränken.
Ich schließe die Augen, noch ist nichts verloren, bete zu dem Fußballgott, dessen Existenz ich mir fast sicher bin, und hoffe. Gerade in diesem Moment, in dem ich das Gefühl habe völlig von dem Wunsch noch zu gewinnen ausgefüllt zu sein, ja förmlich daran ersticken zu müssen, richtet sich mein Blick nach vorne in den polnischen Strafraum. Es kommt mir so vor, als stünde die Welt still, würde mit mir den Atem anhalten.
Wie in Zeitlupe verfolge ich den wunderbaren Pass von Odonkor an Neuville, sehe diesen das Bein ausstrecken, den Ball langsam ins Tor fliegen. Schon löst sich die Stille, die Welt hat sich wieder. Unglaublicher Jubel bricht aus, Arme werden in die Luft geworfen, Leute umarmt, die man gar nicht kennt. Das Publikum kennt kein halten. Und ich bin mittendrin, Teil dieser fantastischen Gruppe, schöner, als ich es mir vorgestellt hatte.
Die letzten Minuten der Nachspielzeit sind ein einziges Fest. Wir singen, pfeifen uns um Verstand und Stimme und sind einfach nur glücklich.
In einem Rauschzustand, der definitiv nicht vom Alkohol kommt und auf mich eine Wirkung hat, als würde ich schweben, gehe ich aus dem Stadion und trete zurück auf die Straße.
Neben mir ist ein älterer Herr damit beschäftigt seinen Regenschirm zu öffnen. Er schaut kurz zu mir hoch, ein verbissener Zug umspielt seine schmalen Lippen und sagt dann halb zu mir, halb zu sich selbst so scheint es: „Unwetter naht.“
Mein Blick wandert unwillkürlich zum Himmel, der in der Tat verdächtig grau und schwer aussieht, ich nicke und gehe weiter.
Die ersten Tropfen fallen mir ins Gesicht, warm und sanft streicheln sie meine Haut. Ich bin gerührt. Gerührt vom Spiel, vom Sieg, vom Zusammenhaltsgefühl der Fans, ja sogar vom Regen. Aufgekratzt, wie ein kleines Kind laufe ich durch die Straßen. Es blitzt und donnernd um mich herum. Ich sehe anderen zu, wie sie sich schnell ins sichere Auto, in den nächsten Bus oder in die nächste Kneipe retten und lächle.
Lange stehe ich so da, mein Trikot völlig durchnässt, meine Schminke verlaufen, die Haare von Wind und Regen zerzaust und glänzend. Doch für mich ist es der perfekte Moment, den man nicht herbeizaubern kann, der einen plötzlich, ganz unerwartet überwältigt und in einer Art und Weise berührt, die tiefer geht, als alles zuvor. Mir fehlen die Worte: Danke Deutschland! Danke Fußball!