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Unzählbare Wörter

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24.04.2003
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Unzählbare Wörter

Es sind genau dreiundzwanzig Kreise versteckt in dem spiralenförmigen Muster meiner Tapete. Die meisten auf der linken Seite, lediglich sieben ganz rechts.
Irgendwann habe ich einmal etwas über die Illuminaten, oder Freimaurer gelesen. Die dreiundzwanzig soll bei ihnen so eine Art von Erkennungszahl darstellen. Keine Ahnung ob das stimmt und eigentlich interessiert es mich auch nicht. Es gib viele zählbare Dinge in diesem Zimmer, die dreiundzwanzig findet sich aber bloß zweimal in ihnen wieder, also wird es wohl Zufall sein.
Gardinenringe hängen zum Beispiel zweiundfünfzig über dem Fenster, auf meinem Teppich finden sich genau zweihundertvier unterschiedliche Formen, wobei jeweils fünfzig von ihnen gleich sind, sie also in vier Gruppen unterteilt sind, plus die vier großen an den Ecken. Ich habe drei verschiedene Bettbezüge, von denen einer dreihundertachtundsechzig klein aufgedruckte Meerestiere abbildet, einhundert Haie, neunzig Tintenfische, fünfundsiebzig Seesterne und so weiter. Irgendwann, als ich alle drei Bezüge zum dritten mal durchgezählt hatte, fiel mir dann auch auf, dass sie alle nach einem bestimmten Muster funktionieren. Es gibt eine Hauptgruppe, die mit Abstand am meisten vertreten ist, anschließend geht die Zahl kontinuierlich bergab, im Bezug mit den Meeresbewohnern stehen die Muscheln an letzter Stelle, es sind gerade einmal fünfzehn von ihnen zu finden. Ich habe mich oft gefragt ob der Designer des Stoffes eine Abneigung gegen Muscheln hatte, als er ihn entworfen hat. Vielleicht leidete er einmal unter einer Eiweissvergiftung, nachdem er eine bereits vor der Zubereitung tote Muschel gegessen hat? Ich weiss es nicht und im Grunde ist es mir auch gleich, nachdenken muss ich trotzdem oft darüber.
Ich stehe auf und schiebe die sechs Rollen meines alten Bürostuhls zur Seite. Es ist kalt geworden, die Heizung steht auf Sparbetrieb.
Ich schätze die Temperatur im Raum auf siebzehn komma fünf Grad, eventuell achtzehn. Drei Grad mehr und mir wäre nicht mehr kalt. Ich habe mir oft eine Heizung gewünscht, bei der man die Temperatur bis auf zwei Stellen nach dem Komma genau regeln kann, denn ich frage mich ab wann es mir nicht mehr kalt ist. Bei wieviel Grad Celsius empfinde ich Unwohlsein, wieviel Wärme muss sich im Zimmer ausbreiten, damit dieses Unwohlsein in Behaglichkeit umschlägt? Wäre es mir bei zwanzig komma vier drei Grad noch ein wenig zu kühl, bei zwanzig komma vier vier aber nicht mehr? Woran lassen sich solche Grenzen ausmachen?
Draußen auf der Strasse parken vier Autos, zwei von ihnen sind grün. Während ich sie betrachte fällt mir auf, dass ich mein Fenster dringend putzen muss und ich grinse kurz als ich dreiundzwanzig Fettflecken auf ihm zähle.
Zweieinhalb Löffel Instantkaffee und ganz genau dreihundert Milliliter Wasser für eine Tasse. Nach zwei Minuten und einunddreißig Sekunden springt der Schalter des Kochers nach außen, mein alter war zehn Sekunden schneller, ist aber leider kaputt gegangen.
Ich sitze immer auf der Küchenbank wenn ich Kaffee trinke oder esse, die fünf Stühle brauche ich eigentlich nicht. Während ich den Zuckerwürfel mit dem Löffel verrühre, von denen jetzt nur noch drei saubere in der Schublade liegen, überlege ich wann ich neuen kaufen muss, zehn Würfel müssten noch bis Mittwoch reichen, wenn ich nicht zu viel Kaffee trinke, also drei Tage. Fünfzig Würfel pro Packung, einer je Tasse, das sind fünfzehn Liter bis zum nächsten Einkauf. Vielleicht sollte ich diesmal direkt zwei Schachteln holen?
Einkaufen gehört zu den weniger schönen Dingen des Lebens, dann bin ich unter anderen Menschen, die mich anschauen, wenn ich anfange in den Regalen zu zählen. Manche von ihnen flüstern miteinander während sie mich anschauen und fangen dann an zu lachen. Eine Frau hat mich vor ein paar Monaten gefragt ob sie sich die Salami aus der Kühltruhe nehmen dürfe, oder ob sie damit mein System durcheinander bringen würde. Das Ganze war sehr peinlich.
Ich weiss, dass ich krank bin und ich wünschte mir ich könnte endlich mit dem Rechnen und Zählen aufhören, deswegen habe ich alle meine sieben Freunde verloren. Mein bester Kumpel hat es noch am längsten mit mir ausgehalten, bei ihm ist der Faden dann aber gerissen, als ich sechs mal hintereinander in sein Schlafzimmer geplatzt bin, während er mit seiner Freundin schlief. Es tat mir so unendlich leid. Als er die Tür schließlich wütend abgeschlossen hatte, liefen mir Tränen über die Wangen, als ich sie eintrat. Wir hätten zuvor nicht in diesem Raum sitzen und reden dürfen sagte ich ihm. "Das darfst du nie mit mir machen, wenn ich später nicht mehr reindarf!", flehte ich ihn an als er mich packte und rausschmiss. Er hätte sehr viel Geduld mit mir gehabt, aber ich bräuchte mich nie wieder blicken zu lassen. Das war das letzte was ich von ihm gehört habe und das alles bloß weil ich noch nicht mit den Büchern im Regal fertig gewesen war.
Dieser Abend liegt jetzt schon vierhundertachtundsiebzig Tage zurück. Elftausendvierhundertzweiundsiebzig Stunden in denen ich mit niemandem mehr gesprochen habe, außer mit mir selbst.
Auf der Spüle liegt ein schmutziges Messer, ich greife danach. Es ginge ganz schnell, zwei kurze Stiche und ich müsste nie mehr zählen, aber ich bin zu feige dafür. Stattdessen betrachte ich die Klinge und stelle fest, dass sie fünfzehn Zacken hat, wobei die vorderen beiden ein wenig länger sind als die anderen. Der Griff ist an seiner Unterseite mit acht Einkerbungen verziert.
Ich denke an dich mein Schatz, seit du weg bist zähle ich selbst die Minuten. Fünf Millionen und einhundertzweiundachtzigtausenddreihundertsechsundsiebzig von ihnen ist es her, als ich das erste mal mit dem Zählen begonnen habe. Die Nacht in der du starbst, aus acht Metern und fünfundachtzig Zentimeter Höhe auf dem Asphalt aufschlugst, genau dort wo jetzt eines der beiden grünen Autos steht. Dann plötzlich denke ich an Mittwoch und die anderen Menschen.
Sei einmal nicht feige, sage ich mir. Sei nur ein einziges mal in deinem Leben nicht ängstlich. Zweimal blitzt es, warmes Blut läuft mein Gesicht herab, ich kann es nicht mehr sehen.
Drei Schritte vom Stuhl aus, dann nach links drehen und zwei geradeaus. Im ersten Schrank links ist Desinfektionsmittel und Verbandsmulde. Ich hoffe die Wunden werden sich nicht entzünden, ich werde ein paar Stunden warten und dann einen Krankenwagen rufen, wenn der Schmerz nicht nachlässt. Aber eigentlich stört er mich nicht, denn jetzt bin ich endlich frei, nie wieder zählen!
Ich kann meine Uhr nicht mehr lesen. Fünf Stunden werde ich warten. Eins...zwei...drei...vier....

 

Hallo Cerberus!

Gute, klar geschriebene Geschichte, die auf mich einen sehr bedrückenden Eindruck macht (die Zwangsneurose Deines Protagonisten ist verständlich geschildert).

Eine Horror-Geschichte ist das jedoch in meinen Augen nicht (in Gesellschaft wäre sie vielleicht besser aufgehoben).
Das trübt aber nicht die Wirkung Deines Textes.
Der Grund für seine Zwangsneurose wird angenehm spät in der Geschichte erklärt, und das Ende (obwohl man einen derartigen Ausgang erahnen konnte) fügt sich in die beklemmende Atmosphäre ein.

Vielleicht mögen andere LeserInnen nicht dieser Meinung sein, doch mir hat Dein Beitrag sehr gefallen.

Vimes


Diese Antwort enhält fünfundneunzig Worte...

 

Hallo Cerberus,

die Idee deiner Geschichte hat mir gefallen und auch die sprachliche Umsetzung ist dir gut gelungen.

Ich meine sogar mal gehört zu haben, daß es eine solche Krankheit, bei der der Betroffene zwanghaft Dinge zählt, gibt.

Was ich nicht ganz nachvollziehen konnte, war der Zusammenhang zwischen dem Tod seiner Freundin/Frau und seiner Neurose.

Vimes hat zwar recht, daß es sich nicht wirklich um eine Horrorstory im klassischen Sinne handelt, aber mich stört das Posting in diesem Forum nicht. Blut und Gedärme lösen bei mir keinen wirklichen Horror aus (auch wenn ich´s ganz gerne lese). Das gelingt nur Geschichten, die auf einer psychischen Ebene spielen, und das ist ungleich schwieriger umzusetzen als die Beschreibung von Gewaltszenen. Und für mich persönlich ist der größte "Horror" das Ende einer Beziehung.

Was mir noch aufgefallen ist:

Ich sitze immer auf der Küchenbank wenn ich Kaffee trinke oder esse...
Ich bin darüber gestolpert. Beim Lesen "hörte" es sich so an, als würde er den Kaffee sowohl trinken als auch essen.

Mein bester Kumpel hat es noch am längsten mit mir ausgehalten, bei ihm ist der Faden dann aber gerissen, als ich sechs mal hintereinander in sein Schlafzimmer geplatzt bin, während er mit seiner Freundin schlief.
Hört sich nicht sehr realistisch an. Das Spielchen würde ich ganz sicher nicht sechsmal mitmachen. Vielleicht könntest du es auf zwei oder maximal drei "Störungen" reduzieren. Wobei ich persönlich einen solchen Kumpel schon nach dem erstenmal hochkant aus der Wohnung geworfen hätte. :gunfire:

Als er die Tür schließlich wütend abgeschlossen hatte, liefen mir Tränen über die Wangen, als ich sie eintrat.
Vorschlag: "Er hatte die Tür schließlich wütend abgeschlossen. Als ich sie (nun/daraufhin) eintrat, liefen mir Tränen über die Wangen."

Grüsskes,
Somebody

 

Hi Cerberus,

ich möchte dir zu dieser mE nach wirklich gelungenen Geschichte gratulieren. Ich bin nachhaltig beeindruckt, auch wenn ich jetzt nicht wieder die ganzen mir aufgefallenen Fehler aufliste, da du meine mühevolle Arbeit an deiner letzten Story bislang ignoriert hast. :rolleyes:
Trotzdem, weiter so. Ich freue mich schon...

Viele Grüße, Murphy.

 

Ja, find ich auch nicht schlecht, was das stilistische angeht, abgesehen von etwas kleineren Sachen.
Den Horror konnte ich jedoch ebenfalls nicht richtig erkennen. Ist wohl Geschmackssache.

Leif liegt im Bett und meint, dass es ein Fall für "Experimente" sei.

Sehe ich genauso.

Weiter so.

 

Hallo Vimes,
danke für die Blumen! *g

Hallo Somebody,
der Zusammenhang zwischen dem Tod seiner Frau und seiner Neurose ist ungeklärt. Möglicherweise hatte er vorher schon Probleme und hat sie damit in den Wahnsinn getrieben, oder aber genau umgekehrt.

@Xenomurphy
Sorry, dass ich deine vorherigen Vorschläge bislang ignoriert habe, ich hatte in den letzten tagen leider net soviel Zeit *schäm*

@Uffmucker
Tja, bin mir bei den Rubriken selbst nie so ganz sicher. "Experimente" wäre wohl auch eine (vielleicht bessere) Möglichkeit zum posten gewesen.

Und @ALL
Die angesprochenen Unstimmigkeiten und Fehler werde ich mir noch vornehmen!

Viele Grüße

Cerberus

 

Zuerst: Schöne Geschichte. Ich mag sehr kurze knackige Geschichten sowieso. Hab auch garnicht viel daran auszusetzten bis auf den oben angesprochenen punkt:

bei ihm ist der Faden dann aber gerissen, als ich sechs mal hintereinander in sein Schlafzimmer geplatzt bin, während er mit seiner Freundin schlief.

ich habe mich gefragt, warum der protagonist denn überhaupt noch in der wohnung ist. Also wenn ich besuch habe und mit meiner freundin schlafen mag, dann werde ich diesen besuch zuerst los, und dann fang ich erst an mich über meine freundin herzumachen. klingt mir etwas zu unlogisch das alles. kannst es ja so machen, das der protagonist zu dieser zeit noch mit dem freund in einer wohnung gelebt hat. das ist garnicht so verkehrt, weil wenn ihn der freund dann rausschmeisst kannst du noch ein bischen mehr über die neue wohung schreiben. (anzahl der treppenstufen zur haustür. schritte von der küche zur toilette...) obwohl... eigentlich kommen schon genug zahlen rüber mehr dürfte es fast nicht sein. liegt an dir.

jedenfalls hat mir die geschichte gut gefallen. bis auf die oben erwähnte sache. da solltest du noch ein wenig dran arbeiten...

weiter so... *malnachanderenstoriesvondirsuch*

 

Der Story fehlt zwar jegliches Übernatürliche, aber Horror ist es spätestens, wenn es zum Augenausstechen kommt.

Das mit dem sechsmal ins Zimmer ist mir auch aufgefallen, ansonsten kann ich nur sagen: exzellent!

Und es ist selten, daß ich mal kein Haar in der Suppe finde...

r

 

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