Uranschranken, doppelte Pubertäten und die Rückkehr zum guten alten Sex
New York am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Emsig wie Insekten auf Futtersuche überfluteten die Menschen den Times Square und penetrierten die Geschäftseingänge wie die Öffnungen von Ameisenhügeln. Sie traten in die Geschäfte meist mit leeren Händen ein und verließen sie mit Einkaufstüten beladen wieder. Ein Mann namens Smith saß im feinen Nadelstreifenanzug auf der Parkbank und vertiefte sich in die Morgenzeitung. Ab und zu linste er grinsend über den Zeitungsrand auf das wohlgeformte Hinterteil einer jungen Dame, die im kurzen Rock neben ihm saß und die Beine übereinander geschlagen hatte. Vor ihnen wurde eine klapprige alte Oma von einer riesigen Dogge durch die Gegend geschleift. Ein blonder junger Mann in einem Norwegerpullover bot der alten seine Hilfe an, aber sie bestand darauf, selber mit dem Köter fertigwerden zu wollen. Aus der Richtung vom Broadway Theatre tönte der Sound von Gitarren. Eine ACDC-Coverband namens BCDC heizte der umstehenden Menge mächtig ein. Der Angus - Young lookalike hüpfte auf einem Bein gitarrenspielend durch die Gegend und der Sänger röhrte ins Mikro:
"Rock'n'Roll aint noise pollution! Rock'n'Roll aint gonna die! Rock'n'Roll - it will survive!"
New York am Anfang des einundvierzigsten Jahrhunderts. Emsig wie Ameisen auf Futtersuche überfluteten die Menschen den Times Square und penetrierten die Geschäftseingänge wie die Öffnungen von Ameisenhügeln. Sie traten in die Geschäfte ein, liefen darin ein paar Runden und gingen wieder raus. Ein Mann namens Smith saß in einem langweiligen weißen Anzug auf der Parkbank und hielt die Hände hoch, als ob er Zeitung läse. Ab und zu schaute er über den imaginären Rand seiner Zeitung auf den wohlgeformten Hintern einer jungen Dame, die in einem fantasielosen weißen Rock neben ihm saß und die Beine übereinander geschlagen hatte. Vor ihnen tat eine klapprige alte Oma so, als ob sie von einem großen Hund gezogen würde. Ein junger Mann in einem häßlichen weißen Anzug und Vollglatze wollte ihr helfen, aber sie schien nicht darauf eingehen zu wollen. Am Broadway Theatre gab es einen simulierten Menschenauflauf. Die glatzköpfige Menge jubelte ein paar Typen zu, die in weiße Kittel gekleidet waren und offenbar so taten als wären sie eine Rock'n'Roll - Band. Der Angus Young-lookalike hüpfte auf einem Bein luftgitarrenspielend durch die Gegend und der Sänger röhrte ins eingebildete Mikro:
"Rock'n'Roll aint noise pollution! Rock'n'Roll aint gonna die! Rock'n'Roll - it will survive!"
Cathrin fühlte sich in ihrer Haut nicht besonders wohl. An jedem Schritt starrten die Leute auf sie als ob sie nicht von dieser Welt wäre. Immer wieder stieß sie mit jemandem zusammen oder kreuzte jemandes Weg und erntete böse Blicke. Sie schwitzte wie der Teufel unter ihrer Glatzenimitation, unter der sich ihre langen roten Locken anfühlten, als wären sie kochendes Spaghetti. Der unmodische weiße Kittel, den sie anhatte paßte ihr nicht richtig und machte das Gehen zu einer Qual. Irgendwo mußte doch diese verdammte Roseberg Street sein. Mittlerweile kam in ihr das Gefühl auf, daß ihr jemand folgte, aber sie hatte Angst, sich umzudrehen. Endlich kam sie an das Gebäude, das sie gesucht hatte und suchte zitternd mit dem Zeigefinger nach der richtigen Klingel. Bei "Arved Wiesl" drückte sie auf den Knopf, während sie sich ständig umschaute. Ein Knacken kam aus dem Lautsprecher, dann "Ja?"
"Arved, ich bins, Cathrin!"
"Mein Gott komm schnell rauf!"
Ein Summton erklang und sie stieß die Tür zum Hochhaus auf.
Arved sah, daß ihr der Schock ins Gesicht geschrieben stand als sie ins Zimmer trat. Sie nahm sofort die falsche Glatze ab, entledigte sich der weissen Laborkluft und fühlte sich nun in der schwarzen nietenbesetzten Lederjacke besser.
"Arved, ich dachte ich sterbe da draußen auf der Straße, das ist ja der reinste Wahnsinn..."
Er klopfte sich mit der Hand auf die Stirn.
"Ich sagte dir doch, du sollst nie zwischen zwölf und vier herkommen, schon vergessen?"
"Nein, aber das war die einzige Möglichkeit, dich sofort zu erreichen. Ich habe wie eine Verrückte versucht, dich anzurufen, aber die Leitungen waren tot..."
"Sind sie immer zwischen zwölf und vier..."
"Ich werde euch New Yorker wohl nie verstehen... aber im Moment gibt's wichtigeres. Jason hat mich beauftragt, sofort zu dir zu kommen um dich zu holen. Es hat gerade geklappt, den falschen Grenzbeamten einzuschleusen. Wenn du hier abhauen willst, musst du es sofort tun!"
"Ach du Scheiße!", sagte Arved entgeistert, "gerade jetzt, wo es am gefährlichsten ist?"
"Es ging nicht anders, Arved. Jason hat es irgendwie geschafft einen von den Grenzbullen um die Ecke zu bringen. Wir haben einen Typen präpariert, der genauso aussieht wie er und der steht gerade an der Grenze zu NY und wartet auf dich. Du solltest dich besser beeilen, bevor der ganze Spuk auffliegt. Das ist vielleicht die einzige Möglichkeit für dich, hier rauszukommen."
Hier rauskommen, dachte Arved und drückte dem rothaarigen Mädchen einen Kuß auf den Mund.
"Keine Zeit dafür jetzt. Beeil dich.", sagte sie.
Es klingelte an der Türe und sie zuckten erschrocken zusammen.
"Kacke, da haben wir den Salat", sagte Arved energisch "versteckt dich im Bad und keinen Muckser!"
Sie rannte ins Badezimmer, löschte das Licht und schloß sich darin ein.
Ein dicker Polizist kam die Treppe heraufgewatschelt und japste nach Luft als Arved die Tür öffnete. Er brauchte ein paar Atemzüge, bevor er sich an Arved wandte.
"Guten Tag, Sir. Tut mir leid, sie in diesen feierlichen Stunden zu stören. Sie können sich denken, ich mache das nicht gerne, aber wir haben den Verdacht, daß sich in diesem Zimmer ein Nachie befindet."
Arved versuchte, möglichst entgeistert auszusehen.
"Wie bitte? Ein Nachie? Kein richtiger New Yorker würde sich mit dem Gesindel abgeben. Ich muss doch bitten!"
"Es ist mir wirklich unangenehm, Sir. Aber wir haben Hinweise von mindestens dreißig Bürgern erhalten, die eine Person beobachtet haben wollen, die nicht hierher gehört. Sie soll in dieses Haus
gegangen sein. Ich muss jetzt leider alle Räume hier prüfen."
Der Cop zog einen länglichen Gegenstand aus seiner Tasche, der Arved an einen Kugelschreiber erinnerte.
"Ich muß jetzt einen Netzhaut- Scan mit Ihnen durchführen um ihr Alter zu bestimmen. Wären Sie so freundlich?"
Arved trat zum Polizisten vor und hielt ihm seinen Kopf entgegen. Der Polizist wartete kurz, dann schaute er auf die Anzeige auf seinen Handcomputer. Sie zeigte 2125 an.
Der Cop machte eine beschwichtigende Geste.
"Nichts für ungut Herr Wiesl. Damit ist der Fall für mich erledigt, die Leute können sich auch mal täuschen."
Er lächelte noch einmal sein verlegenstes Lächeln und stampfte davon.
Cathrin kam mit weit geöffneten Augen aus dem Badezimmer heraus, wobei sie ihre rote Mähne mit einer Bürste bearbeitete.
"Wie bist du den so schnell losgeworden? Ich dachte schon es wäre alles aus."
"Nun, ich bin halt eine Autorität hier, mein Wort zählt", sagte Arved mit einem Grinsen.
"Das ich nicht lache. So ein versiffter durch die Gegend bumsender Taugenichts wie du? Sag mal was wirklich war."
"Das ist hier so, Cathrin. Denen ist vollkommen egal was du tust oder wie du aussiehst. Wichtig ist nur dein Alter. Wer über eintausend Jahre alt ist, hat seine zweite Pubertät sicher hinter sich und wird als weise eingestuft. Darauf baut unsere ganze Gesellschaft auf."
"Was für ein Schwachsinn", meinte das Mädchen abwertend.
"Aber es stimmt. Bei uns begeht niemand Verbrechen oder sonstigen Unsinn. Es hat auch keiner Sex, niemand fühlt sich zur Gewalt hingezogen oder kommt auf komische Ideen."
"Außer dir."
"Ja, da ist was dran. Irgendwas hat sich bei mir anders entwickelt als bei allen anderen. Aber soweit ich weiß bin ich der einzige Fall. Und solange niemand was gemerkt hat konnte ich mein Doppelleben in Ruhe führen."
"Zweite Pubertät", murmelte Cathrin, "dabei habe ich erst kürzlich meine erste erfolgreich überstanden. Du bindest mir doch keinen Bären auf, oder? Wieso hat man bei uns drüben nie was davon gehört?"
Er seufzte. "Weil ihr Nachies seid. Kurzlebige Menschen merken nix davon weil sie erst gar nicht soweit kommen. Wenn du dich nicht täglich mit Nano-Assemblern vollstopfst, die deine Zellen reparieren, nachdem sie sich sieben mal geteilt haben, kommst du halt nicht in den Genuß der zweiten Pubertät."
"Ok, genug geredet, Uropi. Wir müssen jetzt weg oder es wird nie klappen. Irgendwann erklärst du mir mal wie die mich entdecken konnten, meine Verkleidung war doch perfekt..."
"Deine Verkleidung wars nicht, Cat"
"Sondern? Können die Gedanken lesen?"
"Ne, aber sie machen das schon seit Jahrtausenden und jeder hat seine feste Aufgabe da draußen auf der Straße, die merken halt schnell, wenn jemand neues auftaucht."
"Wie meinen? Die haben Aufgaben auf der Straße? Ich kapier nix."
"Ich erzähls dir im Gehen." Sie gingen ins Treppenhaus hinaus und Arved sprach weiter. "Sie ehren damit den Tag, an dem die Ewige Generation begann. Der Tag, an dem durch Volksabstimmung entschieden wurde, der Natur einen Schnippchen zu schlagen und auf Nano-Technologie im Körper umzustellen. Dieser denkwürdige Tag wird von den Einwohnern New Yorks jeden Tag zwischen zwölf und vier Uhr wiederholt. Jeder tut das, was er damals getan hat.
Das rothaarige Mädchen blieb abrupt stehen und schaute Arved fassungslos an.
"Habt ihr sonst nix zu tun? Ich meine Arbeiten oder sonstige sinnvolle Tätigkeiten?"
"Nicht nötig. Alles was wir brauchen, stellen Roboter her. Unsere einzige Aufgabe besteht darin, mit unseren weit entwickelten Gehirnen zu denken. Nach den Zeremonien, also nach vier Uhr geht jeder in sein Haus und denkt nach."
"Worüber denn?"
"Wie die Uranschranke zu umgehen ist."
Das Mädchen nahm Arved bei der Hand und sie traten auf die Straße hinaus.
Cathrin wurde mulmig, als sie sich vor Augen führte, was er vorher gesagt hatte. Es wußte also jeder, daß sie hier fremd waren. Sie standen da wie auf dem Präsentierteller.
"Was ist eigentlich deine Aufgabe, ich meine du bist doch auch ein New Yorker. Was hast du an dem ach-so-wichtigen Tag gemacht?"
"Wirst du gleich sehen", sagte Arved.
Sie näherten sich Times Square. Ein Mann namens Smith saß in einem langweiligen weißen Anzug auf der Parkbank und hielt die Hände hoch, als ob er Zeitung läse. Ab und zu schaute er über den imaginären Rand seiner Zeitung auf den wohlgeformten Hintern einer jungen Dame, die in einem
fantasielosen weißen Rock neben ihm saß und die Beine übereinander geschlagen hatte. Die junge Dame hatte die Blicke von Smith bemerkt und entschied gerade zu gehen. Sie stand auf, stelte sich auf die Zehenspitzen, um High-heels zu imitieren und rückte sich die nichtvorhandene Frisur zurecht. Sie ging etwa einen Meter vor Arved und Cathrin auf dem Bürgersteig und ließ mit jedem Schritt betonen, was für eine göttliche Figur sie hatte.
Arved sagte zu Cathrin: "So, pass auf, jetzt bin ich dran."
Er stieß zunächst einen anerkennenden Pfiff aus, sagte "Was für ein Arsch!" und versetzte der Ex-blondine einen Klaps auf den Po, worauf sie einen spitzen Schrei ausstieß. Vor ihnen tat eine klapprige alte Oma so, als ob sie von einem großen Hund gezogen würde. Ein junger Mann in einem häßlichen weißen Anzug und Vollglatze wollte ihr helfen, aber sie schien nicht darauf eingehen zu wollen. Der Junge Mann und die Oma drehten sich zu Arved um.
Die Oma sagte: "Ich hasse diese Grabscher!"
Der Junge Mann entgegnete: "Ich auch!"
Die alte Frau ließ ihre Riesendogge von der Leine und sagte "Faß!"
Der Junge Mann näherte sich Arved und jetzt konnte man sehen, daß er ziemlich gut durchtrainiert war. Er nahm Arved in so ne Art Schwitzkasten, während sich der übergroße Hund in Arveds Hintern verbiß. Arveds Augen quollen aus ihren Höhlen hervor und er erinnerte stark an eine Kaulquappe, so wie er jetzt nach Luft rang.
Er drehte mit aller Kraft den Kopf in Richtung Cathrin und sagte:
"Verstehst du jetzt, warum ich hier raus will?"
END