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Urubu
Du bist so hässlich, Urubu. Schau mich nicht so an mit deinen nackten Augen. So richtig unschuldig, treuherzig blickst du auf mich herab. Mich ekelt vor dir. Ich kenne dich, Urubu. Für dich gibt es keine Treue, kein Mitleid, keine Scham. Nur die Gier ist dein Herr. Du hackst deinen Brüdern die Augen aus um einen Leckerbissen, du zerrst an Fleisch, das sich noch windet im Schmerz. Die Grausamkeit hat deine Federn schwarz getränkt, auch wenn du rein und flauschig geboren bist, weiβer als die Milch, mit der unsere Kinder Dich gefüttert haben. Sie wollten mir nicht glauben. Haben dich aufgezogen wie einen Säugling, wie ein Menschlein. Deinesgleichen, einen Geier, einen Aasfresser! Sobald du fliegen konntest, hast du gestohlen, gehackt und gekratzt, Gedärme, Unrat und Verwesung ins Haus gebracht, das Unheil selbst zu uns gebracht. Und deine Federn wurden schwarz. Dein nackter Kopf, kein zartes Rosarot, nur schmutziges Grau. Schau mich nicht so an, Urubu. Ich kenne deine Gier. So schnell wirst du mich nicht holen. Ich habe ein ganzes Leben vor mir, den Reichtum eines langen Lebens - des Erlebten. Glück und Schmerz, Freude und Tränen, die ich Tag für Tag zurückholen kann, wecken aus ihrem Schlaf. Tage, für die ich noch lebe!
Schau hinaus auf den Steg, Urubu, siehst du die Kinder ins Wasser springen? Fernando hat erst schwimmen gelernt. Paulo meistert den Fluss wie ein Delphin. Er schwimmt so weit hinaus, dass seine Mutter die Farinha stehen lässt und warnend ihren Mörser schwingt. Sie kann nicht schwimmen und fürchtet sich vor Krokodilen. Laurinha! Paulo weiβ längst, dass sie nur bei Nacht jagen. Wenn wir abends am Feuer sitzen, zählt er eifrig die Augenpaare. Und siehst du, Urubu, wie Fernando seinen ersten Fisch fängt? Wie er ganz allein da drauβen in seinem Kanu steht, und seinen Speer kaum aus dem Wasser bringt, so schwer ist der Pirarucu. Beinahe lässt Laurinha Maria von ihrem Schoβ fallen, aus Angst, der Fisch ziehe den Jungen ins Wasser. Dort, de gebückte Gestalt unter dem Strohhut ist mein Vater, der schweigsam in der Abendsonne ans andere Ufer rudert. Hinter ihm ein Junge, der Paulo zum Verwechseln ähnlich sieht. Da sitze ich in dem Kanu, das wir zusammen gebaut haben. Er nimmt mich mit auf meine erste Jagd. Mein Herz schlägt schnell in Erwartung des Busches bei Nacht, die Laute locken, der Puma ruft. Ich bin ein Mann.
Ich bin ein Mann, Urubu, ein Mensch. Ich sterbe nicht, ich komme in den Himmel, sagen die Missionare, oder in die Hölle. Ins ewige Feuer, sagen sie, weil ich das Buch nicht verehre. Auf nichts geschriebenes einschlagen, nicht zustimmen, wenn man die Zeichen nicht versteht. Das hat mir der Vater beigebracht, und keinem fremden Mann trauen, das hat uns Caboclos nur Unheil gebracht. Die Indios sagen, wir laufen der Sonne nach ins Reich von Tiwijo, dem Herrn der Flut. Wir fliehen aus dem Grab und der Fluss trägt uns nach Westen. Doch wer soll mich zur Erde setzen? Den Regenbogen erreichen wir, wenn uns eine Schlange beiβt. Wenn du mich frisst, Urubu, wo bringst du mich hin? Du bist wie die Indios, die ihre Neugeborenen begraben, wenn sie zu schwach sind, und ihre Alten verkommen lassen. Nur Axa ist anders. Bei Vollmond fand ich ein geräuchertes Antabein mit einem Pfeil an der Tür befestigt. Er versteckt sich, aber ich weiβ, dass Axa es war. Er war damals noch klein, doch die Umklammerung der Anakonda auf der Brust kann ein Mensch niemals vergessen, auch nicht den erlösenden Schuss. Ich höre noch seine panischen Schreie. Axa ist immer nah. Zuerst war es Neugierde auf den weiβen Mann, der mit lautem Schall eine Schlange tötet. Er war mir immer nah und jetzt bezahlt er mir für sein Leben. Axa wird mich begraben. Er lässt mich dir nicht ausgesetzt. Das schuldet er mir. Du bist niedriger als die Indios, Urubu. Du tötest deinesgleichen, um sie zu fressen, wenn sie schwach und verletzlich sind. Ich bin ein Mensch, ein Caboclo, ein Mann des Flusses, ein Riberinho. Ich schwöre nicht auf das Buch der Missionare und huldige nicht Tiwijo mit Opfern und Gesängen. Wie mein Vater und dessen Vater zuvor, ehre ich den Sonnenaufgang, das Strömen des Wassers, den Wind in den Bäumen und den Regen. Ich huldige dem Himmel, den Wolken und dem Regenbogen, würdige sie mit jedem Atemzug, mit jedem Schritt, jeder Bewegung. Wohin sie meinen Geist auch bringen mögen. Ich sterbe nicht.
Zuerst ging der Vater. Er ging so still dahin, dass ich es kaum bemerkte. Schlief einfach ein, ruhig und tief. Ich grub ihm ein tiefes Loch neben dem Goiababaum. Mit jeder Schaufel Erde, die auf ihn fiel, wurde mir bewusster, dass ich auf mich gestellt war. Der Bruder und die Schwester suchten ein neues Leben, die Freiheit in der Ferne. Die Törichten! Die Mutter nahmen sie mit. Sie suchte die Ferne vom Schmerz und starb bald an gebrochenen Wurzeln. Laurinha blieb. Die Ihren waren schon lange weg. Die meisten waren schon gegangen, doch fiel es mir kaum auf. Ganz langsam, direkt heimlich, verwandelte sich die Ruhe in Leere. Die Besuche wurden seltener, schon lange kein Fest gefeiert, die Schule seit Jahren geschlossen. Die Händler hielten es nicht mehr für lohnenswert, den weiten Weg zu fahren. Damals lebte der nächste Weiβe sechs Stunden mit dem Floβ entfernt. Heute sind es zwei Tage bis zum Gut von Seu Raimundo, wenn er noch lebt.
Laurinha blieb, warum sie blieb, verstand keiner auβer mir. Unser erstes Kind verlor sie durch die Hiebe ihres Bruders. Er jagte es aus, damit sie frei sei. Ein freies Mädchen wollte er in die Stadt mitnehmen. Sie floh in der Nacht vor der geplanten Abreise, verbrachte drei Tage im Busch, bis sie es aufgaben und sie dort lieβen, wo sie sein wollte.
Laurinha, du warst wie der Maracanã, der sein Nest von Generation zu Generation auf dem selben Baum baut. Auch treu warst du, wie der Maracanã, der ein Lebensbündnis eingeht und zu zweit die Jungen eitel behütet, damit sie nicht ausfliegen. Deshalb bliebst du bei mir.
Der Regen gleitet an mir ab, Urubu, so wie er an dir abgleitet. Wenn du da sitzt mit gebeugtem Haupt und geduldig die Schauer über dich ergehen lässt, nur dann siehst du würdig aus. Würdig des Himmels und der Erde. Doch der Regen wäscht dich nicht rein. Auch mich nicht, ich weiβ, Urubu, auch mich nicht. Der Wind bläst mir kalte Güsse ins Gesicht. Die Hängematte ist durchnässt, aber ich rühre mich nicht. In der Hütte regnet es durch das Dach. Das Holz ist morsch, zwei Bretter am Boden schon gebrochen. Käfer und Spinnen kriechen nachts durch das Loch und breiten sich aus. Sie haben mich nicht ausgetrieben. Hier drauβen ist mein Platz. Der Fluβ ist mein Leben. Lass die Ameisen suchen, ob es im Haus noch etwas zu Essen gibt. Lass die Eidechsen dort Unterschlupf finden. Ich brauche kein Haus mehr. Ich dulde den Regen so gut wie du.
Ich konnte sie nicht halten, Laurinha, konnte sie nicht mehr behüten. Paulo und Tefilia waren schon fort. Paulo wollte sich selbst überzeugen. Er glaubte uns nicht, was wir noch nie gesehen hatten. Vom Zorn getrieben zerhackte ich sein Kanu, Laurinha, und hättest du dich nicht dazwischen gestellt, dann hätte ich auch ihn erschlagen und sein Blut wäre auf unserem Boden geblieben. Auch Tefilia wäre geblieben, hätte ich dem Fischer ins Herz geschossen und nicht ins Bein, wie du mich anflehtest es zu tun. So erreichten wir nur, dass sie mich hassten und trotzdem flohen. Sie wussten nicht, was sie hatten, verstanden nicht, was sie brauchten, sie machten sich auf die Suche. Als du gingst, Laurinha, da konnte ich sie nicht mehr halten. Kein Maracanã kann die Jungen alleine halten. Es gab keine Schüsse mehr, keine Axt versperrte ihren Aufbruch. Ich hatte keine Energie. Mir fehlte deine Kraft. Du ruhst so nah bei unserer Hütte, doch die Kraft verlieβ mich, als das Leben aus deinen Augen wich. Sie gingen dahin, Laurinha, einer nach dem anderen. Keiner hat sein Nest auf unserem Baum gebaut.
Belinda liegt in unserer Hängematte, eine Hand in deiner, den Rücken zu mir. Ich höre sie atmen, wir sehen sie an, sehen einander an, und hoffen, dass sie bleibt. Wir hören Carlos und Nestor atmen, Renata und Maria, so nah bei uns. Fernando schläft mit Vania auf der Veranda. Ich sehe die Angst in deinen Augen, Angst, dass sie nicht bleiben.
Ich öffne die Augen, von einem Zwicken am Bein geweckt, und sehe schwarz, sehe dein schwarzes Gefieder vor mir. Du hast mir den Rücken zugekehrt. Eine Kralle auf der Hängematte, die andere bohrt sich in mein Fleisch. Das Zwicken kommt von weiter unten. Ich richte mich erschrocken auf, meine Faust schlägt nach dir aus. Ein kurzer Widerstand, das Flattern, der Wind, die Federn in meinem Gesicht, Verwirrung. Dann sehe ich dich auf deinem Baum landen. Höhnisch schaust du auf mich herab. Ich werfe den Krug nach dir und er zerbricht. Du hebst nur gleichgültig deinen nackten Kopf und verspottest mich mit deinem Blick. Mein Bein blutet. Du hast mit deinem schmutzigen Schnabel in meiner Wunde gestochert. Ein Krampf tief in meinem Bauch überwältigt mich, und der Ekel will hinaus, ich neige mich über den Rand der Hängematte und spucke alles aus.
Belinda war die letzte. Nestor kam und holte sie. Sie wollten mich mitnehmen, Laurinha, mich mitnehmen! Sie wollten mich nicht allein lassen. Doch gibt es eine gröβere Einsamkeit, als jene, die einen überkommt, wenn man seinen Wurzeln entrissen ist? Wir haben es gewusst, Laurinha, wir haben es gewusst, aber sie haben es nicht verstanden. Sie bauen ihr Nest an einem fremden Ort und pflanzen Bäume ohne Wurzeln. Sie pflanzen Kinder der Einsamkeit.
Wo bist du, Urubu? Flieg auch in die Stadt, wo der Abschaum wuchert. Die Verschwendung nährt dich gut. Treue kennst du nicht. Es zieht dich hin, wo sich dein Magen füllt. Wo etwas verwest, da gedeihst du. Aber mich bekommst du nicht. Axa hat wieder Fleisch gebracht. Hier ist ein Knochen für dich, denn ich weiβ, du wirst wiederkommen. Wo bist du? Hol ihn dir, bevor ihn die Ameisen fressen. Mich bekommst du nicht.
Carlos und Belinda kamen zurück, aber sie blieben nicht. Belinda kam, als verschwendete Liebe ihr tiefe Wunden kerbte, und nach langer Zeit hörte das Haus wieder Kinder lachen. Unsere Enkelkinder lernten rudern und Fische fangen, Belinda pflanzte Macaxeira und röstete Farinha. Ein Maracanã war zurückgekehrt. Doch als ihr Schmerz geheilt war, stellte sich die Leere ein, und sie machte sich erneut auf die Suche. Was sie nicht verstehen, Laurinha, ist dass man nichts findet, wenn man auf der Suche ist nach sich selbst. Nestor und Fernando haben nichts gefunden, die Stadt war nicht groβ genug, um ihre Einöde zu füllen. Sie sind weitergezogen, auf einem groβen Boot, entlang dem weiten Fluss bis in die Hauptstadt. In Lärm und Gewirre versuchen sie, die Stille zu vergessen, die sie zurücklieβen. Fernando verfolgt den Tumult mit gehetzten Schritten, und Nestor gieβt verzweifelt Cachaça in das Grab der Wurzeln.
Carlos kam oft vorbei, um nach mir zu sehen. Sowie ich schwächer wurde, bekräftigte er sein Drängen, ich sollte mit ihm kommen
Einen Arzt, ein Krankenhaus, Pflege, das bräuchte ich. Ich sollte zumindest bleiben, bis es mir besser ginge. Besser?
“Mein Sohn, hast du auch nicht die einfachsten Dinge von deinem Vater gelernt? Was geschieht mit einem Fisch, wenn du ihn aus dem Wasser ziehst?”
Ich wusste, du würdest zurückkommen. Weit konntest du nicht sein. Du willst der erste sein beim Leichenschmaus. Nimm noch ein Stückchen Fleisch! Es reicht für uns beide. Ich brauche nicht viel. Komm näher. Es widert mich an, wie du an jedem Bissen würgst. Komm, friss aus meiner Hand! Du traust mir nicht, doch bist du gierig. Komm noch ein bisschen näher!
Schau mich nicht so an, Urubu! Es ist so hässlich, wie du würgst. Fast treuherzig flehst du mit deinem Blick ums Leben, doch niederträchtig krallst du die Klauen in meinen Bauch. Ich kenne kein Mitleid mehr, fühle keinen Schmerz. Dein Hals fühlt sich schmutzig und rauh an. Er windet sich in meinem Griff. Es widert mich an, wie deine starren Augen aus ihren Höhlen ragen. Lass dein abscheuliches Haupt nicht auf mich fallen. Der Fluss soll dich tragen, weit fort. Sein Strömen singt mich in den Schlaf.