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Valse triste
Valse triste
Seltsam, dachte Elsa und hielt sich kerzengerade, es ist seltsam, der Auflösung des eigenen Lebens zuzuschauen.
Stück für Stück trugen die Möbelpacker ihre Sachen aus der Wohnung. Elsa stand, auf ihren Rollator gestützt, in der nackten Diele, an dem kahlen Stück Wand zwischen Wohnzimmer und Kinderstube. Gestern hatte sie hier zum letzten Mal in den Garderobenspiegel geblickt. Sie lauschte dem hohlen Schall der Stimmen in den unmöblierten Räumen. Die Möbelpacker berieten darüber, in welcher Reihenfolge Elsas Möbel hinausgetragen werden sollten.
Sie geben sich wirklich Mühe, dachte Elsa. Es schmerzte sie ein wenig, dass die Männer jeden Blickkontakt mit ihr vermieden. Es muss ihnen doch gar nicht peinlich sein, dass ich zuschaue.
Gerade trugen sie die Kirschholzkommode hinaus, behutsam.
Die würde sie mitnehmen. Die anderen Stücke waren zu wuchtig. Elsa schob sich vorsichtig ein paar Schritte nach vorne und schaute in das ausgeräumte Wohnzimmer. Groß wie ein Tanzsaal, dachte sie voller Stolz. Das hatte ihr Vater schon immer gesagt. Auf dem abgetretenen Parkett erkannte sie die Abdrücke von Büfett und Bücherschrank. Durch das dreiflügelige Fenster fielen die letzten Sonnenstrahlen des Herbsttages und ließen die Schönheit des Raumes noch einmal für Elsa erstrahlen. Sie schaute hinauf zu der stuckverzierten Decke, dem majestätischen Kronleuchter, der unerschütterlich an seinem Platz hing. Er würde hier bleiben und Wache halten. Mühsam näherte sie sich dem Fenster. Wo waren die blauen Samtportieren geblieben? Elsa hoffte, dass in dem neuen Wohnzimmer wenigstens hübsche Vorhänge waren, sonst würde Jean sicher unzufrieden sein. Sie hatte ihm an den letzten Abenden ausführlich erklärt, dass sie sich nun nicht mehr hier treffen würden. Jean hatte es hingenommen, doch Elsa war sich nicht sicher, wie betrunken er gewesen war. Allerdings konnte Jean auch betrunken aufmerksam sein.
Sie seufzte. Hoffentlich hatte er verstanden, dass die Vorhänge, durch die er in Zukunft eintreten würde, wesentlich einfacher ausfielen. Doch sie würde mit dem Sherry auf ihn warten. Wie gewohnt.
Es schien ihr schon so weit entfernt, Jeans Eintreten durch den raschelnden Samt, das Abklopfen des Staubes von den Revers, seine knarrenden, blankpolierten Schuhe auf dem Boden und wie er sich lächelnd in den Sessel setzte, ihr gegenüber. Das Ritual konnte beginnen. Jean suchte die Musik aus, wie immer schweigend, und Elsa wischte die schwarze Scheibe behutsam mit einem weichen Tuch ab, bevor sie die Nadel aufsetzte.
Jetzt hoffte sie, dass der Plattenspieler wieder auf der Kirschholzkommode stehen würde. Jean bestand keineswegs darauf, dass sie immer nur seine Werke hörten, obwohl Elsa eine komplette Sammlung besaß. Sie mochte es, wenn sie gemeinsam Dvoraks Cellokonzert lauschten, oder zu Brahms` Violinen ihren Gedanken nachhingen.
Einmal waren sie beide in Tränen ausgebrochen. Lag es daran, dass die mächtigen Klänge der Finlandia den Raum erfüllten? Elsa erinnerte sich an diesen Moment als den Beginn eines Versprechens. Jeans Hand auf ihrer, kühl und ohne Druck, ihre Tränen, die nicht versiegen wollten, beides waren Unterpfande ihrer Gemeinsamkeit. Elsa fehlte der Zeitbegriff, doch es machte nichts aus. Jean kam jeden Abend aus dem fernen Järvenpää, er kam aus seiner Trutzburg, dem Familiensitz Ainola, um bei ihr zu sein.
Elsa glaubte, dass er die Klänge seiner Musik über das Wasser hinweg gehört haben musste. Dann war er gekommen und sie hatte begriffen, das es keine unüberwindbaren Entfernungen gab.
Ein lautes Räuspern holte Elsa aus ihren Gedanken.
Wir sind fertig, gnädige Frau, sagten die Möbelpacker und lächelten schief. Der jüngere drehte verlegen eine Schirmmütze in den Händen. Elsa zeigte auf die altmodische Ledertasche im Korb des Rollators und forderte den älteren Mann auf sie herauszunehmen und zu öffnen. Nun machen Sie schon, fuhr sie ihn an, als er zögerte, ich habe Gicht in den Händen, das sehen Sie doch. Der Mann warf einen hastigen Blick auf ihre knotigen Gelenke und hob die geöffnete Tasche hoch.
Elsa hielt die Griffe umklammert und streckte ihren Rücken.
Nehmen Sie das Portemonnaie heraus, befahl sie und der verstörte Mann gehorchte. Im vorderen Fach stecken zwei Geldscheine, die sind für Sie und Ihren Kollegen. Es entging ihr nicht, dass der jüngere Mann seine Mütze schneller drehte und von einem Bein auf das andere trat. Meinen Sie die beiden Zwanziger?, fragte der Ältere erstaunt. Elsa wurde ungeduldig. Ja sicher. Nun machen Sie schon.
Die Männer verabschiedeten sich hastig mit einer tiefen Verbeugung, und Elsa hörte sie im Treppenhaus befreit auflachen.
Sie wollte noch einmal in Ruhe allein durch die Wohnung gehen, zum letzten Mal.
Über die unebenen schwarzweißen Bodenfliesen der Küche. Die Räder fuhren durch kleine Senken. In der angrenzenden Speisekammer standen die alten Holzregale, abgesplittert und verbogen. Elsa schloss die Augen und sah ihre Mutter, wie sie vor mehr als siebzig Jahren, zusammen mit dem Dienstmädchen Grete, die schweren Einmachgläser auf die Bretter gewuchtet hatte. Der Geruch von gekochtem Obst, von eingemachtem Kohl und gepökeltem Rindfleisch erfüllte die Küche. Elsa bewunderte die schneeweiße Schürze der Mutter, immer fleckenlos, ganz gleich, wie lange sie an dem riesigen Holztisch gearbeitet hatte. Elsa sah das kleine Mädchen auf dem Stuhl neben dem tiefen Steinbecken sitzen und zuschauen. Na, wartest du auf ein Leckerchen, kleine Naschkatze, hatte die Mutter lachend gefragt, während sie Pistazien für die Nougatpralinen hackte. Der Duft von geschmolzener Schokolade begleitete Elsa ihr Leben lang.
Omi, bist du soweit? Judiths Stimme hallte aus dem Treppenhaus herauf. Elsa hörte ihre raschen Schritte und bekam heftiges Herzklopfen. Die letzten Minuten waren angebrochen, es blieb ihr nicht genug Zeit zum Abschiednehmen. Würde die Zeit je ausreichen? Elsa wünschte sich, ewig durch die Räume zu wandern und den Erinnerungen nachhängen zu können. Sie saßen in jedem Winkel, in jeder Wand, auf jedem Stück Boden, überall.
Vor mehr als hundert Jahren hatte ihr Großvater das Haus gebaut, ein stattliches Hamburger Bürgerhaus mit marmorner Eingangshalle, breiter Treppenflucht und vier Etagen, mit jeweils einer großzügigen Wohnung hinter der buntglasverzierten Doppeltür. Hier hatte sie mit ihren Eltern, den beiden jüngeren Schwestern und dem kleinen Bruder gelebt.
Hierhin war sie zurückgekehrt, nachdem die Gespenster ihre Familie in einem nächtlichen Geisterstreich ausgelöscht hatten.
Judith kam atemlos hereingestürmt. Das dunkle Haar kräuselte sich über der Stirn, die geröteten Wangen verliehen ihr Frische. Sie ähnelt ihrer Mutter so sehr, dachte Elsa.
Als ihre Blicke sich trafen, sah sie die Scham in Judiths Gesicht. Als junge Anwältin war sie immer in Eile, hatte wichtige Termine, durfte keinen verpassen. Ihre Tage waren verplant. Elsa passte heute nicht in diesen Plan, verbrauchte wahrscheinlich einen kostbaren Teil der Zeit, die ihre Enkelin längst für einen Klienten vorgesehen hatte.
Das Abschiednehmen vom eigenen Leben war limitiert.
Weißt du noch, wie du damals mit deinem Dreirad durch die ganze Wohnung gefahren bist?, fragte Elsa und bedachte Judith mit einem Lächeln. Die junge Frau lehnte sich an den Türrahmen und nickte. Sie vermied es, sich in der Wohnung umzusehen. Elsa begriff, dass es nicht nur der Zeitdruck war, der Judith belastete, sondern Angst von der Situation überwältigt zu werden. Es ist für sie genau so schwer, dachte Elsa und fühlte sich getröstet. Es ist ja auch ihr Zuhause gewesen.
Sie wandte sich zur Diele. Lass uns gehen, Kind, sagte sie, wie komme ich bloß die Treppe hinunter? Judith war sichtlich erleichtert. Draußen warten zwei Pfleger vom Alstergarten mit einem Transportstuhl, Omi. Sie tragen dich direkt in den Kleinbus.
Sie dirigierte ihre Großmutter ins Treppenhaus und war froh, dass Elsa sich nicht mehr umsah. Die beiden Männer trugen weiße Hosenanzüge, auf den Kasacks stand ‚Seniorenresidenz Alstergarten’.
Was man mit Worten alles machen kann, dachte Elsa und ließ sich in den Stuhl helfen. Ganz egal, Abtransport bleibt Abtransport.
Es ist wie ein Wartezimmer zum Tod, ging es Elsa durch den Kopf, als sie im Wohnraum des Appartements stand. Schön, Judith, sagte sie, du hast alles schön hergerichtet.
Die Kirschholzkommode stand an der rechten Wand und wirkte ungewöhnlich groß. Zuhause war sie ein zierliches Möbelstück gewesen.
Hier ist dein Plattenspieler, siehst du? Deine Stereoanlage passt auch wieder drauf, alles wie gewohnt. Die Platten und CDs sind jetzt hier im Regal, direkt daneben. Judiths Stimme klang eifrig. Meine Güte, dachte Elsa, sie redet immer noch, als müsse sie mich überzeugen! Kleine Zornesflammen glommen auf, sie halfen Elsa mit der Demütigung umzugehen, die sie angesichts ihrer Abhängigkeit empfand.
Judith redete hastig weiter. Hier ist deine Sitzecke, Omi, auch alles wie gewohnt. Deine Sessel und der Tisch passen doch hervorragend, findest du nicht?
Elsa nahm ihre Worte nicht richtig wahr, denn ihr Blick war auf das Fenster gerichtet, das die Breite des Raumes einnahm und mit einer schmalen Balkontür abschloss. Ihre Samtvorhänge waren zu beiden Seiten aufgehängt! Das Blau strahlte, Judith hatte sie offensichtlich reinigen und kürzen lassen. Elsas Hände schlossen sich so fest um die Rollatorgriffe, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie fühlte ihre Beherrschung schwinden. Judith war ihrem Blick gefolgt. Omi… sagte sie und legte ihr den Arm um die Schulter. Elsa starrte weiter auf die Vorhänge. Kind, dass du daran gedacht hast! Ihre knochigen Schultern bebten und Judith streichelte hilflos ihren Arm.
So hat es Sibelius einfacher, nicht wahr?, sagte sie leise. Elsa nickte. Ja, so ist er es gewohnt, antwortete sie.
Abends saß Elsa erschöpft in ihrem Sessel.
Judith war seit zwei Stunden weg, doch ihre aufgeregte Stimme klang noch in Elsas Kopf nach. Voller Besorgnis hatte Judith ihr mehrmals die roten Klingelknöpfe gezeigt, die über dem Bett, neben der Toilette und am Lichtschalter im Wohnzimmer leuchteten, dann war das Personal gekommen, hatte sich vorgestellt und den Tagesablauf erklärt. Elsa wusste schon nicht mehr, worauf sie achten sollte und hatte die Essenszeiten wieder vergessen. Doch es gab ein Haustelefon an der Wand und wenn sie die Eins wählte, war eine Schwester am anderen Ende. Vor ihr auf dem Tisch lag ein glänzender Schlüssel mit einem roten Plastikanhänger. 'Frau Kornfeld' stand auf dem Kärtchen und draußen auf dem Flur klebte ebenfalls ein Namensschild neben ihrer Tür.
Sieben Damen wohnen auf der Etage, hatte die Stationsschwester erzählt, doch Elsa wollte keine von ihnen sehen. Man hatte ihr Kaffee gebracht und eine Schale mit Butterplätzchen, aber Elsa wartete auf Jean.
Als eine Schwester klopfte und sie zum Abendessen bat, winkte Elsa müde ab. Seit zwei Stunden saß sie nun in ihrem Sessel und wartete. Sie geben sich alle Mühe, dachte sie, damit man nicht merkt, dass es jetzt nur noch ums Warten geht. Mit Kaffee und Keksen wollen sie darüber hinwegtäuschen, dass man auf kleine rote Knöpfe angewiesen ist, sie geben dir einen Schlüssel, doch sie können trotzdem zu jeder Zeit hereinkommen, das Bett hat eine Verkleidung aus Holz, doch darunter sind Räder. Es ist alles vorbereitet für den Tag, an dem sie dich still und unauffällig hinausrollen.
Elsa war fast fünfundachtzig Jahre alt und dachte, dass es ihr trotz allem gut ging. Ihr war noch viel geblieben. Judith und Jean.
Sie musste wohl eingenickt sein, denn als sie aufsah, saß er ihr gegenüber in seinem Sessel. Jean war nicht verwundert. Er sah nicht erstaunt aus, schaute sich nicht um, er schien gar nicht zu bemerken, dass sie in einer völlig anderen Umgebung waren. Seine dunklen Augen unter den buschigen Brauen blickten sie aufmerksam an, er hatte die Beine übereinandergeschlagen und Elsa amüsierte sich über die blankpolierten Schuhe.
Alles war wie immer.
Elsa beugte sich zur Seite. Sie konnte die Tür der Kommode vom Sessel aus öffnen. Judith hatte die Sherrykaraffe und zwei Kristallgläser auf dem silbernen Tablett bereitgestellt.
Heute Abend wollte sie Jean bitten, den Valse triste aufzulegen. Elsa wollte ihm noch so viel erzählen. Die Zeit drängte.
Sie prosteten sich zu und tranken einen kleinen Schluck. Wunderbar! Elsa schloss die Augen und lauschte den Streichern und Holzbläsern, die ihre wehmütigen Klänge in den Raum sandten.
Elsas Gedanken reihten die Erinnerungsperlen auf eine Schnur, deren Ende in Jeans Händen lag. Er würde sie bewahren und vor dem Zerreißen schützen.
Auch Jean hatte ein Kind verloren, er kannte den Schmerz. Machte es einen Unterschied, dass sie ihr einziges Kind hergeben musste, Jean dagegen noch fünf weitere hatte? Machte es einen Unterschied, dass seine Tochter erst zwei Jahre alt war, Leah aber schon sechsundzwanzig? Kann man Liebe und Verlust in Jahren messen?
Die Musik war verstummt. Elsa bat ihn, den kurzen Valse triste noch einmal zu spielen. Diesmal achtete sie auf den heiteren Mittelteil mit seinen hüpfenden Geigen, und sie tauchte ein in das Traumbild der sterbenden jungen Mutter, die nicht wusste, dass der Partner beim letzten Tanz ihres Lebens der Tod war.
Leah starb drei Stunden nach Judiths Geburt.
Sie hörte einfach nicht auf zu bluten, alle Bemühungen der Ärzte waren vergeblich, das Leben floss wie ein stiller Strom aus ihr heraus und Elsa betete in den ersten Tagen darum, auch sterben zu dürfen. Doch es gab keinen Gott, der ihr Gehör schenkte, und so begann sie, ein Kinderzimmer in ihrer Wohnung einzurichten. An den stillen Abenden sah Elsa wie durch einen Schleier ihre Tochter den Valse triste tanzen und begann zu glauben, dass sie glücklich gestorben war, sich in den Spiegeln des Festsaals tausendfach dahingleiten sehend, bis mit dem letzten Ton auch ihre Lebenskraft endete.
Judiths Vater war ein nervöser, unsteter Schauspielkollege von Leah gewesen, der Elsa das Kind bereitwillig überließ und für Jahre aus ihrer beider Leben verschwand.
Elsa sah auf. Jeans Augen glänzten verdächtig. Er prostete ihr lächelnd zu.
Leah war damals eine wunderbare junge Schauspielerin. Sie hatte es ans Deutsche Schauspielhaus geschafft, bevor alles so unsinnig früh endete. Die Liebe zum Theater war das Erbe ihres Großvaters.
Elsas Vater liebte die Kunst, vor allem das Sprechtheater. Er unterstützte den jüdischen Kulturbund und förderte seine Arbeit mit Geld und Engagement. Bis die Gespenster kamen.
Sie hatten ihn schon lange im Visier. Sie zerschlugen den Kulturbund, verboten alles, wofür ihr Vater sich eingesetzt hatte. Elsa wusste schon als Kind, dass Gespenster das Dunkel liebten, sie fühlten sich sicher im modrigen Geruch von Hetze, Verrat und Kadavergehorsam. Die Kunst war das Gegenteil von alldem. Sie liebte das Licht, den Klang und die Fantasie, sie regte den Geist an und bereicherte das Gefühl. Elsas Vater hatte immer geglaubt, dass die Kunst siegen würde.
Benjamin Feininger hatte das Tuchgeschäft seines Vaters zu einem blühenden Konfektionshaus in Rotherbaum ausgebaut. Elsa erinnerte sich, dass sie als Kind mit der Familie die Synagoge am Bornplatz besucht hatte. Doch die jüdischen Rituale waren ihr nicht sehr geläufig. Schon ihrem Großvater waren Kunst und Kultur wichtiger als Religion. Er war ein Freigeist und glühender Verfechter sozialer Reformen. Im Haus ihrer Kindheit ging es bunt zu, lebhaft und leidenschaftlich.
Elsa konnte sich nicht genau erinnern, ab wann ihr Vater stiller wurde, weniger lachte. Sie hörte ihn nachts mit der Mutter flüstern, morgens hatten beide tiefe Schatten unter den Augen. Das Geschäft machte ihm Sorgen. Elsa hatte mitbekommen, dass seine langjährige Sekretärin gekündigt hatte und er keine neue fand. Auch andere Mitarbeiter verließen ihn, sie verschwanden einfach, erschienen morgens nicht zur Arbeit. Es schmerzte Elsa, den Vater so verunsichert zu sehen. Sie spürte, dass sich Angst einschlich in den Alltag ihrer Familie, doch sie verstand den Grund dafür nicht.
Es sind die Gespenster, erklärte der Vater müde, sie vergiften die Herzen der Menschen mit falschen Versprechungen. Man kann ihnen nicht entkommen, denn es gibt zu viele, die ihnen folgen. Sie üben eine seltsame Faszination aus, hatte er gesagt, versprechen Macht und Herrschaft. Im Grunde ist es nichts anderes als ein schlechtes Theaterstück. Dann hatte er das Gesicht in den Händen vergraben und geweint.
Damals begriff Elsa mit kaltem Schrecken, dass ihr Vater sie alle nicht mehr schützen konnte.
Neunzehnhunderteinundvierzig verschwanden ihre Familie und viele Freunde, die das Licht und die Fantasie liebten, für immer in die Dunkelheit.
Elsa war wegen einer langwierigen Bronchitis zu einer Cousine ihrer Mutter nach Kiel gefahren, um sich zu erholen. Als sie nach einer Woche zurückkam, war die Wohnung leer. Eine Nachbarin erschreckte zutiefst, als Elsa plötzlich bei ihr klingelte und nach ihrer Familie fragte. Sie redete hastig und unzusammenhängend von der Zerschlagung des jüdischen Kulturbundes und vom Abtransport vieler Mitglieder und deren Angehörigen. Elsa flüchtete sich zurück nach Kiel. In ihrer Erinnerung sah sie die Mutter mit den kleine Geschwistern winkend am Treppenabsatz stehen, als sie mit dem Pappkoffer die Stufen hinunterging. Elsa war siebzehn Jahre alt, als die Gespenster sie einfach übersahen.
Jean nahm ihre Hand, wie so oft, wenn er merkte, dass sie den Kontakt sonst verlor. Er weinte still. Jean ähnelte ihr, das wusste Elsa. Er beobachtete das Leben schon lange mit wenig Interesse. Er lebte zurückgezogen auf Ainola und gab sich keiner Illusion über die Güte der Menschheit hin. Trank er deshalb soviel? Es war ihr gleich. Jean hatte für die Freiheit seines Landes gestritten, hatte ihm wunderbare Musik geschenkt, Krankheit und Verlust überlebt und sich dann in sein Wartezimmer begeben. Sie waren beide Wartende.
Welch ein Glück, dass sie sich gefunden hatten!
Elsa wollte Jean heute einen besonderen Gedanken anvertrauen, der sich in ihrem Kopf eingenistet hatte seit ihr Mann, Gabriel Kornfeld, nach nur sieben Ehejahren tödlich verunglückte. Gabriel war Konzertviolinist. Sie redeten nicht viel über die Zeit der Gespenster, sie lauschten gemeinsam den Klängen, die alles erträglich machten. Elsa unterrichtete Musik an der Schule in Rotherbaum, sie war mit ihrem Mann zurückgekehrt in das Feiningerhaus, bekam eine Tochter, und an manchen Tagen leuchtete das Leben in freundlichen Farben.
Bis Gabriel verschwand, genau wie ihre Familie. Elsa kam mittags aus der Schule und ärgerte sich über sein Frühstücksgeschirr auf dem Küchentisch, als sie die Nachricht von seinem Tod erhielt. Während der Polizist verlegen sprach, betrachtete sie die Kaffeetasse, sah die Marmeladenreste an seinem Messer und die Brotkrümel auf seinem Teller, und begriff doch, dass er niemals wiederkommen würde.
Es wiederholt sich, hatte sie damals gedacht. Die Gespenster sind gar nicht weg. Sie wurde vorsichtig, sah sich um und lauschte den Worten der Menschen aufmerksamer. Sie lebte ihr Leben, zog Leah groß und freute sich über die künstlerische Begabung ihres Kindes. Für eine Zeit schien ihnen sogar Elsas Vater von Ferne zuzulächeln. Elsa fühlte sich ihm nahe, er gab ihr Kraft für den täglichen Umgang mit den Menschen.
Dann starb Leah und Elsa hatte den Beweis. Sie hatte sich nicht getäuscht. Es wiederholte sich. Die Gespenster hatten sie nur einmal übersehen. Sie begleiteten ihr Leben mit Häme und Grausamkeit, bestraften sie, weil sie damals nicht bei ihrer Familie war. Weil sie feige und voller Angst nach Kiel geflüchtete war, während ihre Familie in der Dunkelheit versank.
Der Valse triste erklang erneut, doch Jean hatte sein Gesicht abgewandt. Er schaute lange auf das vergilbte Familienbild im Silberrahmen. Elsa bekam Angst, wollte ihm noch sagen, dass er damals ihre Rettung war, dass sie Judith niemals hätte großziehen können, wenn er nicht abends bei ihr gewesen wäre, doch Jean stand auf, ohne sie noch einmal anzusehen und ging auf die blaue Samtportiere zu.
Es war nicht unerwartet, Elsa dankte ihm für die Jahre seiner Treue. Jean hatte mit seinem letzten Besuch das Ende der Wartezeit angekündigt.
Die Nachtleuchten tauchten den langen Flur in mildes Gelb.
Im Dienstzimmer wartete die Stationsschwester auf den Nachtdienst. Sie schob die Akte des Neuzugangs zur Seite und schenkte sich einen Kaffee ein.
Frau Kornfeld war nicht zum Abendessen gekommen, deshalb hat sie noch einmal nach ihr gesehen. Die alte Dame saß lächelnd in ihrem Sessel, hörte leise Musik, etwas Schwermütiges, Klassisches. Auf dem Tisch standen eine wunderschöne Kristallkaraffe und zwei passende Gläser. Sicher hat sie sich an früher erinnert, als die Karaffe gefüllt war und Gäste in ihr Haus kamen. Es ist schon irgendwie traurig. Eine nette Frau, dachte die Schwester, sie hat etwas Aristokratisches, dabei ist sie bescheiden und freundlich. Und nicht verwirrt.
Das ist schon fast eine Ausnahme. Sie wird sich sicher gut einleben.
Sie braucht nur ein bisschen Zeit.