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Vaters letzte Fahrt

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10.05.2007
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Vaters letzte Fahrt

Vaters letzte Fahrt

Wir bewohnten ein alleinstehendes Bauernhaus, sechs Kilometer von Frelsdorf entfernt. Für meinen Vater, Heinz Boensch, war es damals im September ein besonderer Tag. Mein kleiner Bruder Fritz und ich hatten hurtig unsere Schulranzen geschnallt. Vater zwängte sich indessen in seine schmucke Busfahreruniform. Schweiß glänzte auf seiner Glatze. Sicherlich war Vater etwas aufgeregt, denn außer der Schüler, die er immer mit dem Bus zur Mittelpunktschule nach Beverstedt fuhr, warteten einige Herren vom Gemeinderat auf seine Ankunft. Vater ging in Ruhestand und hatte gleichzeitig sein 25-jähriges Dienstjubiläum. Man wollte ihm auf seiner letzten Fahrt die Ehre erweisen.

Fritz hatte sich bereits von Mutter verabschiedet und war nach draußen auf den Hof gerannt. Ich folgte ihm bald. „Wetten, dass Vater diesmal nicht pünktlich im Dorf ankommt“, sagte Fritz mit einem schelmischen Lächeln in seinem Lausbubengesicht. „Vater ist stets pünktlich gewesen. Er fährt sicher und hat noch nie einen Unfall gebaut. Warum sollte sich ausgerechnet heute etwas daran ändern?“ „Was gilt die Wette?!“ forderte Fritz mich heraus. „Um so etwas wette ich nicht“, entgegnete ich mürrisch. „Wenn du so sicher bist, dass Vater es schafft ... Warum bist du dann nicht einverstanden?“ „Nun gut“, sagte ich, „wetten wir um zehn Mark.“

„Was macht ihn nur so sicher?“ dachte ich. Ich ging um den großen, grünfarbenen Schulbus herum. Im Auspuffrohr steckte eine Kartoffel. Hatte ich es doch geahnt. Ich nahm den Erdapfel und zeigte ihn Fritz. „Glaubst du, damit kannst du Vater aufhalten? Außerdem ist das nicht gerade die feine Art, Wetten zu gewinnen.“ Fritz schaute wütend drein. „Wir sind ja noch lange nicht da. Es kann noch viel passieren“, bellte er. Und er sollte recht behalten.

Vater setzte sich ans Lenkrad, die steife Schirmmütze auf dem runden Schädel. Man schätzte ihn wegen seiner Zuverlässigkeit. Das erfüllte ihn mit Stolz. Wie immer lächelte er gutmütig und kutschierte los, die Kreisstraße entlang. Wir kamen an einer Baustelle vorbei. Jedes Mal um diese Zeit wurde dort bereits fleißig gearbeitet. An diesem Montag, einem normalen Werktag, seltsamerweise nicht. Auch in dem benachbarten Sägewerk rührte sich nichts. Wir zerbrachen uns aber nicht weiter die Köpfe darüber.

„Jungs“, sagte Vater etwas später, „ihr kennt doch das Grundstück am Waldrand, mit der dichtbewachsenen Hecke darum. Ein Gemüsegarten mit Tümpel verbirgt sich dahinter. Ich habe es vorgestern gekauft.“ Wir baten Vater, er solle kurz mit uns dort vorbeifahren, denn wir wollten einen Blick hineinwerfen. „Gut“, sagte Vater, „wir biegen die schmale Straße rechts rein. Die schließt ja wieder an die Kreisstraße an. Und Zeit haben wir auch noch.“

Nach einer Weile stutzte Vater: „Seht mal, da vorn auf dem Asphalt. Da bewegt sich doch was.“ Ich erkannte zunächst viele dunkle Punkte, die größer wurden, je näher wir kamen. „Aha“, raunte Vater, „Erdkröten sind es, auf der Wanderschaft in ihr Winterquartier.“ „Die wollen bestimmt zu unserem Teich“, räumte ich ein, „es sind unsere Kröten.“

Vater drehte sich um und hielt nach einem Wendeplatz Ausschau. Für den großen Bus gab’s keinen. Und im Rückwärtsgang den weiten Weg zurück - unmöglich. Dann schon lieber die verflixten Viecher von der Fahrbahn sammeln. So stiegen wir aus. Hastig ergriff Vater eine Kröte nach der anderen und setzte sie geschwind auf den grünen Seitenstreifen, während Fritz sie wieder heimlich zurück auf die Straße beförderte. Ich drohte ihm mit der Faust. Sofort stellte er seinen Sabotageakt ein. Endlich waren die Kröten beiseite geschafft. Wir hatten viel Zeit verloren und mussten schleunigst unsere Fahrt fortsetzen, ohne das Grundstück zu besichtigen. Bald darauf legte uns das Schicksal erneut eine Bananenschale vor den Bus. In den Moorwiesen hatte sich nämlich eine Nebelbank gebildet. Vorsichtig schleuste Vater seinen geliebten Omnibus hindurch.

Schließlich kamen wir mit einer halben Stunde Verspätung am Frelsdorfer Brink an. Es waren weder Kinder noch Gemeinderatsmitglieder dort. Fritz flüsterte mir triumphierend zu: „Her mit den Piepen. Ich bin der Sieger!“ Vater saß geknickt am Steuer und vergrub sein Gesicht in den Händen. „Sie sind schon alle fortgegangen, fort sind sie“, jammerte er immerzu. So hatten wir Vater noch nie gesehen.

Ringsum war es still. Aber nach einer Weile ertönten schrille Kinderstimmen. „Na so was!?“, wunderte sich Vater, „da kommen sie ja, selbst der Bürgermeister ist dabei.“ Und der stieg auch als erster ein. „Guten Tag, Heinz Boensch. Selbst am letzten Arbeitstag sind Sie so pünktlich wie am ersten. Meinen Glückwunsch.“

Vater starrte ihn erstaunt an. Er konnte es nicht fassen. Und Fritz meinte vorlaut: „Es ist aber schon 8.15 Uhr, Herr Bürgermeister.“ Der runzelte vorwurfsvoll seine Stirn. „Aber Fritzchen, hast du denn vergessen, deine Uhr um eine Stunde zurückzustellen? Vorletzte Nacht ging die Sommerzeit zu Ende.“ Fritz grämte sich, während ich ihm meine offene Hand hinhielt, in der alsbald zehn Mark lagen.

*

 

Lieber Kong, ich würde meinen, ein Busfahrer ist auch nur ein Mensch, und es ist nicht eine Frage der Logik. Die Knotenpunkte in meinen Alltags-Geschichten orientieren sich meistens an wahren Erlebnissen bzw. an Erfahrungsberichten meiner mich umgebenden Zeitgenossen. So erzählte man „Anekdötchen“ aus den ersten Jahren der Zeitumstellungen, und dass viele Leute „Opfer“ wurden. Besonders amüsierte man sich darüber, wenn es besonders zuverlässige Personen getroffen hatte. Ich vermute, früher passierte es öfter, weil die Termine noch nicht so verinnerlicht waren.

Wenn ein als zuverlässig geltender Kumpel nicht zum vereinbarten Termin erscheint, und dir später sagt, er habe verschlafen, würdest du sicher nicht von Unlogik sprechen. Du könntest darauf sagen, ja, kann ja jedem mal passieren oder, es darf nicht passieren. Ich persönlich wäre für erste Antwort. Und ich denke, auch der Leser reagiert hier so auf den sympathischen Busfahrer.

LG B.

 

Hallo Betula!

Die Geschichte gefiel mir schon besser. Obwohl auch nicht alles ganz glaubwürdig ist, etwa daß der Vater so einfach ein Grundstück kauft, ohne es vorher mit der Familie zu bereden, und es den Söhnen bei der morgendlichen Schulbusfahrt zeigt; zwar hat es sowas, besonders früher, wahrscheinlich tatsächlich ab und zu gegeben, allerdings macht der Vater nicht den entsprechend patriarchalischen Eindruck, den man hinter solchem Verhalten vermutet, auch daß er dann so gegen die Regeln verstößt und einfach einen Umweg fährt, würde nicht zu so einem Charakter passen. So wirkt die Geschichte auf mich, wie ein Tisch mit wackligen Beinen, der zwar steht, aber drauflehnen darf man sich nicht.
Womit Du die Tischbeine jedoch festschrauben könntest, wäre die kleine Änderung, daß er das Grundstück noch nicht gekauft hat, sondern es erst kaufen will und es deshalb seinen Söhnen zeigt. Dann wäre der Charakter meiner Meinung nach stimmig.

Daß es bei Einführung der Zeitumstellung noch manche Probleme gab und nicht jeder es mitbekommen hat, kann ich allerdings bestätigen. Zumindest fiel es mir damals mehr auf als heute, besonders, weil ich Mitschüler hatte, die bei der Umstellung auf Sommerzeit um dreiviertel neun kamen und sich unschuldig wunderten, daß schon unterrichtet wurde.

Liebe Grüße,
Susi :)

 

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