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Veränderungen
Ihr war die alte Frau, die mit gefalteten Händen auf der Parkbank saß, bereits vor einem Monat aufgefallen. Damals hatte Katrin zum ersten Mal mit ihrem Sohn den Spielplatz besucht, nachdem sie auf Grund eines Jobwechsels ihres Mannes in die Stadt gezogen waren. Gegen ihren ausdrücklichen Willen, wie sich Katrin immer wieder selber versicherte, denn sie wollte Simon zwischen Bäumen, Blumenwiesen und im Sommer hellgelben Roggenfeldern aufwachsen und erblühen sehen. Stattdessen fürchtete sie nun, dass ihr Fünfjähriger im Schatten monolithischer Mammutbäume aus Beton schlichtweg verdorren könnte.
Sie wusste, wie schwer Simon der Verlust seiner Spielkameraden getroffen hatte, und vor zwei Monaten hatte er im Schlaf sogar ins Bett genässt. Daraufhin hatte sie ihn trösten und ihm versichern müssen, es bestünde kein Grund für ihn sich zu schämen.
Dann hatte sie eher zufällig diesen Park entdeckt – und mit ihm die alte Frau, die geheimnisvoll und schweigend immer auf derselben Parkbank saß und den Kindern beim Spielen zusah.
Es war ein milder Herbstnachmittag, und sie war mit Simon sofort hierher gekommen, nachdem sie ihn vom Kindergarten abgeholt und ein Essen zubereitet hatte. Die Spielgeräte waren offensichtlich alt und wurden kaum oder gar nicht gepflegt. Ein schwacher Ersatz für die Freiheit, die ihr Sohn noch vor wenigen Monaten genießen hatte dürfen. Sie löste ihren Griff und tätschelte seine Stirn. Simon sah hoch, lächelte und rannte zu der Sandkiste, die er sofort in Beschlag nahm. Die anderen Kinder widmeten sich den beiden Rutschen, der Schaukel und dem Mini-Trampolin.
Erstaunt beobachtete Katrin, wie ein etwa zehnjähriger Junge ein etwas jüngeres Mädchen grob zu Boden stieß, um die Leiter vor ihr erklimmen zu können. Das Mädchen stieß einen erschrockenen Schrei aus, rappelte sich hoch, klopfte den Staub von ihren Händen und ging zur Leiter. Offenbar war sie an eine solche rüde Behandlung gewöhnt.
Katrin flossen kalte Schauder über den Rücken: Die Kinder spielten nicht miteinander, sondern jeder für sich. Gelacht wurde bestenfalls auf Kosten anderer, und von einem liebevollen, spielerischen Umgang miteinander konnte nicht die leiseste Rede sein.
„Ach, Sascha“, dachte sie und atmete tief durch. „Was hast du uns nur angetan? Mir wäre lieber, wir hätten weniger Geld zu Verfügung und würden dafür wieder in einer kleinen Landgemeinde wohnen.“
Um sich von ihren düsteren Gedanken abzulenken blickte sie zu der alten Frau hinüber. Diese saß in unveränderter Position und Körperhaltung auf der Parkbank. Sie mochte Anfang sechzig sein und etwa so groß wie Katrin. Ihre graumelierten Haare waren zu einem strengen Zopf geflochten, der wie ein Strick über ihren Nacken baumelte. Eine in Würde alternde Frau, die keine Anzeichen machte, sich gegen das Unvermeidliche zu wehren.
Sie schien jeden Tag zur gleichen Zeit in den Park zu kommen und ihren Stammplatz einzunehmen, auch wenn Katrin nicht wusste, zu welcher Uhrzeit das war, denn wann immer sie mit Simon erschien, war die Unbekannte bereits anwesend. Und sie saß stumm und nachdenklich auf der Holzbank, wenn sie mit Simon an der Hand nach Hause ging.
Ein verrückter Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Vielleicht schlief die Alte hier? Beobachtete unter Tags die Kinder beim Spielen und legte sich abends auf die Bank, großformatige Zeitungen als Decke benutzend. Allerdings wirkte sie nun wahrhaft nicht wie eine Obdachlose. Ihre Kleider waren sauber, und wenngleich sie keinerlei modischem Trend entsprachen, von tadelloser Schlichtheit.
Katrin leckte mit der Zungenspitze über die Lippen. Während drei Teenager grölend an ihr vorbei schlurften und dabei eine Bierfahne nach sich zogen, entschloss sie sich, ihre Neugierde zu stillen. Sie blickte noch einmal in Simons Richtung und überzeugte sich, dass er noch in der Sandkiste wühlte und vergeblich versuchte, den trockenen Sand zu formen. Dann schritt sie auf die Parkbank zu und blieb etwa einen Meter vor der alten Frau stehen. „Entschuldigen Sie, bitte.“
Sie bemühte sich um einen freundlichen Tonfall und ein gewinnendes Lächeln.
Ihr sitzendes Gegenüber schien ihre Anwesenheit zeitverzögert zu bemerken und zuckte kurz zusammen. Die Frau entspannte sich nach der Schrecksekunde wieder, sah hoch und erwiderte das Lächeln.
„Ja, bitte?“
Und bevor Katrin sie noch irgendetwas fragen konnte, fügte die Frau hinzu: „Sie sind doch die Mutter dieses Jungen, ja? Ein hübscher, lieber Junge. Sie müssen sehr stolz auf ihn sein.“
Katrin setzte sich und erklärte, es sei ihr Sohn und sie sei natürlich stolz auf ihn. „Wahrscheinlich hat mein Mann ja Recht und ich bin zu neugierig, aber ich habe mich gefragt, weshalb Sie jeden Tag hier sind.“
Nachdem sie den Satz ausgesprochen hatte, erschien er ihr anmaßend. Vielleicht sah das die alte Frau ähnlich, denn sie antwortete nicht und wandte den Blick ab. Bevor Katrin jedoch zu einer Entschuldigung ansetzen konnte, erwiderte ihr Gegenüber: „Wie Seltsam. Das hat mich noch nie jemand gefragt.“
Katrin runzelte die Stirn. „Wie lange kommen Sie denn schon hierher?“
Langsam, fast vorsichtig, drehte die Frau den Kopf in ihre Richtung und sah sie unverwandt an. Sie lächelte dabei. „Seit dreißig Jahren.“
Katrin musterte sie ungläubig.
„Dreißig Jahre?“, wiederholte sie, und nachdem die Unbekannte genickt hatte war sie davon überzeugt, dass die Frau nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte.
„Ich weiß, wie verrückt sich das anhören muss“, sagte sie in einem Tonfall, als hätte sie Katrins Gedanken gelesen. „Und vielleicht bin ich ja tatsächlich verrückt. Manchmal wünschte ich, ich wäre es, denn es hätte meinen Schmerz damals erheblich gelindert.“
Es war wohl doch keine so gute Idee, die Frau anzuquatschen, dachte Katrin und überlegte, mit welchen Worten sie sich verabschieden könnte, ohne unhöflich zu klingen. Aber plötzlich war der Redefluss der Frau nicht mehr zu stoppen.
„Ich hatte auch einen Sohn, wissen Sie? Benjamin. Er war vier, und in vielem Ihrem Simon ähnlich. Ein liebenswertes, aber stilles Kind.“
Sie legte eine Pause ein. Katrin wünschte sich, sie hätte auf Sascha gehört und ihre Neugierde in Zaum gehalten. Sie wollte keine herzzerreißende Geschichte einer Mutter hören, die ihr Kind verloren hatte. In ihrer Jugend hatte sie gerne Splatterfilme gesehen, aber damals war sie natürlich noch mit der Unschuld eines jungen Mädchens durch die Welt gestapft, das nur für sich selbst Verantwortung tragen musste. Mit der Schwangerschaft und der Geburt Simons hatte sich alles geändert. Erst vor ein paar Tagen hatte sie den Fernseher abgeschaltet, als in irgendeinem Boulevard-Magazin von einer Reihe grausamer Kindermorde berichtet worden war. Sie hatte zwar keines der Opfer gekannt, aber jedes von ihnen hätte Simon sein können. An diesem Abend hatte sie geheult, bis Sascha sie in den Arm genommen und getröstet hatte.
Nein, sie hatte definitiv kein Interesse daran, den Schmerz einer ihr fremden Person zu teilen. Mitten in ihre Überlegungen platzte die sanfte Stimme der Frau hinein. „Es war an einem Herbsttag wie diesem. Die Sonnenstrahlen brachen sich durch das dünner werdende Laubwerk der Erlen und Birken, die an heißen Sommertagen Schatten boten. Wir wohnten in einer kleinen Wohnung, die Edgar von seinem Arbeitgeber zur Verfügung gestellt bekam. Edgar war mein Mann, wissen Sie?“
Katrin schluckte trocken. „Sie müssen mir das wirklich nicht erzählen. Diese Erinnerungen müssen sehr schmerzhaft für Sie sein und ich –“
„Sie sind sehr freundlich“, entgegnete die alte Frau. „Aber ich bin darüber hinweg, so grausam sich das anhören mag. Ich denke nicht, dass Sie es verstehen werden. Doch dem ist tatsächlich so.“
Eine Böe wehte ihr eine Haarsträhne ins Gesicht. Sie strich sie gedankenverloren zurück. Die Unbekannte schwieg ein paar Sekunden lang, als müsste sie selber darüber nachsinnen, was damals geschehen war. Dann fuhr sie fort: „Wir kamen oft in diesen Park. Er bot mir die Möglichkeit die Beine zu vertreten, während Benjamin spielte. Edgars und meine Eltern hatten Benjamin abgelehnt und den Kontakt zu uns auf ein Minimum reduziert, weil wir nicht verheiratet gewesen waren, als … nun ja, als ich schwanger wurde. Es waren andere Zeiten, damals, in den Sechziger Jahren, mit anderen Moralvorstellungen, wissen Sie?“
Sie sog die Luft hörbar ein und stieß einen leisen Seufzer aus. „Jedenfalls bot der Park die Gelegenheit, die drückende Enge der Dreizimmerwohnung hinter mir zu lassen und trotzdem in Benjamins Nähe zu sein. Er war, wie gesagt, ein sehr liebenswertes Kind, quengelte so gut wie nie und konnte sich sehr gut alleine beschäftigen. Der Park war in jener Zeit größer, und es gab auch mehr Spielgeräte als heute. Aber die meisten davon interessierten meinen Sohn nicht. Er war in die Sandkiste regelrecht vernarrt.“
Wie aufs Stichwort blickte Katrin zu der mit Holzlatten abgegrenzten Kiste hinüber. Simon schaufelte Sand von einer Hand in die andere und beobachtete fasziniert, wie der Sand zu Boden rieselte.
„Sie war viel größer als diese dort, aber sie stand am selben Platz.“
Katrin schauderte unwillkürlich.
„Es ist so lange her, doch ich kann immer noch alles ganz genau sehen, wenn ich die Augen schließe. Ja, ich kann sogar die Luft riechen. Die kühle, feuchte Herbstluft.“
Die alte Frau atmete tief ein und schloss tatsächlich kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete, bemerkte Katrin, wie seltsam leer und glanzlos sie waren. Was immer sich damals ereignet hatte, musste ihre Lebensenergie mit sich gerissen haben.
„Er hatte sein liebstes Spielzeug mitgenommen: Ein rotes Feuerwehrauto aus Holz. Mit einer Schaufel, die ebenfalls aus Holz war, da sich Plastik erst allmählich durchsetzte, türmte er Berge auf und planierte Straßen, auf denen sein Auto fahren konnte. Der Sand war feucht und klebrig, und somit ideal zum Verwirklichen seiner kindlichen Phantasien. Wer weiß schon, welche Abenteuer sich in Kinderköpfen abspielen?“
Ihr Lächeln wirkte aufgesetzt, als müsste sie sich dazu zwingen, um nicht bei der bloßen Erinnerung an etwas Grausames zu verzweifeln.
„Ich ließ mich auf die Parkbank nieder und versuchte beim Schmökern in einer Zeitung etwas Zerstreuung zu finden. Es war ein Dienstagnachmittag und nicht viele Menschen unterwegs. Die meisten waren in ihren Schulen, Fabriken oder Haushalten. Ab und an hasteten Frauen mit Einkaufstüten oder Kinderwägen an mir vorbei, oder Halbstarke in ihren Lederjacken, aus deren Kofferradios Musik quäkte, die mir nicht gefiel. Ich weiß noch, woran ich dachte, als es geschah: Ich grübelte angestrengt über die Frage nach, was ich zu Abend kochen sollte.“
Sie schwieg eine Weile. Katrins Puls schlug schneller. Immer noch fühlte sie den Keil, der zwischen ihre Neugierde und ihre Abscheu vor einem grausamen Erlebnis getrieben war. Eine Stimme in ihr trieb sie an einfach aufzustehen, Simon an der Hand zu packen und nach Hause zu gehen. Aber so gerne sie dieser Stimme auch nachgegeben hätte: Es war schlichtweg unmöglich. Nicht deshalb, weil sie ein solches Verhalten unhöflich fand, sondern, weil ihr die nötige Energie fehlte um aufzustehen. Was immer sie veranlasste der Geschichte zu lauschen: Es hatte Gewichte an ihren Oberkörper befestigt, um sie an ihren Platz zu fesseln.
„Was genau es war, das sich veränderte, kann ich nicht einmal sagen“, fuhr die Frau fort. „Die Welt, die reale Welt, schien sich von uns weg zu bewegen. Oder wir, mein Sohn und ich, rückten von der Welt ab. Ich weiß es nicht. Zunächst bemerkte ich die immer schwächer werdenden Geräusche von der nahen Straße. Das Hupen der Wagen, die Motoren, die Straßenbahn, das Lachen der Menschen wurde leiser und leiser. Als würde man bei einem Radio den Lautstärkenregler langsam, aber kontinuierlich von laut auf leise drehen. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich sofort reagiert hätte, wenn ich aufgesprungen wäre, Benjamin an meine Brust geklammert und gelaufen wäre. Irgendwo hin, gleich, in welche Richtung.“
Gram gebeugt sah sie zu Boden. Selbst ihre Haare schienen matt und erschöpft von dem entsetzlichen Verlust, den die Frau erlitten hatte.
„Aber wie hätte ich denn ahnen sollen, was passierte? Die Veränderungen waren noch zu gering gewesen, um auch nur im Entferntesten –“
Wieder schwieg sie kurz. Mit der Zungenspitze befeuchtete sie ihre dünnen Lippen, und Katrin dachte plötzlich, dass die Unbekannte nicht mehr zu ihr sprach, sondern zu dieser Welt, die ihr irgendein furchtbares Schicksal auferlegt hatte, das sie in all den Jahren nicht abzuschütteln vermocht hatte. Ein Schicksalsstein, der sie in jeder Sekunde ihres Lebens nach unten zog. Seit mehreren Jahrzehnten. Wieder schauderte Katrin.
„Und als hätte ich neben einer Windmaschine gestanden und jemand hätte sie abgeschaltet, bemerkte ich die völlige Windstille. Nichts regte sich mehr. Erst jetzt blickte ich von der Zeitung hoch. Simon ließ sein Spielzeugauto eine Kuppe erklimmen und ahmte dabei das Brummen von Motoren nach. Es war das einzige Geräusch, das ich überhaupt hörte. Ich faltete die Zeitung und legte sie neben mich. Die Stille war schon unheimlich genug, aber was ich dann sah, ängstigte mich über alle Maßen: In einem Umkreis von wenigen Metern konnte ich alles ganz genau erkennen. Doch außerhalb dieses Radius verschwamm die Welt zu einem bizarren Bilderbrei. Ich wusste, wo die Straße war, wo sich der Zeitungskiosk befand, wo die anderen Parkbänke, und so weiter. Aber ich konnte alle diese Dinge einfach nicht mehr erkennen! Es war wie ein Riss im Gefüge der Welt – und mein Sohn und ich befanden sich exakt auf diesem Riss. Ich war zu verblüfft, um ängstlich zu sein. Ich glaube, kurz fürchtete ich sogar, ich hätte eine Psychose oder dies wären Auswirkungen eines Hirntumors. Um mir selber zu beweisen, dass ich nicht verrückt war, stand ich auf und ging ein paar Schritte. Und wenngleich ich meine Position verändert hatte, verharrte der Bilderbrei an exakt jener, die er inne hatte. Ich fixierte einen orangefarbenen Lichtball an, der vielleicht das Licht des riesigen Kaufhauses gegenüber darstellte. Ob ich nach rechts oder links ging, ob ich mit hin hockte oder aufrecht stand: Er veränderte seine Position nicht. Aber vermutlich irre ich: Wir waren es, deren Standorte sich nie veränderten!“
Katrin sah ihr unverwandt in die Augen, die, ausgelöst von der Erinnerung, nun doch ein wenig Glanz ausstrahlten. Ein dunkler Glanz, der nichts Lebendiges an sich hatte.
„Ich stand an der Barriere, die unsere von der äußeren Welt trennte, und streckte langsam die Hand aus. Doch dann zog ich sie erschrocken wieder zurück. Ich war nie besonders wagemutig gewesen, und schon gar nicht konnte ich mich für das Unbekannte begeistern. Eine andere Frau, vielleicht eine wie Sie, die mit Computern, Raketen und Science-Fiction-Filmen aufgewachsen ist, hätte die Hand durch das, was ich als Barriere bezeichne, hindurch gesteckt. Aber ich konnte es nicht. Nennen Sie mich feige, ich konnte es nicht tun. Stattdessen legte ich den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Was ich sah, erschreckte mich noch mehr als die ganzen anderen Phänomene: Der Himmel leuchtete scharlachrot. Weder zuvor, noch danach habe ich jemals wieder ein so intensives Rot gesehen. Über dieses Firmament zogen keine Wolken, und selbst unsere Sonne hatte dort keinen Platz, denn dieser Himmel lebte! Er pulsierte, als atmete er. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen die Grässlichkeit dieser Erscheinung beschreiben könnte. Dieser widerliche, scharlachrote Himmel lebte und atmete, und an einigen Stellen schien er zu bluten. An diesen Stellen beulte sich diese Gewölbe aus, Tropfen, die hunderte Meter lang sein mussten, sickerten durch und hingen an zähen Fäden, ehe sie abfielen und hinab kullerten.“
Die Frau hielt kurz inne und faltete ihre Hände wie zu einem stummen Gebet.
„Jetzt“, dachte Katrin, „jetzt müsste ich sie unterbrechen. Ich müsste ihr sagen, dass sie nicht weiter erzählen, dass sie das Vergangene nicht aufwühlen solle. Irgendwas! Hauptsache, sie hört auf zu reden und entlässt mich aus ihrem Bann.“
Aber sie war unfähig, auch nur einen Laut zu äußern.
„Und dann öffnete sich ein rundes Loch und ein Auge erschien.“
Die Unbekannte stieß ein hohes Kichern aus und schlug verlegen die Hand vor den Mund.
„Kein menschliches Auge, sondern reptilienartig. In diesen Augen lag nichts Menschliches, es war nur kalt und heimtückisch. Eine grüne Pupille, die in eine Höhle eingebettet war, welche mit grauer, wabernder Flüssigkeit gefüllt war. Und darin schwammen Monstren –“
Die Frau schüttelte den Kopf und atmete hörbar durch. „Unbeschreibliche Monstren. Nicht der verrückteste Schriftsteller könnte solche … solche … dämonischen Ungeheuer phantasieren. Wie gelähmt starrte ich hoch und konnte meinen Blick nicht losreißen. Bis dieses abscheuliche Auge zwinkerte. Es zwinkerte mir höhnisch zu. Wie ich überhaupt bei Bewusstsein bleiben konnte, weiß ich nicht. Ich glaube, ich stieß einen Schrei aus. Beschwören kann ich es nicht, denn obwohl ich bei Bewusstsein blieb, hatte ich das Gefühl, sprichwörtlich neben mir zu stehen.
Nur ein einziger Gedanke hämmerte in meinem Schädel: Benjamin! Du musst Benjamin beschützen!
Irgendwie gelang es mir, die Angst-Lähmung zu überwinden und ich lief auf die Sandkiste zu, in der Benjaminf immer noch saß. Er spielte nicht mehr, sondern blickte mich verstört mit seinen großen Kulleraugen an. Selbst mit seinen vier Jahren musste er bemerkt haben, dass sich die Welt, wie er sie gekannt hatte, veränderte. Ich war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt, als eine Hand durch den Sand schoss und Benjamins rechten Fuß packte.“
Wieder befeuchtete sie ihre Lippen. Sie dämpfte ihre Stimme etwas, als fürchtete sie unliebsame Zuhörer.
„Mein Sohn schrie auf, vermutlich nicht vor Schmerzen, sondern vor Schreck. Endlich war ich bei ihm und versuchte sofort, ihn von dem Angreifer loszureißen. Die Hand war riesig, als gehörte sie einem Riesen. Ich hieb auf sie ein, erreichte damit aber nur, dass sich die Finger noch stärker um Benjamins Knöchel klammerten. In meiner Verzweiflung beugte ich mich hinunter und biss in die Hand. Ich biss und riss so fest ich nur konnte, und wenn es sich bei dem Angreifer um einen Menschen gehandelt hätte, wäre mir wohl Erfolg beschieden gewesen. Ein markerschütterndes Heulen erklang, dann schlug etwas mit ungeheurer Wucht gegen meinen Brustkorb, sodass ich nach hinten geschleudert wurde und der Länge nach auf dem Boden lag. Eigentlich hätte der Schmerz mich lähmen müssen, aber die Angst um meinen Sohn ließ mich rasch wieder auf die Beine kommen. Mühsam rappelte ich mich hoch. Ich erkannte, was mich getroffen hatte: Es war eine Art Tentakel, die wie eine Peitsche durch die Luft wirbelte, ehe sie sich um Benjamin wickelte. Ich sah, wie der Sand brodelte, als hätte er sich in glühende Lava verwandelt. Und dann wurde mein Junge nach unten gezogen.“
Sie schwieg eine Weile und schlug die Beine übereinander. Mit einem Mal wirkte sie um Jahre gealtert. Selbst ihre Stimme schien brüchig zu werden, als wäre sie von dem Alterungsprozess gleichsam betroffen.
„Ich begann zu kreischen und umschlang Benjamins Oberkörper, um ihn über dem Sand zu halten. Aber was ich fühlte waren nicht seine Kleider und der warme Körper darunter, sondern die kalten, glitschigen Tentakel. Ich schrie, ich brüllte, ich kreischte stellvertretend für Benjamin, der … er konnte nicht mehr schreien. Blutrinnsale flossen aus Nase, Mund und Ohren. Von allen Seiten her erklang Triumphgeheule, als ich abrutschte und ihn los ließ. Blitzschnell wurde er nach unten gezogen. Falls es überhaupt ein ‚unten’ gab. Etwa eine Sekunde lang blickte ich in das entstandene Loch. Und aus dem Loch heraus wurde ich ebenfalls beobachtet. Hasserfüllte, unmenschliche Augen starrten mich an, bohrten sich mit Widerhaken in meinen Verstand, rissen daran und zogen ihn wie meinen Jungen hinab. Dann füllte der nachrückende Sand das Loch und eisige Stille umgab mich. Ich weiß nicht, wie lange ich regungslos vor der Kiste kniete und vor mich hin wimmerte. Was ich noch weiß, ist, dass ich anfing den Sand zur Seite zur schaufeln. Die Sandschicht war nicht besonderes dick, höchstens einen halben Meter, und bald hatte ich sie mit bloßen Händen abgetragen. Darunter lag nackte Erde. Ich fing an, auch diese aufzuwühlen. Haben Sie schon mal versucht, trockene Erde mit den Händen aufzugraben? Ich tat es. Meine Fingernägel brachen ab und ich schnitt mir die Finger an kleinen, spitzen Steinchen blutig. Es war mir egal. Ich weinte und grub, grub und weinte, bis ein paar Stimmen auf mich einsprachen und sich zwei Arme sanft, aber bestimmt auf meine legten und von der Arbeit abhielten. Ich sah menschliche Gesichter, die mich entsetzt anstarrten. Und dann fiel ich endlich in Ohnmacht.“
Die Frau betrachtete ihre Hände, und Katrin sah, dass sie feine, aber deutlich sichtbare Narben trugen.
„Natürlich hielt man mich für verrückt und wies mich in eine Nervenheilanstalt ein. Ich erhielt neben Medikamenten Elektroschocktherapien, die man damals noch anwendete, und etwa zehn Jahre lang hielt man mich wie ein gefährliches Tier gefangen. Als ich endlich raus kam, hatte ich keinen Ehemann mehr, keine Wohnung, kein Geld, nichts. Ich wollte nur noch sterben.“
In der langen Pause, die entstand, konnte Katrin endlich ihre Beklommenheit abschütteln. „Und seither kommen Sie jeden Tag hierher in der Hoffnung, Sie würden Ihren Sohn wieder sehen?“
Die Unbekannte sah sie müde an. „Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, weshalb ich immer wieder zurück komme. Ich weiß es nicht.“
Katrin fühlte das Bedürfnis, die Frau zu trösten und wollte ihre Hände berühren. Aber die Frau zog sie zurück und schüttelte den Kopf. Fast bedauernd lächelte sie. „Es ist Vergangenheit und ich habe gelernt, es zu akzeptieren.“
Dann fügte sie hinzu: „Genießen Sie das, was Sie haben, und grämen Sie sich nicht über den Verlust, den andere erlitten haben.“
Wie betäubt nickte Katrin und stand auf. „Ich denke, ich gehe jetzt mit meinem Sohn lieber nach Hause.“
Energisch ging sie zum Sandkasten und lächelte Simon an. „Lass uns nach Hause gehen und Papa was Feines kochen, ja?“
Der Junge grinste zurück. „Okay. Darf ich das mitnehmen?“
Katrin starrte den Gegenstand an, den Simon in seiner rechten Hand hielt. „Woher hast du das?“
Simon zuckte mit den Schultern. „War im Sand. Darf ich es haben?“
„Es … es gehört jemand anderem“, sagte Katrin tonlos. Ihr Kopf fühlte sich heiß an. „Leg es zurück.“
Gehorsam legte Simon das Feuerwehrauto, dessen Farbe an den meisten Stellen abgeblättert war, zurück.
Katrin drehte sich zur Parkbank um. Sie stand leer. Hastig suchte sie den Park nach der alten Frau ab. Sie konnte sie nirgends entdecken. Wie hatte sie so schnell weggehen können?
Ich wollte nur noch sterben.
Warum hatte die Frau ihre Hände zurückgezogen?
Schweißperlen bildeten sich auf Katrins Stirn.
„Gehen wir, Mami?“
Stumm nickte Katrin. Dann ging sie, ihren Sohn an der Hand führend, nach Hause, ohne sich noch einmal umzublicken.