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Verbrannte Erde

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02.06.2001
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Verbrannte Erde

Während er die Zielkoordinaten in den Computer eintippte versuchte er, seine Gedanken zu sammeln.

In den letzten Stunden hatte er vieles gesehen, das ihn verwirrt und, mehr noch, entsetzt hatte. Gleich Berlin, erinnerte auch Wien im Jahre 2003 kaum an jene Stadt, die er in seiner Zeit bewundert und geliebt hatte.
Bereits die Architektur hatte er abstoßend empfunden: Nebst hässlichen Betonklötzen die keinem anderen Sinne dienten, als arbeitsscheuen Menschen ein bequemes Domizil auf Kosten der hart schuftenden Bevölkerung zu ermöglichen, ragten abstrakte Formen aus dem Stadtbild heraus, die wie abscheuliche Pusteln im Gesicht einer in Würde gealterten Dame wirkten. Etwa dieses so genannte Hundertwasserhaus: Eine jegliche Ästhetik beleidigende Grausamkeit, die dennoch regen Zuspruch zu finden schien.
Schockierender fand er die Erbarmungslosigkeit dieser in ihrer sozialen Abgestumpftheit homogenen Menschenmassen: Niemand stieß sich an den überall herum lungernden Bettlern, an den abgemergelten Drogensüchtigen, den geistig verwirrten Predigern, den primitiv wirkenden Drogenhändlern, den verschlagenen grinsenden Betrügern aus aller Herren Länder. Das ungeschriebene Gesetz der Solidarität innerhalb einer Gesellschaft konnte hier nur als völlig absent bezeichnet werden. Um sich einen Überblick dieser Zeitepoche zu verschaffen, hatte er diverse Zeitungen gelesen. Aus diesen war hervor gegangen, dass der Kapitalismus amerikanischer Ausprägung – euphemistisch „Neo-Liberalismus“ genannt – das Götzenbild der Menschen geworden war. Jahrtausende alte Werte galten nichts mehr: Jeder war sich selbst der Nächste und jeglicher Appell an ein Miteinander wurde milde belächelt.

Er drückte den Schalter, der ihn in seine Gegenwart zurück bringen würde.

Egal, in welche Hauptstadt er gereist war: Von marginalen kulturellen Unterschieden abgesehen, boten sie allesamt das gleiche Bild. Eine schamlos reiche Elite herrschte über eine Klasse bescheiden Begüterter, welche sich ihrerseits an jenen schadlos hielt, die nichts besaßen. Unerklärlicher Weise stieß sich kaum jemand an diesen Fakten – welches Sprachrohr besaßen die wenigen Anständigen auch? Man hatte sie nicht nur ausgegrenzt: Man hatte ihnen das Recht abgesprochen, ihre Wahrheit kund zu tun. Demokratie nannte sich dieses System der Unterdrückung. Lachhaft!
Jeder dieser Aufrechten mit Rückgrat und Mut zur Wahrheit war ein Märtyrer für die gerechte Sache und würde hoffentlich dereinst von Gott persönlich den ihm gebührenden Platz im Paradies zugewiesen bekommen.
An ihrer Stelle statt spieen, brüllten, lachten, schrieen Fernseher und Radios Lügen aus, die haarsträubender waren als alles, was er jemals zuvor gesehen oder gelesen hatte. Und auch hierbei stieß sich niemand an diesem offensichtlichen Betrug. Der Mensch im Jahre 2003, ob in Wien, Berlin, Moskau oder New York, war blind gegenüber seinen Despoten, die sich vor vielen Jahren verschworen hatten, ihn zu knechten und auszusaugen, bis nur noch eine leere Hülle von seinem einstigen Leben übrig blieb. Jeglicher Kampf gegen diese Konspiration war aussichtslos: Die von den Unterdrückern geschmierte Propaganda-Maschine lief auf Hochtouren und zermalmte alle unliebsamen Elemente.
Kalte Schauder liefen ihm über den Rücken. Nie hätte er sich eine solche Hölle träumen lassen; nie hätte er gedacht, dass es so schlimm war, dass die Menschen dermaßen grausam und lämmerhaft zugleich sein könnten. Sie hatten es nicht besser verdient, als unter den Stiefeln der Sieger zermalmt zu werden. Es war ihr selbst gewähltes Schicksal.

Die Zeitkapsel war in die Gegenwart zurück katapultiert worden. Ein dünner Nebelschleier umgab das Gefährt. Ein Phänomen, dem die Wissenschaftler trotz eingehender Studien und Tests immer noch ratlos gegenüber standen. Er hielt sich zum Schutz die Hand vor den Mund, als er ausstieg und war beinahe zu Tränen gerührt, endlich wieder die Luft seiner Welt atmen zu können. Nie hatte das Wort Heimat süßer geklungen und kein Dichter konnte beschreiben, wie unvergleichlich schön es doch war, zu Hause zu sein.
„Doktor Breitenmüller“, sagte er zu dem devot lächelnden Wissenschaftler, „ich habe mich entschieden. Noch heute Abend werde ich dem Generalstab bekannt geben, dass in unserer geliebten Heimat kein Stein auf dem anderen bleiben darf. Unserem Feind wird sein schändlicher Triumph ob der zu Asche zerfallenen Volksgemeinschaft bitter im Halse stecken bleiben. Und Sie tragen Sorgen dafür, dass diese Zeitmaschine vernichtet wird.“
Breitenmüller schlug die Hacken zusammen. „Jawohl, mein Führer!“

 

Wär hätte das gedacht: Der Wahnsinn des "Führers" nur, weil er den heutigen "Wahnsinn" erlebt hat! Er wollte zukünftigen Generationen dieses grausame Schicksal der Konsumdiktatur ersparen. Wäre des Führers Verhalten doch nur so einfach zu erklären.
Nun, eine gelungene Alternativwelt-Story. Auch wenn sie recht makaber erscheint.

 

Huhu Rainer!

Eine Zeitreisengeschichte, hehe ... bin schon auf Uwes Kommentar gespannt. :D

Eher untypisch für dich gibt's am Ende aber noch eine Pointe, die alles in einem etwas anderen Licht erscheinen lässt. Ich dachte mir schon am Anfang, wer mag dieser Reisende wohl sein? Vor allem, als er sich über die Demokratie echauffierte.
Das Ende ist natürlich originell... wenn halt auch ziemlich simpel. Als bloße Unterhaltung (und wie wir alle wissen ist das alles was du im Sinn hast :D) funktioniert das. Wenn man länger drüber nachdenkt kommt einem die "Erklärung" zu einfach gestrickt und unrealistisch vor - wäre es denkbar, dass Hitler so gedacht haben könnte? Das mag man nicht glauben, ich zumindest nicht. Zu harmlos klingt diese Variante, fast beschönigend.
Nein, länger drüber nachdenken darf ich über diese Geschichte nicht, dann zerstört sich ihre Wirkung.
Ansonsten eine originelle Idee, die unterhaltsam zu lesen war.

Ginny

 

Hi Rainer,

Zeitreise mal anders: Das Ziel ist unsere Gegenwart. Nun, das gilt schätzungsweise für 20% aller Zeitreise-Storys. Du schilderst in unversöhnlichen Worten unsere Gegenwart, und das wars auch schon: Bis zum letzten Absatz sehe ich eine Ist-Beschreibung vor mir, einen kaum verzerrenden Spiegel, keine Handlung, keine Erzählung, nichts, das ich nicht schon aus zahlreichen Aufsätzen oder (lahmen) Satiren kenne, oder aus sozialkritischen Geschichten, deren Autor die graue (im Gegensatz zur rosaroten) Brille trug, als er sie schrieb.

Die Pointe ist ganz nett, aber nicht mehr als ein kleines Aha, was kein Wunder ist, da das Geschehen (bzw. die Beschreibung) davor nicht viele Möglichkeiten lässt. So ganz überzeugend erschließt sich mir auch die Logik der Pointe nicht, aber da mag ich ein Brett vorm Kopf haben.

Fazit: sprachlich routiniert, inhaltlich ist mir das zu dünn.

Uwe
:cool:

 

Hallo Rainer!

Erst mal noch zwei Kleinigkeiten zum Verbessern:

>>Um sich einen Überblick dieser Zeitepoche zu verschaffen,...
Besser: Um sich einen Überblick über diese Zeitepoche zu verschaffen

>>An ihrer Stelle statt spieen, brüllten, lachten,...
Das ist doppelt gemoppelt. Entweder „Statt ihrer“ oder „An ihrer Stelle“ ohne „statt“

Was mir nicht gefallen hat:
Über weite Strecken hatte ich das Gefühl in einer politischen Vorlesung zu sein, und nicht eine Geschichte zu lesen.
Die Pointe gefällt mir auch nicht so richtig. Das Erstaunen des Führers über die Zustände im Jahr 2003 ist konstruiert, da es diese Zustände ja im Ansatz auch schon zur Nazi-Zeit gegeben hat. Und was sollte seine Entscheidung eigentlich bewirken? Die Zukunft zu ändern? Aber er kennt sie doch schon!

Was mir gefallen hat:
Der angenehm zu lesende Schreibstil, bis auf die oben angeführten Kleinigkeiten. Der Versuch dem Thema „Zeitreise“ neue Aspekte abzugewinnen.

Sturek

 

@ alle
Danke für eure Kommentare! Es handelt sich bei der Story tatsächlich um nix anderes als eine "Pointe-Geschichte".
Ich habe anfangs überlegt, eine längere Story daraus zu basteln; dann wäre das Perverse - nämlich, dass "wir" uns zuerst mit der Abscheu des Zeitreisenden durchaus anfreunden können, weil "sozialkritisch" - um so stärker hervor gekehrt worden. Allerdings bin ich davor zurückgeschreckt: Ich verbrenne mir lieber nicht die Finger mit einer so heiklen Thematik. ;)

Wie immer gilt: Hauptsache, der Mist hat ein bisschen unterhalten.

 

hi Rainer,
Ich schließe mich meinen Vorkritikern an:
Du beschreibst vorbehaltslos unsere Gesellschaft, mit all ihren vielen Schwächen; die Zeitreise erscheint darin fast nur als das Mittel zum Zweck (sie ist der Grund, warum man aus der Thematik eine Geschichte machen kann).
Die Idee mit dem Führer als Schlusspointe ist ein kurzer Gag, mehr aber auch nicht; vor allem weil bei genauerer Betrachtung des ganzen, die (üblichen) Fehler bei Zeitreisestories sichtbar werden:
-Er hat die Zukunft gesehen, kennt also auch sein Schicksal, macht er es dann ander, oder warum macht er es genauso?
-Kann er dei Vergangenheit ändern?
-Und warum lässt er die Maschine zerstören, wo er doch viel größeren Nutzen daraus haben könnte.

Abgesehen davon, dass es wirklich leicht makaber anmutet, gerade Hitler die Welt so sehen zu lassen, und seine Eroberungspläne auf deine wenigen angesprochenen Misstände in unserer gesellschaft zu reduzieren.

Aber wie du selbst gesagt hast: Hauptsache es hat unterhalten, und das hat es ja auch, wenn man anschließend nicht mehr darüber nachdenkt (aber ist das wirklich der Sinn einer Geschichte?)

glg Hunter

 

Hi Rainer,

Diese Story hat mir, bis auf die Pointe am Schluss nicht so gut gefallen.
Einmal erzeugt ein Monolog hier nicht so recht Spannung und dann sind seine Angriffe auf die heuteige Welt doch etwas zu allgemein und platt.

Besser käme es rüber, wenn er a) mit der jetzigen esellschaft interagieren würde - ein Karlsplatz Dealer bietet Hittler einen Joint an - das gäbe ungeahnte Möglichkeiten
b) wenn die Kritik hintergründiger wäre - mir kommt es wie eine Aufzählung beliebiger Fakten vor, unter denen ich mir nichts vorstellen kann.
Einmal müsste er mMn etwas deifferenzierter auf das heutige System eingehen - immerhin verhungert niemand mehr auf der Straße und "Bild und Beispielshafter" mehr über Interaktionen.

abscheuliche Pusteln im Gesicht einer in Würde gealterten Dame wirkten
Wenn die Dame in Würde gealtert ist, muss sie keine Pusteln haben. Die in Würde gealterten Damen meines Umkreises haben keine hässlichen Pusteln

Eine jegliche Ästhetik beleidigende Grausamkeit, die dennoch regen Zuspruch zu finden schien.
Wie sieht diese Grausamkeit den aus?
Verstehst du was ich meine? Für mich ergibt sich hier und nachher kein Bild

Grüße
Bernhard

 

Hallo Bernhard,
all deine Kritikpunkte am Text sind richtig. Allerdings nur wenn ich davon ausgehe, dass sich der Zeitreisende Zeit nimmt, die jeweilige Gegenwart genau zu erkunden.
Und das tut er hier nicht. Er springt von Stadt zu Stadt und verschafft sich nur grobe Überblicke. Und letzten Endes - um die Fiktion weiterzuspinnen - hätte ein Mensch wie der GröFaZ unser System ohnedies verdammt. Bedenke: Der größte Unterschied zw. dem damaligen Faschismus und der westlichen Demokratie war, dass im einen System nur das Kollektiv, im anderen das Individuum zählte.

Jedenfalls ist mir eines, auch durch deine Kritik, klar geworden: Ich weiß schon, warum ich Pointen-Geschichten nicht mag. :D
Das liegt mir nicht. Ich muss ausführlich beschreiben, Charaktere herausarbeiten, Plotwendungen einstreuen.

Vielen Dank für deine Kritik!

 

Lieber Rainer!

Ich glaube, ich lese Deine Geschichte etwas anders, als die anderen. Bei mir kam der Protagonist nämlich aus der Zukunft (Hitler hatte keine Zeitreisemaschine :D). Und wenn er aus der Zukunft kam (ich habe jedenfalls keinen Punkt gefunden, der dagegen sprechen würde), dann sieht die Geschichte doch ganz anders aus. Dann wirkt auch die Pointe...

"an den abgemergelten Drogensüchtigen, den geistig verwirrten Predigern, den primitiv wirkenden Drogenhändlern,"
- vielleicht könntest Du eins der beiden "Drogen-" vermeiden, es würde zum Beispiel auch "Süchtigen" allein reichen

Alles Liebe,
Susi :)

 

Hallo Rainer,

da hast du aber echtes Potential verschenkt. Äch sehä daa eine goote Perrzeefllaasch! :D Schick Hitler doch mit einem Augenzwinkern in die Zukunft und alles wird goot.

Grüße

Dante

 

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