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Verbrannte Erde
Während er die Zielkoordinaten in den Computer eintippte versuchte er, seine Gedanken zu sammeln.
In den letzten Stunden hatte er vieles gesehen, das ihn verwirrt und, mehr noch, entsetzt hatte. Gleich Berlin, erinnerte auch Wien im Jahre 2003 kaum an jene Stadt, die er in seiner Zeit bewundert und geliebt hatte.
Bereits die Architektur hatte er abstoßend empfunden: Nebst hässlichen Betonklötzen die keinem anderen Sinne dienten, als arbeitsscheuen Menschen ein bequemes Domizil auf Kosten der hart schuftenden Bevölkerung zu ermöglichen, ragten abstrakte Formen aus dem Stadtbild heraus, die wie abscheuliche Pusteln im Gesicht einer in Würde gealterten Dame wirkten. Etwa dieses so genannte Hundertwasserhaus: Eine jegliche Ästhetik beleidigende Grausamkeit, die dennoch regen Zuspruch zu finden schien.
Schockierender fand er die Erbarmungslosigkeit dieser in ihrer sozialen Abgestumpftheit homogenen Menschenmassen: Niemand stieß sich an den überall herum lungernden Bettlern, an den abgemergelten Drogensüchtigen, den geistig verwirrten Predigern, den primitiv wirkenden Drogenhändlern, den verschlagenen grinsenden Betrügern aus aller Herren Länder. Das ungeschriebene Gesetz der Solidarität innerhalb einer Gesellschaft konnte hier nur als völlig absent bezeichnet werden. Um sich einen Überblick dieser Zeitepoche zu verschaffen, hatte er diverse Zeitungen gelesen. Aus diesen war hervor gegangen, dass der Kapitalismus amerikanischer Ausprägung – euphemistisch „Neo-Liberalismus“ genannt – das Götzenbild der Menschen geworden war. Jahrtausende alte Werte galten nichts mehr: Jeder war sich selbst der Nächste und jeglicher Appell an ein Miteinander wurde milde belächelt.
Er drückte den Schalter, der ihn in seine Gegenwart zurück bringen würde.
Egal, in welche Hauptstadt er gereist war: Von marginalen kulturellen Unterschieden abgesehen, boten sie allesamt das gleiche Bild. Eine schamlos reiche Elite herrschte über eine Klasse bescheiden Begüterter, welche sich ihrerseits an jenen schadlos hielt, die nichts besaßen. Unerklärlicher Weise stieß sich kaum jemand an diesen Fakten – welches Sprachrohr besaßen die wenigen Anständigen auch? Man hatte sie nicht nur ausgegrenzt: Man hatte ihnen das Recht abgesprochen, ihre Wahrheit kund zu tun. Demokratie nannte sich dieses System der Unterdrückung. Lachhaft!
Jeder dieser Aufrechten mit Rückgrat und Mut zur Wahrheit war ein Märtyrer für die gerechte Sache und würde hoffentlich dereinst von Gott persönlich den ihm gebührenden Platz im Paradies zugewiesen bekommen.
An ihrer Stelle statt spieen, brüllten, lachten, schrieen Fernseher und Radios Lügen aus, die haarsträubender waren als alles, was er jemals zuvor gesehen oder gelesen hatte. Und auch hierbei stieß sich niemand an diesem offensichtlichen Betrug. Der Mensch im Jahre 2003, ob in Wien, Berlin, Moskau oder New York, war blind gegenüber seinen Despoten, die sich vor vielen Jahren verschworen hatten, ihn zu knechten und auszusaugen, bis nur noch eine leere Hülle von seinem einstigen Leben übrig blieb. Jeglicher Kampf gegen diese Konspiration war aussichtslos: Die von den Unterdrückern geschmierte Propaganda-Maschine lief auf Hochtouren und zermalmte alle unliebsamen Elemente.
Kalte Schauder liefen ihm über den Rücken. Nie hätte er sich eine solche Hölle träumen lassen; nie hätte er gedacht, dass es so schlimm war, dass die Menschen dermaßen grausam und lämmerhaft zugleich sein könnten. Sie hatten es nicht besser verdient, als unter den Stiefeln der Sieger zermalmt zu werden. Es war ihr selbst gewähltes Schicksal.
Die Zeitkapsel war in die Gegenwart zurück katapultiert worden. Ein dünner Nebelschleier umgab das Gefährt. Ein Phänomen, dem die Wissenschaftler trotz eingehender Studien und Tests immer noch ratlos gegenüber standen. Er hielt sich zum Schutz die Hand vor den Mund, als er ausstieg und war beinahe zu Tränen gerührt, endlich wieder die Luft seiner Welt atmen zu können. Nie hatte das Wort Heimat süßer geklungen und kein Dichter konnte beschreiben, wie unvergleichlich schön es doch war, zu Hause zu sein.
„Doktor Breitenmüller“, sagte er zu dem devot lächelnden Wissenschaftler, „ich habe mich entschieden. Noch heute Abend werde ich dem Generalstab bekannt geben, dass in unserer geliebten Heimat kein Stein auf dem anderen bleiben darf. Unserem Feind wird sein schändlicher Triumph ob der zu Asche zerfallenen Volksgemeinschaft bitter im Halse stecken bleiben. Und Sie tragen Sorgen dafür, dass diese Zeitmaschine vernichtet wird.“
Breitenmüller schlug die Hacken zusammen. „Jawohl, mein Führer!“