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Vergegnung
Die Schmerzen breiten sich in krampfartigen Schüben aus. Sie erreichen ihren Höhepunkt und verlassen meinen Körper, wie Wellen. Sie wollen mich aus deinem Haus herausspülen, ich klammer mich mit meinem Blick an dir fest, um der Strömung stand zu halten.
Gut siehst du aus. Aber das siehst du ja immer. Sicher, du tust eine Menge dafür. Ich will nicht ungerecht sein, nicht verbittert. Dein Hosenanzug glänzt in einem sanften Cremeton, in deinem frisch gewaschenen Haar schimmern kastanienrote Strähnen, deine Augen strahlen. Gut siehst du aus, wirklich. Meine beste Freundin war schon immer schön.
Die Dunstabzugshaube spiegelt die Bäume vor dem Fenster wider, jeder Millimeter der weißen Küchenarbeitsplatte blinkt, cremefarbene Rosen auf dem Tisch vor uns, passend zu deiner Kleidung. Du entfernst ein Haar von deinem Blazer, eines der braunen, auch deine Worte sind wie Wellen, gleichmäßig, ununterbrochen, überschwemmen mich und Smetanas Moldau, die leise aus den Boxen tönt. Was ist geschehen, dass du so weit weg von mir bist? Und wann, wann ist es geschehen? Du hast die Tür, durch die nur ich zu dir gelangte, geschlossen – so vorsichtig, dass ich es nicht gemerkt habe. War ich zu unaufmerksam?
„Carla? Carla, träumst du?“
Du siehst mich an, nicht vorwurfsvoll, vielmehr irritiert. Dein Blick prallt an mir ab und kehrt zu dir zurück. Leuchtende Augen, die nicht wahrnehmen, nichts bewegen. Ja, du hast Recht. Ich habe dir nicht zugehört, deinen Partybericht nicht bis zum Ende mitverfolgt. Ich glaube nicht, dass er sich auch nur durch eine winzige Kleinigkeit von den vergangenen unterschieden hat. Du hältst mich wohl für uninteressiert. Denkst du, dass mein Leben langweilig ist und ich nichts zu erzählen habe? Findest du mich langweilig?
„Bevor ich es vergesse – rate mal, wen ich gestern auf den Planken getroffen habe. John Meier. Erinnerst du dich? Er war mit uns in Englisch und ist kurz vorm Abi abgegangen.“
Ich lächle und nicke leicht. Du machst es uns einfach, sanft hast du uns aus der Sturmflut in ruhigere Gewässer geführt.
„Klar. Er war noch mit bei der Stufenfahrt in London.“
Wogen der Vergangenheit, der gemeinsamen. Alte Schulfreunde, die Theatergruppe, wir zusammen im Gargano campen, in Freiburg studieren, mein erster Kuss und du versteckt hinter dem Baum neben mir. Auch die Zuneigung nähert sich in Wellen. Das Glänzen deiner Augen ist nun aufrecht, auf deine Grübchen bin ich seit dem Kindergarten neidisch, wo ist die Maske, die sie gerade noch verdeckte? Ein Sonnenstrahl wandert über dein Gesicht. Ich möchte diesen Eindruck festhalten, ihn mir einprägen für die kommende Ebbe.
Die Türklingel spült den Augenblick davon. Du verlässt die Küche, öffnest, es ist dein Freund. Sein Name ist mir entfallen, selbst du nennst ihn nur „Schatz“. Du setzt dich wieder zu mir, bist noch verkrampfter, er steht hinter dir und gräbt seine Hände in deine Schultern. Merkst du nicht, dass auch er nicht der Richtige ist? Bekommst du überhaupt mit, wie aufgesetzt dein „Schatz“ klingt, wie gekünstelt dein Getue um ihn? Oder ist es echt und ich klammere mich an ein Abbild von dir? Er weiß nicht, wer du bist, du weißt es selbst nicht mehr, ich weiß es, ich erinnere mich. Er geht ins Bad und wir sind wieder alleine.
Du spielst mit deinem Handy, ich reiße kleine Fetzen von meiner Serviette. Auch auf ihr sind Rosen, cremefarben. Nie hat es früher solche Momente des peinlich berührten Schweigens zwischen uns gegeben. Stille ja, aber einvernehmlich, unser Zusammensein genießend, fließend.
„Und sonst, alles in Ordnung?“ Wieder bist du es, die die Ruhe durchbricht. Du warst schon immer die Mutigere von uns beiden. Dein Blick irrt nervös durch das Wohnzimmer, deine Aufmerksamkeit ist nicht bei mir. Dein Versuch ist halbherzig, oder scheint er mir nur so?
„Ja, alles beim Alten, nichts Neues.“ Was für eine Lüge. Ich hätte solch großartige Dinge zu erzählen. Der Urlaub mit Lars in Budapest, unser Erfolg bei der Wahl vergangenen Sonntag, die Sache mit dem Baby. Hast du mir einmal zu oft nicht zugehört? Hab ich Angst, du würdest meine Erlebnisse für banal halten und mich belächeln?
„Wenn das Wetter sich hält, wollen wir am Wochenende den Garten auf Vordermann bringen“, sage ich schließlich und du schaust befreit. Wie kann man mit einem Menschen, mit dem man sein Leben lang bis in die Tiefe getaucht ist, nur auf einer so belanglosen, seichten Ebene umgehen? Dankbar greifst du das Stichwort auf und erzählst von eurem neuen Gartenzaun. Erlösender small talk, der an der Oberfläche bleibt.
Als du das nächste Mal deinen Redeschwall unterbrichst, gebe ich mir einen Ruck.
„Ich bin schwanger, Friederike.“
Was habe ich erwartet? Du sagst, du freust dich für mich, du nimmst mich in den Arm, aber ich spüre die Distanz und warte auf die nächste Brandung.
„Das finde ich wirklich mutig von dir. Heutzutage gibt´s ja keine Garantie mehr – du weißt schon: Lars, der Job.“
Du hast deine Prioritäten klar definiert. Karriere statt Familie, After-Work-Partys statt Windelnwickeln. Ich wünschte, es würde mich nicht so mitreißen. Wann bist du nur zu der Überzeugung gelangt, dass ich mit dir nicht mithalten kann? Was hat mich zu meiner Auffassung gebracht, dass Politik wichtiger ist als Spaß haben, dein Leben weniger wert ist als meins?
Manchmal fühle ich mich, als spielten wir fangen. Ich jage meiner Kike hinterher, dem Menschen, mit dem ich groß geworden bin, deinen Zöpfen, deinen vom Spielen im Sand dreckigen Fingern, die das Wassereis umfassen und das Baumhaus hinaufklettern. Aber das bist du nicht mehr. Deine Hände sehen aus, als wären sie nie mit Dreck in Berührung gekommen. Erinnerungen, Wellen der Vergangenheit. Auch ich kaufe den Wein nicht mehr bei Aldi, meine Klamotten nicht länger bei Pimki und höre auch kein Take That mehr. Was erwarte ich? Haben sich unsere Wege nur vorübergehend voneinander getrennt, in unterschiedliche Abzweigungen, die wieder auf dieselbe Hauptstraße führen? Ich weiß nicht, ob ich mir das wünsche. Wie gerne würde ich dir all diese Fragen stellen, wie gerne.
Ich bin erschöpft von meinem Kampf gegen den Sog, der mich von dir entfernt.
„Ich muss langsam los, Lars wollte kochen“, sage ich kraftlos und stehe auf. Bilde ich es mir ein oder schaust du erleichtert?
„Schade“, antwortest du, in einer ungewohnten Stimmlage, und räumst das Geschirr ab.
Wir umarmen uns zum Abschied, wie immer seit über zwanzig Jahren. Küsschen links, Küsschen rechts, du bleibst steif wie ein Brett. Ich halte den Atem an, will nur noch raus, du schließt die Tür hinter mir, und ich entspanne mich.
„Geh nicht zu ihr. Sie tut dir nicht gut, Carla“, hat Lars heute früh zu mir gesagt. Er wusste, was auf ihn zukommen würde am Abend, stundenlange Diskussionen, Hinterfragen deines Verhaltens, meines Verhaltens. Er wird sie auch heute mit mir führen, ein letztes Mal, und mir beruhigend über den Kopf streicheln, wenn ich in seinen Armen liege. Natürlich. Du tust mir nicht gut, ich tu dir nicht gut, wir klammern uns an etwas fest, was längst vorbei ist. Nie war es so klar. Keine von uns hat Schuld daran. Oder wir beide, ganz wie du willst. Du wirst immer zu meinem Leben gehören, irgendwie. Dennoch ist es vorbei.
Ich schaue mich um, du stehst am Küchenfenster, du siehst traurig aus. Ich winke dir zu und gehe ein letztes Mal die Einfahrt eures Hauses hinunter. Ich werfe mich in die Welle, die mich von dir wegtreibt, endlich. Ansonsten wären wir vollends untergegangen.