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Vergessen
Am Leben fasziniert mich, dass es immer wieder in der Lage ist, mich zu demütigen.
Ich meine, gibt es etwas Deprimierenderes, als an einem Freitag Nachmittag in einem sterilen, menschenleeren Wartezimmer zu sitzen, und umgeben von lauter Arzthelferschönheiten zu sein? Dir charmant zulächelnd, wissen sie anscheinend ganz genau, warum du da bist, und dass du es dir auch noch freiwillig antust, sie um ihre gute Laune, ihren Arbeitsplatz und ihre strahlend weißen Zähne zu beneiden!
Ich für meinen Teil weiß genau, warum ich keine Arzthelferin geworden bin, als mich das nette Fräulein ins Sprechstundenzimmer bittet: Vor mir sitzt Herr Dr. Otto Schäfer. Reich, glücklich, einflussreich und mir total überlegen! Doch er ist nunmal der Einzige, an den ich mich jetzt noch hoffnungsvoll wenden kann. Ich setze mich. "Nun Frau Jansen, wie kann ich Ihnen weiterhelfen?"
Ihn anstarrend, als hätte ich die Frage nicht verstanden, ermögliche ich uns beiden eine unsäglich peinliche Pause, in der ich mir überlege, wie ich ihm mein Problem überhaupt schildern könnte. Das scheint ihn aber nicht zu stören, denn er schreibt munter irgendetwas auf seinen Zettel, als hätte er mich bereits durchschaut. Während ich versuche, höchst unauffällig zu erkennen, was er denn so über mich notiert, und glaube, etwas wie "charakterschwach" und "unscheinbar" auf seinem rosa Zettelchen lesen zu können, fängt er meinen Blick auf, schaukelt glücklich auf seinem Stuhl und fragt erneut : "Ich meine, was führt Sie denn heute zu mir?"
"Ja also, ich möchte gerne etwas verändern lassen."
"Hm hm hm. Und was genau - wenn ich fragen darf !?", schmunzelt er mich, sich selber scheinbar irre sympathisch findend, an.
"Najaaa, ich weiß nicht so genau. Aber wenn ich in den Spiegel schaue, gefällt mir nicht, was ich sehe, vielleicht irgendwas an meiner Nase?", frage ich ihn unsicher, und komme mir auf einmal furchtbar dämlich vor. Jetzt hält er mich bestimmt für eine vom Leben überforderte, sich selbst hassende Tussie mit zu viel Geld!
Und tatsächlich schmunzelt er sein wissendes Ärzte-Lächeln. Ich mag Ärzte nicht. Und ich glaube, es liegt nicht nur daran, dass sie immer alles zu wissen glauben, und einen mit ihrem spekulierenden pseudo-Krankheiten-Erraten beeindrucken wollen, sondern daran, dass sie immer so verdammt gesund aussehen.
"Nun gut, Sie sind also zu mir gekommen, um sich so verändern zu lassen, damit Sie sich einfach hübscher finden, wissen aber nicht genau was, und wollen, dass ich das für Sie entscheide?", fasst er die Situation gekonnt zusammen.
"Mmh-hm"
Er kommt mit seinem Sessel auf mich zugefahren.
"Wissen Sie, Frau Jansen, man spricht hier von einer Dysmorphophobie, einer psychischen Störung, vermutlich ausgelöst durch gewisse Stoffwechselveränderungen im Gehirn. Der Patient, der unter körperdysmorpher Störung leidet, hat eine allgemeine Wahrnehmungsstörung gegenüber seinem natürlichen Spiegelbild." Er schaut mich mitleidig an. Bereits jetzt habe ich aufgehört ihm folgen zu wollen. "Ich bin der Meinung, dass Sie nichts an sich verändern sollten, solange Sie zumindest keine genaue Vorstellung haben, was Sie eigentlich wollen, und kann Ihnen da in meiner Rolle als plastischer Chirurg leider auch nicht weiterhelfen." Er fährt fort mit Erläuterungen, die ich nicht verstehe, weil ein innerer Abwehrmechanismus mein Zentralgehirn soeben ausgeschaltet hat. "Ich denke, ... " "Ich glaube auch, ... " "Außerdem bin ich der Meinung, ... " "Was ich also damit sagen will, ... " Dieser Mann gehört offenbar zu den Menschen, die einen zu überreden versuchen, indem sie ein und denselben Fakt immer und immer wieder wiederholen. Ich persönlich verfolge da eine ganz eigene Taktik des Ernst-genommen-Werdens: Ich spreche leise.
"Aber Sie können mir als fachmännischer Arzt doch sicherlich sagen, wie man etwas an mir verändern kann, dass mein Gesicht symmetrischer oder so aussieht - gibt's da nicht so ein physikalisches Gesetz für Schönheit? Und außerdem könnte ich mir vorstellen, dass diese Dyso...so..mie ähm diese psychische Sache erst ausgelöst wird, desto länger ich unzufrieden in den Spiegel gucke ... und dann wäre es wahrscheinlich ein Fall für die Krankenkasse, oder nicht?"
"Nun, ich merke worauf Sie hinauswollen, aber blablablabla!"
Während ich die Praxis von Herrn Dr. Otto Schäfer missmutig und unter dem netten säuselnden "Auf Wiedersehen!" der gelangweilten Damen an der Rezeption verlasse, erinnere ich mich daran, wie sehr ich es hasse, mich in Gesprächen intellektuell unterlegen zu fühlen, und komme zu der Meinung, der Arzt sei nur fachmännisch verblendet. Kopfschüttelnd, und was Ärzte angeht nun endgültig abgeklärt, frage ich mich, wie ich überhaupt darauf kommen konnte, mich von jemandem beraten zu lassen, dessen Vorname sich sowohl vorwärts als auch rückwärts lesen lässt, und in beiden Fällen an einen Komiker erinnert.
Auf dem Weg nach Hause kaufe ich mir noch eine Jahresration Schokolade - wenn schon hässlich, dann wenigstes auch fett! In meinem ganz persönlichen Schattenreich angekommen, verfolgt mich der Plan, es mir für den Rest des Abends in einer Sofafalte gemütlich zu machen, doch vorher entmutige ich mich noch mit einem Abstecher zum Spiegel. Nase, Nase, Nase...naja. Die ist eigentlich in Ordnung. Meine Augen sind auch irgendwie hübsch, aber es passt halt alles nicht mehr so richtig ins Gesamtbild, und seit einiger Zeit drängt sich mir genau das in den Vordergrund - aber warum?! Während ich so das Problem betrachte, klingelt mein Telefon. Ohne den Blick vom Spiegel zu wenden, nehme ich ab und sage abwesend: "Ja?" Es ist meine beste Freundin, die übertrieben gute Laune vorgaukelt, um mir damit strategisch das Gefühl geben zu wollen, mir jetzt nichts Spaßigeres vorstellen zu können, als mit ihr was trinken zu gehen. Ich gebe eine belämmertes "Hmmmm, ach nee" von mir, was sie aber nicht entmutigt.
"Na los, seit Wochen sitzt du jetzt schon zu Hause rum, und wir haben schon so lange nichts mehr unternommen!"
"Ja, ich weiß, aber ich muss mich da sehr dringend um ein Problem kümmern." Ich begutachte meine Lippen. Jap, ein sehr großes Problem sogar.
"Also, mich beschleicht so langsam das Gefühl, dass du seit der Sache mit Martin völlig gesellschaftsunfähig geworden bist, Süße." Sie ist nicht nur charmant, sondern auch beispielhaft begabt im Um-die-Ecke-Denken.
"Ach, lass mal. Das hat gar nichts mit Martin zu tun, an den denke ich schon gar nicht mehr! Mir geht's ganz fantastisch!", versichere ich, und mir ist natürlich bewusst, dass ihr Freundinnen-Radar die Lüge sowieso ortet.
"Klasse, weil wenn das sooo ist, dann können wir ja ohne Bedenken weggehen! Und dein Problem wird sich doch sicherlich auch auf nächste Woche verschieben lassen!" Mein Blick wendet sich vom Spiegel ab.
"Naja, weißt du was, ich glaube, ich kann mich tatsächlich auch noch später darum kümmern."
"Oh supi. Alles klar, wir sehen uns dann um acht. Ich freu mich!" Ich senke den Hörer, und muss an Martin denken.
Als ich um halb acht frisch geduscht, geschminkt und eingepackt ins Partyoutfit erneut vorm Spiegel stehe, kommt mir der Gedanke, dass es vielleicht auch gar nicht mein Aussehen ist, an dem ich arbeiten muss, sondern an der aus meiner selbstmitleidigen Zurückgezogenheit resultierende Langeweile... .